Vize-Präsidentschaftskandidat bringt Wahlgerichtshof in Verlegenheit
Dass ein Untersuchungshäftling zur Wahl für das Amt des Vize-Präsidenten zugelassen wurde, ist in der Wahlgeschichte Boliviens einzigartig. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe politische Konsequenzen. Es lassen sich Ungereimtheiten in den politischen Entscheidungen erkennen und die Vergangenheit scheint die Politiker plötzlich einzuholen. Der Kandidat für das Amt des Vize-Präsidenten Leopoldo Fernández hat seine Wahlkampagne bereits aus dem Gefängnis heraus mit Briefen an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) begonnen.
Lassen Sie mich reden, sagt er, dabei tut er dies bereits. Mehr noch, er ist schon mitten im Wahlkampf, sagen die Kandidaten der Regierungspartei.
Die Plurinationale Wahlbehörde und ihre Schwächen
Die Instanz für die Koordination der Wahlen trägt noch immer den Namen Nationaler Wahlgerichtshof, obwohl diese Funktion nach der neuen bolivianischen Verfassung einer plurinationalen Wahlbehörde, dem Órgano Electoral Plurinacional (OEP), zukommt. Die Gegenwart liegt in der Vergangenheit, so könnte man das momentane Vorgehen dieser bolivianischen Staatsgewalt beschreiben.
Sie ließ einen Untersuchungsgefangenen als offiziellen Kandidaten für kein geringeres Amt als das des Vize-Präsidenten zu. Dieser Schritt wird damit begründet, dass die Juristen im Wortlaut der Gesetze, Richtlinien und Vorschriften nichts fanden, was gegen eine Kandidatur spräche. Politische Moral und internationales Prestige sind Werte, die bei der politischen Elite Boliviens nicht sehr hoch im Kurs stehen und noch viel weniger beim Nationalen Wahlgerichtshof.
Als die Kandidatur zugelassen wurde, war das Thema Redefreiheit und Recht auf Wahlkampf bereits zur Genüge abgehandelt. Es war nur noch eine Frage von Tagen oder wenigen Wochen, bis diese Problematik allen Politikern Bauchschmerzen bereiten würde. Am 18. Oktober 2009, drei Tage nach der formalen Anklage der Staatsanwaltschaft, die Fernández des Terrorismus, des Mordes, der leichten und gefährlichen Körperverletzung, der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Tötung bezichtigt, stolperte der Vorsitzende des Nationalen Wahlgerichtshofs über das Problem. Und zwar in aller Öffentlichkeit, in der Fernsehsendung Usted Elige-Día D der Sender Grupo Líder und Red Uno. Ob dies aus Versehen oder mit Absicht geschah, kann nur der Akteur selbst erklären. Fernández ist zwar noch nicht verurteilt, aber er ist formell angeklagt. Dies spielte dabei keine Rolle.
In der Tageszeitung La Prensa gab dieser „Fehltritt“ Anlass zur Schlagzeile: Die Wahlbehörde bittet die Exekutive, Fernández seinen Wahlkampf machen zu lassen. Die Reaktion der Regierung fiel erwartungsgemäß aus: Das Gericht wurde der Parteinahme bezichtigt. Die Medien-Strategen des Oppositionslagers von Reyes Villa und Leopoldo Fernández reagierten schnell. Die Anschuldigung erschien in allen Medien und ist auch heute noch ein Lieblingsthema der Presse. Zehn Tage nach diesem Medienereignis erscheint in La Prensa die Schlagzeile: „Leopoldo initiiert internationale Offensive, damit die Regierung ihn zu Wort kommen lässt“, als ob das Reden das Problem sei.
Loaysa oder der Mallku (Felipe Quispe – Anm. d. Red.) müssten wahrscheinlich auch erst verhaftet werden, bevor sie es in die Schlagzeilen schaffen.
