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Die brasilianische Außenpolitik von Dilma Rousseff: Interview mit Igor Fuser

Michael Fox | | Artikel drucken
Lesedauer: 12 Minuten

Dilma Rousseff auf einer Veranstaltung (Foto: Agencia Senado)

Am 31. Oktober haben die Brasilianer ihre neue Präsidentin, die Kandidatin der Arbeiterpartei (PT), Dilma Rousseff gewählt. In den vergangenen acht Jahren hat Präsident Luiz Inácio „Lula” da Silva die Aufmerksamkeit der Welt wie nie zuvor auf Brasilien gelenkt, da sein Land auf der internationalen Bühne zunehmend präsenter wurde.

Um zu erfahren, wie dies unter der Regierung Dilma Rousseff weitergehen wird, habe ich mich mit Igor Fuser, internationaler Journalist und Dozent an der Universidad Cásper Líbero in São Paulo, getroffen. Fuser hat einen Master in Internationalen Beziehungen und ist Autor des Buches „Petróleo y Energía: La participación militar de los EE.UU. en el Golfo Pérsico”.

Welches sind Punkte der regionalen brasilianischen Außenpolitik, die durch Lula am meisten hervortraten? Wie war die Außenpolitik im Vergleich zu früheren Regierungen Brasiliens?

Die Wahl Lulas und die acht Jahre seiner Amtszeit haben die brasilianische Außenpolitik tief greifend verändert. Es ist ein Bereich, in dem der Kontrast zwischen der Politik der Regierung Lula und [der vorhergehenden Regierung von] Fernando Henrique Cardoso sehr stark ausgeprägt war.

Brasilien agierte traditionell während des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Anerkennung der Vormachtstellung der USA. Seit den Anfängen des Barón de Rio Branco [1], dem Gründungsvater der brasilianischen Diplomatie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erkannte Brasilien den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten an und war Kandidat für die Position der Nummer Zwei nach den Vereinigten Staaten – eine Sub-Hegemonie. Daher war es Partner der USA sowie eine Führungskraft in Südamerika oder Lateinamerika, stets jedoch mit der Unterstützung der USA, was sehr viel Ressentiments und Konflikte mit den Nachbarländern, vor allem Argentinien, welches die Stellung Brasiliens niemals akzeptierte, hervorrief.

Unter Lula nahm Brasilien eine andere Position ein. Brasilien schloss sich anderen Ländern wie Venezuela und Argentinien an und widersetzte sich, auch wenn es dies in seinem diplomatischen Diskurs nicht sagte, der Monroe-Doktrin. Brasilien begann, Südamerika als eine autonome geopolitische Region, unabhängig von den Vereinigten Staaten und nicht der Vormachtstellung der USA untergeordnet, zu begreifen.

Der entscheidende Moment in der brasilianischen Außenpolitik war die Ablehnung der amerikanischen Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas). Ex-Präsident Fernando Henrique hatte sich noch für ALCA ausgesprochen, verfügte jedoch nicht über die Voraussetzungen, um sie umzusetzen. Die Regierung von Lula bezog eine eindeutige Position gegen ALCA und gab Brasilien unter der Flagge der Unasur (Unión de Naciones Sudamericanas) eine andere Ausrichtung, um die Beziehung innerhalb des Mercosur (Mercado Común del Sur) zu stärken und eine Reihe von den USA entgegengesetzten Positionen in vielen Bereichen der Region einzunehmen. Weitere Beispiele sind die Unterstützung für [den venezolanischen Präsidenten Hugo] Chávez gegen die Destabilisierungsversuche sowie die Ablehnung des Staatsstreiches in Honduras, der die stillschweigende Unterstützung der US-Regierung hatte – nicht zwangsweise der gesamten Obama-Regierung aber von sehr einflussreichen Bereichen der Obama-Administration. Die Haltung der brasilianischen Regierung in Bezug auf Honduras war ein weiteres entscheidendes Moment für die autonome Position Brasiliens im regionalen und hemisphärischen Kontext.

Welches sind die Möglichkeiten Dilmas, dies fortzusetzen? Wie wird die Außenpolitik ihrer Regierung sein?

Dilma Rousseff empfängt Jose Mujica, Präsident Uruguays (Foto: Blog do Planalto)

Die Perspektiven weisen auf eine Kontinuität der Politik der Regierung Lula hin. In Brasilien verfügt das Außenministerium, Itamaraty, über viel Autonomie und die Führungsriege wird wohl weiterhin an der Spitze bleiben. Die wichtigste Person in dieser Gruppe ist der Außenminister Celso Amorim, was nicht bedeutet, dass er der zukünftige Außenminister sein wird. Man hört auch den Namen Antonio Patriota, der zur Gruppe um Amorim gehört.

