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Eine brasilianische Kindheit

Oscar | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Sein Name ist Edson, er ist zehn Jahre alt und hat noch zwei Geschwister, Douglas, neun, und Kellen, sieben. Geboren wurden sie in einer Stadt namens Codo, einer großen und sehr armen Stadt, die bekannt ist als Brasiliens Stadt der Macumba, der schwarzen Magie. Sie liegt im Nordosten Brasiliens, im Staat Maranhao. Sie waren Kinder eines bei der Heirat noch jungen Paares, der Vater 20 Jahre alt, die Mutter 19. Der Vater war wenig in der Schule gewesen und die Mutter auch. Er half bei einem Maurer aus und sie arbeitete als Haushälterin. Als Edson geboren wurde, kümmerte sich vor allem die Großmutter um ihn, die Mutter seines Vaters. Auch sie hatte keinen Beruf und arbeitete als Prostituierte. Sie verkaufte ihren Körper, um das tägliche Brot zu verdienen. Aber sie hatte ein eigenes Zuhause, während ihr Sohn keines hatte. Und da es in Brasilien normal ist, daß der Sohn mit seiner Frau bei den Eltern lebt, solange er kein eigenes Zuhause hat, zog er zu seiner Mutter, die sich ja auch schon um Edson kümmerte. Er nahm seine Frau mit, die mit Kellen schwanger war, und das andere Kind, Douglas. Alle zusammen lebten sie in einem Haus. Dir könnte das unmöglich erscheinen, doch in Brasilien, besonders in kleinen Städten und Dörfern, heiraten viele junge Leute, ohne ein eigenes Zuhause, eine Arbeit oder einen Beruf zu haben. Und ich glaube, dort beginnt das Elend dieses Landes. Sie heiraten und ziehen zu den Eltern, die selbst nichts besitzen, und wohnen alle unter einem Dach, manchmal mehrere Jahre lang. Wenn sie ein wenig verdient haben, bauen sie ein eigenes kleines Häuschen mit den einfachsten Bedingungen, denn meist fehlen die grundlegenden sanitären Einrichtungen. In vielen dieser Fälle tragen die Eltern die Schuld. In ihrer Mentalität ist die Ehe ein grundlegender Faktor im Leben der jungen Leute. Egal unter welchen Bedingungen sie leben, die Ehe steht über allem, auch wenn sie nichts besitzen, kein Dach überm Kopf, weder Ausbildung noch Beruf haben, selbst dann muß geheiratet werden. Im allgemeinen geschieht das, wenn ein junges Paar sexuelle Beziehungen hat und dies von den Eltern entdeckt wird. Wenn die Eltern so etwas erfahren, müssen die jungen Leute heiraten, auch wenn sie rein gar nichts besitzen oder noch nicht alt genug sind zum Heiraten. Vor allem die Mädchen heiraten mitunter schon mit 13 Jahren. Manchmal ändern sie die Geburtsurkunde, um vor dem Gesetz heiraten zu können. Denn die Frauen werden auch von den eigenen Eltern nur anerkannt, wenn sie verheiratet sind. Die Ehe ist der Stolz der Familie, in der unteren Klasse Brasiliens denkt die Mehrheit so.

Ich habe das geschrieben, um die Bedeutung der Ehe in Brasilien ein wenig zu schildern. Dir könnte das unmöglich erscheinen, doch es ist Wirklichkeit, so ist mein Brasilien. Oft wird möglich, was unmöglich scheint.

Im Fall von Emanuel, Edsons Vater, war es nicht ganz so. Doch auch auf ihn trifft zu, daß er mit seiner Frau und den Kindern zu seiner Mutter zog. Die Eltern sind in einer ziemlich schwierigen Situation. Sie können ihre Kindern nicht zurückweisen; sie sind die einzigen, die sie aufnehmen, denn es sind ihre Früchte ihres Leibes. Wer würde sie aufnehmen, wenn sie sich weigerten? So denken die Eltern in einer solchen Situation. Sie sind praktisch gezwungen, ihre Kinder aufzunehmen.