Das Wahlgericht leistet sich sogar noch mehr, diesmal vorsätzlich. Am 21. Oktober 2009, sofort nach Erhalt des Antrags von Plan Progreso para Bolivia (PPB), gab es die Entscheidung zugunsten des Antrags bekannt. Die Krönung ist laut der Tageszeitung La Razón, ein Fehler, der aus dem Antrag übernommen wurde. Darin wird ein Artikel des Übergangswahlgesetzes zitiert, der auf den Antrag gar nicht zutrifft. Unglaublich peinlich. Als die Registrierung der Wähler beendet war, glaubten alle an ein historisches Ereignis [1]. Dieser wilden Legislaturperiode müsste man noch ganz andere Attribute zuordnen, um sie ausreichend zu charakterisieren.
Redefreiheit oder Wahlkampf?
La Prensa verleiht dem Vize-Präsidentschaftskandidaten Fernández den Titel „Stratege der Opposition”, denn er gibt auch aus der Haft im Gefängnis von San Pedro heraus Interviews, das aktuellste per Telefon für die chilenische Tageszeitung La Tercera [2]. Nach seiner Ernennung zum Kandidaten für das Amt des Vize-Präsidenten gab er ein Interview für La Prensa [3]. Für La Razón [4] füllte er sogar einen Fragebogen aus. Vor seiner Ernennung veröffentlichte er in der Zeitschrift Poder y Placer einen Artikel, in dem er eine Vertreterin der Oberschicht als Oppositionskandidatin vorschlug.
Fernández genießt die Redefreiheit offensichtlich sehr und in seiner Ausübung dieser Freiheit erlegt er sich auch keine Zwänge auf. Im Gegenteil, er scheint sogar mehr Rechte zu haben als die anderen Kandidaten. Die bolivianische Presse, eines der wichtigsten Instrumente zur öffentlichen Ausübung dieser Freiheit, räumt beispielsweise Román Loaysa oder Alejo Veliz weit weniger Möglichkeiten ein. Loaysa muss sich erst etwas Kreatives einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit der Presse zu gewinnen. So zum Beispiel sein Geburtstagsgeschenk für Evo Morales: ein Haushaltsbuch. Das Recht auf Schlagzeilen steht den „Strategen“ zu, beziehungsweise denen, die über die nötigen Mittel verfügen. Eine Haftstrafe wird da zum Wettbewerbsvorteil.
Das Problem liegt darin, dass ein zugelassener Kandidat das Recht auf einen Wahlkampf hat. In Bolivien scheint es keinen klaren Unterschied zwischen der Redefreiheit und der Wahlwerbung eines Untersuchungshäftlings zu geben. Wahlwerbung gibt es nur zur Wahl, die Redefreiheit ist nicht begrenzt. Nur widerspricht es jeder Logik, aus dem Gefängnis heraus sein Sendungsbewusstsein auszuleben. Anstatt bei der Gefängnisleitung einen offiziellen Antrag zu stellen, zieht es Fernández vor, dem Chef der bolivianischen Delegation in der OAS, Raúl Lago, Briefe zu schreiben. Er scheint zu wissen, dass er die Wahl nicht gewinnen kann und möchte nun mit seiner Polit-Show gegensteuern. Es bleibt zu hoffen, dass er darüber hinaus keine weiteren dunklen Pläne hegt.
Die Vergangenheit ist noch nicht abgeschlossen
„Freie Hand“ hatte Morales dem gegenwärtigen Vize-Präsidentschaftskandidaten Leopoldo Fernández im Januar 2006 angeboten, so die bolivianische Presse [5]. Damals hatte Fernández die Regionalwahlen gewonnen und wurde Präfekt des departamento Pando. Morales erreichte die Mehrheit im Senat nicht, da die Opposition zwei Senatoren aus Pando stellte. Aus einem Brief, den Fernández dem Präsidenten vor kurzem aus dem Gefängnis schickte, geht hervor, dass Morales die Unterstützung der beiden Senatoren aus der Oppositionspartei erbeten hatte, um sich die Kontrolle über den Senat zu sichern. Im Gegenzug wolle er Fernández in Pando freie Hand lassen [6]. Bisher hat Morales diese Information nicht dementiert.