Daher zeichnet sich eine Fortsetzung derselben Außenpolitik ab. Es handelt sich jedoch um eine Außenpolitik, die sich nicht in zwei oder drei Worten zusammenfassen lässt. Es ist keine antiamerikanische Außenpolitik, sondern eine, die die Kooperation mit den Vereinigten Staaten und best mögliche Beziehungen zu den USA sucht, jedoch keine Unterordnung.

Die brasilianische Außenpolitik lässt sich gut verstehen, wenn man sie mit den Vorstellungen des unterlegenen Kandidaten, José Serra, vergleicht. Was war der Vorschlag Serras? Die Reduzierung der Süd-Süd-Kooperation und die Wiederherstellung der politischen Achse der Außenpolitik Brasiliens mit den traditionellen Partnern, vor allem den USA und Westeuropa, zum Nachteil von Initiativen wie Mercosur und Unasur. Daher wird Brasilien mit der Niederlage Serras und der Regierung Dilma seine Verbindungen zum sogenannten Süden ausbauen. Der Schwerpunkt der Multipolarität wird wohl beibehalten und je nach aktuellem internationalen Kontext eventuell intensiviert werden.

Was bedeuten die jüngsten Halbzeitwahlen in den Vereinigten Staaten für die Beziehungen USA-Brasilien?

Die erste Vorhersage von der Regierung Lula nahestehenden Gruppierungen ist, dass der Sieg der Republikaner bei den Kongresswahlen in den USA Brasilien darin bestärkt, in seinen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten unabhängiger zu sein.

Der politische Sektor, der die Regierung von Dilma unterstützt, ist ebenfalls sehr skeptisch, was die Maßnahmen der USA zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise angeht. Es wird erwartet, dass sich die Krise fortsetzt und sich in den USA in den nächsten Jahren sogar noch verschärfen wird. Das sorgt dafür, dass die USA für den brasilianischen Markt oder als Investitionsquelle für Brasilien weniger wichtig sind. Diese Einschätzung bestätigt die Entscheidung Brasiliens, die Krise weit gehend mit eigenen Mitteln zu bekämpfen.

Ein gutes Beispiel ist der Vergleich zwischen Brasilien und Mexiko. Mexiko ist das lateinamerikanische Land, das am engsten an die USA angebunden ist, und als die USA in die Krise gerieten, hatte dies auf Mexiko noch größere Auswirkungen. Mexiko steckt in einer tiefen Krise; die Krise der USA hat Mexiko voll und ganz mitgerissen.

Brasilien andererseits ist gut durch die Krise gekommen. Es hat sich auf seinen Binnenmarkt gestützt, mit seiner eigenen Kapitalbeschaffung, mit seinen Staatsunternehmen, seinen Verbindungen zu den Nachbarn in Südamerika und die Regierung ist davon überzeugt, dass dies der Weg ist, dem man folgen sollte.

Die neue Regierung sieht keinen Grund für eine Richtungsänderung. Gleichzeitig gibt es auch keinen Grund für eine Radikalisierung. In Südamerika ist die Regierung von Lula eine Kraft für Wandel und Ausgeglichenheit gleichermaßen. Es handelt sich um eine sehr vorsichtige, pragmatische Außenpolitik. Es ist eine progressive, reformorientierte, unabhängige Außenpolitik, aber es ist keine Außenpolitik, die das Zentrum der Weltmacht, oder die Vereinigten Staaten herausfordert. Es ist keine linke Außenpolitik oder auf irgendeine Weise eine revolutionäre Außenpolitik. Es ist jedoch eine Außenpolitik, die einen günstigeren Kontext schafft, um mehr Veränderungen in Südamerika zu erreichen.

Können Sie sich vorstellen, Serra hätte gewonnen? Dann hätten wir eine rechte, konservative Außenpolitik im Einklang mit den konservativsten Gruppierungen der USA. Eine Außenpolitik, die sofort eine feindselige Position gegenüber den fortschrittlichsten Experimenten in Südamerika eingenommen hätte. Hätte Serra und nicht Dilma die Wahlen in Brasilien gewonnen, wäre dies eine Katastrophe für Bolivien, Venezuela, Ecuador, Argentinien, Paraguay, Kuba, die mexikanische Linke und die Möglichkeiten für den Fortschritt in Peru gewesen.