Oft gibt es die unterschiedlichsten Probleme zwischen der Ehefrau und den Eltern, das ist wohl in dieser Art des Zusammenlebens normal. Denn beide Seiten denken unterschiedlich und manchmal verstehen sie sich nicht. So war es auch zwischen Emanuels Mutter Rita und seiner Frau Maria. Denn Maria war sehr schlecht erzogen und behandelte die Kinder nicht gut. Und Rita akzeptierte diese Haltung nicht. Also kam es zu Streitereien zwischen ihnen. Doch irgendwie mußten sie miteinander zurechtkommen, denn Rita konnte sie nicht fortschicken, und Maria konnte nirgendwo sonst hingehen. Also mußten sie unter diesen Schwierigkeiten zusammenleben. Emanuel geriet immer irgendwie zwischen die Fronten, denn er wußte nie, ob er seine Mutter oder seine Frau verteidigen sollte. Da er aber wußte, daß er auf gewisse Weise von seiner Mutter abhängig war, glaubte er, immer für sie Partei ergreifen zu müssen. Schließlich hatte auch er keine feste Arbeit und war von Zeit zu Zeit arbeitslos. Als dies wieder einmal der Fall war, entschloß er sich, in den Süden des Landes zu gehen, um dort eine feste Arbeit und eine bessere Lebensgrundlage zu finden. Viele Menschen aus dem Norden und Nordosten Brasiliens machen es so … sie fahren los auf der Suche nach irgendeiner Arbeit. Weil sie haben keinen Beruf haben, nehmen sie jede Arbeit, die ihnen ein wenig mehr Geld verschafft, gerne an. Also ließ Emanuel seine schwangere Frau und die beiden Kinder bei seiner Mutter zurück.

Edson war damals drei Jahre alt und Douglas zwei. Tage, Wochen und Monate vergingen und Emanuel meldete sich nicht. Seine Frau brachte Kellen zur Welt, ein weiteres Kind, um das sich nun Rita, die Großmutter, kümmern mußte.

Weitere Zeit verging und Maria, die Mutter der Kinder, hatte keine Arbeit. Also wurde sie auch Prostituierte, doch ohne, daß Rita davon erfuhr.

Sie arbeitete in Freudenhäusern und eines Tages wurde sie wieder schwanger. Weil sie sich vor Rita und den anderen schämte, ging sie fort, bevor ihr Bauch dick wurde. Sie verschwand eines Tages, ohne zu sagen, wohin. Rita blieb mit den drei Kindern allein zurück. Eines Tages lernte sie in einem Nachtclub einen Mann kennen und sie verliebten sich ineinander. Er sagte ihr, daß er gerne mit ihr zusammen leben wolle und daß er auch die Kinder aufnehmen würde. So nahm sie sein Angebot an und die beiden zogen zusammen. Er hatte ein großes Landhaus in dem Ort, wo er arbeitete, doch der lag in einem anderen Staat. Rita war einverstanden, mit ihm fortzugehen und nahm die drei Kinder mit.

Dort hatten sie es gut. Sie hatten alles, was sie brauchten; ungefähr ein Jahr lang lebten sie gut. Doch dann erlitt Rita plötzlich einen Herzanfall und starb sofort. Der Mann befand sich nun in einer sehr schwierigen Situation. Da waren die drei Kinder, um die sich niemand kümmern konnte. Also rief er Ritas Familie an, die ziemlich weit weg lebte, in einem anderen Staat, dort, wo er sie kennengelernt hatte, und erzählte ihnen von seiner Lage. Die Familie bestand nur noch aus Ritas Geschwistern, denn ihre Eltern waren bereits gestorben. Auch sie waren arm Aber zwei ihrer Schwestern taten sich zusammen, machten eine kleine Sammlung und brachten eine gewisse Menge Geld zusammen. Mit diesem Geld fuhren sie los, holten die Kinder und brachten sie mit sich zurück.

Als sie zurückkamen, wußten sie nicht so recht, was sie mit den drei Kindern machen sollten, die praktisch heimatlos und verwaist waren. Sie waren zwar schon etwas größer, aber was sollte aus ihnen werden. Wo oder bei wem sollten sie bleiben?

Eine der Tanten arbeitete in der Verwaltung einer Schule und verdiente dort weniger als den in Brasilien vorgeschriebenen Mindestlohn. Sie hatte zwei Kinder, und weil ihr Mann schon gestorben war, lebte sie allein mit ihren Kindern. Da sie keine große Wahl hatte und die Kinder nicht sich selbst überlassen konnte, nahm sie eines auf, Douglas, der nun vier Jahre alt war.

Die andere Tante arbeitete als Haushälterin und hatte vier Kinder. Der Sohn war schon erwachsen und lebte in einer anderen Stadt, wo er studierte und arbeitete. So lebte sie mit den übrigen drei Kindern, die alle Mädchen waren, und ihrem Mann, der Arbeit hatte und immerhin doppelt soviel wie den gesetzlichen Mindestlohn verdiente. Diese Tante wandte sich um Hilfe an einen Priester, der ihr versprach, ihr hin und wieder eine kleine Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie die beiden Kinder, Edson und Kellen, versorgen konnte. So sah sie sich gezwungen, die beiden Kinder aufzunehmen, obwohl sie dazu gar nicht in der Lage war. Edson war damals 5 und Kellen 7.

Im Jahr darauf fand Pedro, der Sohn der Tante und Cousin der Kinder, eine bessere Arbeit in der Stadt, wo er wohnte und studierte. Er konnte nun eine größere Wohnung mieten und holte seine drei Schwestern, Edson und Kellen zu sich. Zu diesem Zeitpunkt bekam eine der Schwestern ein Kind, zu dem sich keiner als Vater bekannte, und zog zu ihrer Mutter.