Tatsächlich sind derartige Erklärungen von Fernández nichts Neues. Man denke nur an seinen Auftritt in der Fernsehrunde vom 7. Januar 2008 gemeinsam mit dem Präsidenten und den Präfekten. Die Neuigkeit ist der andere Teil seines Briefes. Dort behauptet er, während seiner Amtszeit als Minister in der Regierung unter Jorge Quiroga 2002 den Haftbefehl gegen Evo Morales abgelehnt zu haben. Der Blick zurück: Im Zuge der Auseinandersetzungen vom Januar 2002 in Sacaba ließen Koka-Bauern und Militärs ihr Leben. Zu dieser Zeit eskalierte der Koka-Krieg, wofür Morales als parlamentarischer Vertreter der Koka-Bauern verantwortlich gemacht wurde. Er wurde aus dem Parlament ausgeschlossen, hatte seine parlamentarische Immunität verloren und hätte jeder Zeit festgenommen werden können.
Nun ist also aus dem Brief des damaligen Regierungsministers Fernández bekannt, dass es tatsächlich einen Haftbefehl gegen Morales gegeben hat. Was der Politiker allerdings verschweigt, ist, dass es auch Gegenbeschuldigungen gab, denen zufolge die Botschaft der Vereinigten Staaten hinter Morales’ Ausschluss gesteckt haben soll. In dem Brief fehlt auch die Aussage des Sprechers der MAS, Jorge Silva, der bei La Razón angibt, dass Fernández während seiner Amtszeit als Minister sogar Anweisungen zur Eliminierung von Morales hatte [7]. Silva zufolge kam dies in einer persönlichen Unterredung zwischen ihm und Fernández im Gefängnis zur Sprache. Fernández, der laut seinem Interview [8] alle Zeitungen liest und die Nachrichten im Fernsehen verfolgt, dementierte diese Aussage nicht.
Morales ließ nun die Gelegenheit zum Gegenangriff nicht ungenutzt. Die Zeitung Cambio [9] behauptet, der Präsident habe erklärt, dass der damalige Regierungsminister im Jahre 2002 tatsächlich vorhatte, ihn von ausländischen Auftragskillern beseitigen zu lassen. Der Zeitung zufolge wurde das Attentat erst im letzten Moment durch Casimiro Huanca vereitelt, der den heutigen bolivianischen Präsidenten mit seinem Körper schützte und an seiner Stelle starb.
Im Rahmen seiner Kandidatur für die Wiederwahl ins Präsidentenamt gab Morales bekannt, dass ihn einige damalige Polizisten über das geplante Attentat informiert haben. Der Journalist Martin Sivak zitiert in einem seiner Artikel aus dem engeren Kreis um Evo Morales, dass Ex-Präsident Tuto Quiroga der US-Botschaft ziemlich hörig gewesen sein müsse, wenn er Morales tatsächlich umbringen lassen wollte. Der ehemalige Minister scheint also noch einige Leichen im Keller zu haben.
Das politische Leben und besonders die Wahlen in Bolivien werden täglich spannender. Flavio Dalostto sagte zu Recht „Bolivien ist wie ein Roman”. Meiner Meinung nach ein unberechenbarer Roman ohne Konzept, den es lohnt, zu Ende zu lesen.
28. Oktober 2009
Übersetzung aus dem Spanischen: Ariane Stark
Bildquellen:
Leopoldo Fernández: rahul (public domain).
Evo Morales: Fernando Lugo APC.
Quellen:
[1] _http://www.amigo-latino.de/indigena/noticias/newsletter_4/242_elector_agosto_.html
[2] _http://www.erbol.com.bo/noticia.php?identificador=2147483920292
[3] _http://www.laprensa.com.bo/noticias/05-09-09/noticias.php?nota=05_09_09_poli1.php
[4] _http://www.la-razon.com/versiones/20090905_006841/nota_283_873764.htm
[5] _http://www.la-razon.com/versiones/20091024_006890/nota_247_899682.htm
[6] _http://www.la-razon.com/versiones/20091024_006890/nota_247_899682.htm
[7] _http://www.la-razon.com/versiones/20091024_006890/nota_247_899682.htm
[8] _http://www.laprensa.com.bo/noticias/05-09-09/noticias.php?nota=05_09_09_poli1.php
[9] _http://www.cambio.bo/noticia.php?fecha=2009-10-25&idn=9724
(Alle Links konnten am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.)
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