Für uns Brasilianer war die internationale Dimension dieser Wahlen in Brasilien nicht so wichtig, aber in Wirklichkeit ist sie einer der wichtigsten Aspekte. Die Wahl in Brasilien hatte große internationale Bedeutung mit weltweiten Auswirkungen. Die Möglichkeit einer multipolaren Welt hängt davon ab, auf ein Mitte-Links-Bündnis zu zählen, die Linksregierung in Brasilien, die die Regierung von Lula war und jetzt von Dilma fortgeführt wird.

Im April dieses Jahres unterzeichneten Brasilien und die Vereinigten Staaten ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit. Was bedeutet dies, was bedeutet es für Dilma und worum genau geht es bei diesem Militärabkommen?

Soweit ich weiß, geht es um den Zugang Brasiliens zu Militärtechnologie und Waffen. Den Umfang kenne ich nicht. Sie können dieses Abkommen im Rahmen der pragmatischen Sichtweise der brasilianischen Außenpolitik begreifen, die eine Außenpolitik ist, die nicht gegen die Kooperation mit den Vereinigten Staaten ist. Die USA werden als Freund und Partner gesehen, genau wie viele andere Freunde und Partner. Lula sagte, „mein Freund Bush”, als George W. Bush nach Brasilien kam. Aber er sagt auch, „mein Freund Chávez.” Er sagte sogar, „mein Freund Ahmadinedschad”. Jeder ist Lulas „Freund” . Dies ist zum Teil der persönliche Stil Lulas, aber es reflektiert auch den Pragmatismus der brasilianischen Position in der Welt.

Sie haben gesagt, dass jeder ein „Freund” Lulas ist. Wird dies auch bei Dilma so sein?

Brasilien: BRIC 2010 - Foto: Agencia Brasil, José CruzZweifellos. Natürlich sind Lula und Dilma sehr verschieden. Trotzdem denkt Dilma auf dieselbe Weise wie Lula und entfernt sich nie von dem, was Lula machen würde. Anders als die konservative Presse schreibt, ist Dilma eine sehr gut vorbereitete Frau. Sie hat ihre eigenen Ideen und ihren eigenen Kopf. Sie ist nicht nur eine Bürokratin, die Lula ausgewählt und an seine Stelle gesetzt hat. Sie hat eine Geschichte. In ihrer Jugend war sie Aktivistin der Linken. Bevor sie zur PT kam, war sie Aktivistin der Demokratischen Arbeiterpartei (PDT) von Leonel Brizola, aber zu keinem Zeitpunkt würde sie sich von der Richtung Lulas entfernen.

Lula wird die große Figur der brasilianischen Politik bleiben, selbst wenn er keine Regierungsposition inne hat. Ich denke nicht, dass er sich regelmäßig zu Wort melden wird, denn Lula ist daran interessiert, dass Dilma ihre Rolle als Präsidentin voll und ganz ausübt. Also wird Lula kein brasilianischer „Putin” sein. Lula wird um die Welt reisen, er wird sein Institut gründen und er wird ab und zu ein Interview geben, aber er wird sich nicht in das brasilianische Alltagsgeschäft einmischen. Lula würde nur eingreifen, falls es tatsächlich eine Krise gibt und falls Dilma von der Opposition angegriffen wird. Daher ist es möglich, dass er gerufen wird, um Dilma zu unterstützen. Andererseits jedoch wird Dilma seinem Beispiel folgen. Dilmas Regierungsmannschaft besteht aus denselben Personen, die bereits in der Regierung Lula Ämter inne hatten.

Was die regionale Integration, Unasur, Mercosur, und die bilaterale Kooperation mit Venezuela und anderen Ländern angeht, glauben Sie, dass all dies fortgeführt wird?

Ja, aber dies ist nicht notwendigerweise eine optimistische Prognose. Die Probleme der regionalen Integration in Südamerika hängen nicht nur von dem politischen Willen der Regierungen ab. Die brasilianische Regierung ist nicht Brasilien. Brasilien ist viel mehr als die Regierung. Brasilien ist die Regierung, die Gesellschaft und was die Außenbeziehungen angeht, so werden die Beziehungen Brasiliens vor allem durch die Unternehmen vertreten.