So wurde Pedro, mit nur 22 Jahren, Oberhaupt der großen Familie. Zwei seiner Schwestern fanden Arbeit und die finanziellen Verhältnisse verbesserten sich. Zwei Jahre lang lebten sie gut, die Kinder gingen zur Schule und wurden von ihren jüngeren Geschwistern mit Zuneigung und Fürsorge bedacht.

Nach zwei Jahren verlor Pedro seine Stelle und erhielt ein Stipendium, um in der Hauptstadt des Staates zu studieren. Da er keine Arbeit hatte, mußte der junge Mann die Familie verlassen und fortgehen.

Zu dieser Zeit brachte seine Schwester ein weiteres Kind zur Welt, wieder ohne Vater. Nun standen Edson und Kellen abermals allein da, denn ihre Cousinen waren nicht in der Lage, die Familie zu ernähren, und mußten zu ihren Eltern zurückgehen. Eine der anderen Cousinen wurde auch schwanger, aber sie ging in eine andere Stadt, wo sie eine Arbeit fand, und sich selbst versorgen konnte.

Edson und Kellen gingen in jene kleine Stadt zurück, um wieder bei ihrer Tante zu leben. Nun teilten sie den Platz mit noch zwei Kindern, den Töchtern ihrer Cousine, und alles wurde noch schwieriger für die Familie, die wenig für ihren Lebensunterhalt verdiente.

Der Priester aus der Nachbarstadt, der ihnen immer eine kleine Unterstützung zukommen ließ, war ein Deutscher. Und über einen Freund verschaffte er den Kindern eine monatliche Hilfe von 30 $. Das ist nicht viel, doch für diese große und geplagte Familie bedeutet es eine große Hilfe.

Edson und Kellen gehen zur Schule, doch Edson hat immer Schwierigkeiten, er kommt im Unterricht nicht mit. Er ist jetzt 10 Jahre alt, doch er bleibt immer wieder sitzen. Er ist so oft umgezogen, und das beeinträchtigt ihn auch in der Schule, manchmal verlor er ein ganzes Schuljahr, wenn sie in eine andere Stadt zogen. Mit 10 Jahren ist er immer noch in der ersten Klasse.

Bei dieser Familie teilt er ein kleines Zimmer von etwa drei mal dreieinhalb Metern mit seiner Schwester und noch einem Kind. Doch trotz all dieser Probleme lächelt er und spielt mit den anderen Kindern, als ob es ihm nie schwer ergangen wäre. Und wenn man ihn fragt, ob er glücklich sei, antwortet er, er glaube schon. Wenn man ihn nach fragt, An seine Eltern erinnert er sich nicht und er weiß auch nicht, wo sie sind. Wird er nach ihnen gefragt, dann sagt er, seine Eltern seien die Menschen, die sich um ihn kümmern, also seine Onkel und Tanten. Bis heute weiß niemand, wo sein Vater Emanuel steckt. Er ist vor etwa sieben Jahren fortgegangen und bisher hat man nichts von ihm gehört. Es ist nicht einmal bekannt, ob er noch lebt oder gestorben ist. In Brasilien ist eben alles möglich. Man weiß, daß er einmal bei einer Nachbarin seiner Mutter angerufen hat, aber er hat sich danach nicht wieder gemeldet.

Auch von seiner Mutter hat man seit ihrem Verschwinden nichts mehr gehört. Man nimmt an, daß die beiden noch irgendwo leben und noch nicht erreicht haben, wovon sie träumten. Es ist wohl so, daß sie es nicht in der Lage sind, die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen, und deshalb nicht zurückkommen. In Brasilien verschwinden viele Menschen und machen sich auf die Suche nach einem besseren Leben. Und solange sie nichts erreichen, kehren sie nicht zurück und melden sich nicht. Es gibt viele, die dann nach 15 wieder auftauchen. Einige sind reich geworden und andere immer noch arm. Wenn Emanuel noch lebt, ist er vielleicht einer dieser Armen. Unterdessen sind Edson, Douglas und Kellen weiterhin in der Obhut ihrer Onkel und Tanten und niemand weiß, was ihre Zukunft bringen wird.

So ist ungefähr die tragische und wahre Geschichte dieser drei Kinder, die ich sehr genau kenne. Vielleicht habe ich mein Ziel erreicht, um dessentwillen ich diese wahre Geschichte erzählt habe. Ich wollte einfach ein bißchen zeigen, wie andere Menschen am anderen Ende der Welt leben, denn wahrscheinlich wissen hier viele Menschen nichts von ihnen.

Und die nächste Geschichte werde ich schon besser schreiben können.

Übers. Aus dem Portugiesischen: Marcel

leicht gekürzt.

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