Mercosul (Mercosur) Treffen im Dezember 2010 (Foto: Agéncia Senado)

Unter den brasilianischen Unternehmern gibt es viel Widerstand gegen den Mercosur und sogar noch mehr gegen Unasur. Und die Politik der regionalen Integration in Brasilien ist an sich widersprüchlich. Es ist eine Politik, die ein Element der Solidarität und Kooperation aufweist, sowie ein anderes hegemonisches Element, das der Ausweitung des brasilianischen Kapitalismus’ auf die Nachbarländer. Daher erbt die Regierung Dilma diesen widersprüchlichen Aspekt der brasilianischen Außenpolitik und nichts weist darauf hin, dass sie entscheidende Maßnahmen ergreifen wird, um diesen Widerspruch zu überwinden.

Es besteht folgendes Problem: Jedes Projekt der regionalen Integration, das den Wirtschaftssektor einschließt, bedeutet automatisch, dass die brasilianische Industrie in den Nachbarländern einfällt und die Möglichkeit einer lokalen Entwicklung erstickt. Daher ist die Frage der Asymmetrie [2] sehr ernst und eine große Hürde, die beseitigt werden muss.

Die brasilianische Außenpolitik hat vor allem in den letzten Amtsjahren von Lula betont, dass unsere Integration weniger wirtschaftlich und strukturell sein sollte, ausgerichtet auf die physische Infrastruktur, Energieprojekte und Industrieprojekte, aber dies ist sehr theoretisch. Die physische Infrastruktur hat Fortschritte gemacht, wenn auch weniger als erhofft. Trotzdem erfolgt die Definition des Integrationsbereichs letztendlich weiterhin über den Handel.

Daher muss das Ziel der regionalen Integration durch die Regierung Dilma gesteuert werden, aber gleichzeitig bestehen Hindernisse. Und zu dem Zweck, diese Hindernisse zu beseitigen, bräuchte man eine neue Kräftekoalition, die nicht existiert. Der Wahlsieg Dilmas wurde im Rahmen einer Kräftekoalition erzielt, die sich nicht wesentlich von der vorherigen unterscheidet. Sie ist ein wenig günstiger. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich nicht nur um den Sieg Dilmas handelt. Die von der PT geführte Regierung hat eine bedeutende Mehrheit im Kongress. Dies gibt der Regierung mehr Handlungsfreiheit. Die Fähigkeit einer wirksamen Opposition der konservativen Kräfte im Kongress ist geringer, als sie es unter der Regierung Lula war. Gleichzeitig ist es kein Kongress des linken Flügels. Er ist mit der Regierung verbunden, die vor allem wegen sehr spezieller Interessen vereint ist, unterstützt die Regierung aber nicht notwendigerweise ideologisch.

Die brasilianische Außenpolitik wird auch von der wirtschaftlichen Situation abhängen. Die Aufrechterhaltung günstiger makroökonomischer Bedingungen in Brasilien wird der Regierung mehr Handlungsfreiheit verschaffen. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu: Wenn sich die Bedingungen der brasilianischen Wirtschaft verschlechtern, wird dies der Opposition zugute kommen und Brasilien in allen Bereichen, einschließlich der Außenpolitik, eine vorsichtigere Position einnehmen lassen.

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[1] José María da Silva Paranhos, Jr., (1845 – 1912). Von 1902 bis 1912 brasilianischer Außenminister. Er wurde dafür bekannt, dass es ihm gelungen ist, die Landesgrenzen zu allen Nachbarländern festzulegen.
[2] In diesem Fall geht es um die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Ländern Südamerikas. Brasilien ist mit Abstand das größte Land der Region mit der stärksten Wirtschaft. Wie Fuser betont, erlebten Länder wie Argentinien und Uruguay während des neoliberalen Jahrzehnts der 1990er Jahre Perioden der Deindustrialisierung und es fällt ihnen schwer, mit den großen brasilianischen Unternehmen zu konkurrieren.

Michael Fox lebt in Brasilien und ist unabhängiger Journalist sowie Reporter und Regisseur von Dokumentationen. Er ist Co-Autor von „Venezuela speaks: Voices from the grassroots.” und Co-Regisseur von „Beyond elections: Redefining Democracy in the Americas”. Seine Arbeiten finden sich unter http://www.blendingthelines.com/

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Der Beitrag erschien bereits in CIP Americas am 07.12.2010. Veröffentlichung des Artikels mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.

Bildquelle: [1] u. [4] Agéncia Senado; [2] u. [3] Agencia Brasil

Übersetzung aus dem Spanischen: Monika Grabow

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