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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Aymará, Quechua und Guaraní Zur ethnischen Vielfalt Boliviens

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 18 Minuten

Als der Xhosa Nelson Rolihlahla Mandela im Jahre 1994 Präsident Südafrikas wurde, feierte die Welt ein wahrhaft historisches Ereignis: Erstmals in der Geschichte übernahm ein Schwarzer, ein Vertreter der Bevölkerungsmehrheit, die Präsidentschaft des Landes.

Als der Aymará Evo Morales Ayma im Januar 2006 in Bolivien das Präsidentenamt übernahm, war das wohl vor allem ein Anlass zu internationaler Beunruhigung. Besonders die USA hatten die Bolivianer bereits im Vorfeld der Wahlen gewarnt, ja nicht den Falschen zu wählen: Im Falle einer Wahl des „Sozialisten“ Morales würde die US-Hilfe für das Land eingestellt. Nur eine Randnotiz war dagegen die Tatsache wert, dass mit Morales erstmals ein „Indio“, ein Vertreter der Bevölkerungsmehrheit, Präsident Boliviens geworden war. Es stellt sich die Frage, ob dieses Ereignis tatsächlich so historisch ist, wie es im Vergleich zu Südafrika scheint. Wer ist diese Bevölkerungsmehrheit Boliviens? Und welche Stellung hat sie im Land?

In Bolivien leben heute deutlich mehr als 30 verschiedene Ethnien. Die karaí-castellano, also die Weißen und Mestizen, sowie die Afrobolivianer abgerechnet, verbleiben 35 indigene Völker, die von den Aymará und Quechua mit jeweils mehr als zwei Millionen Angehörigen bis zu den Guarasugwe, Pacahuara oder Tapiete reichen, die weniger als 100 Vertreter zählen und damit akut vom Aussterben bedroht sind. Wie hoch der Anteil der Indigenen an der Gesamtbevölkerung tatsächlich ist, kann niemand genau sagen: Die Aussagen liegen zwischen 40 und 70%, das hängt davon ab, wer wann wen gezählt hat. Nach den verschiedenen Bevölkerungszählungen und -schätzungen leben heute in Bolivien zwischen 4 und 6,5 Millionen Menschen indigener Abstammung.

An dieser Stelle sei ein kleiner Einschub erlaubt. Der Begriff indigen ist durchaus ambivalent, und es kann im Rahmen diese Beitrags nicht geklärt werden, was er eigentlich bedeutet. Indigene oder eingeborene Völker ist eine Bezeichnung, die in Amerika bewusst als Gegenbegriff zu Indianer oder Indio eingesetzt wird. Aber auch dieser Begriff ist höchst unscharf, und er grenzt aus. Sind die Afrobolivianer Indigene? Entlaufene Sklaven haben sich mit einigen Urwaldstämmen vermischt, sind in ihnen aufgegangen – ihre Nachkommen sind aber noch als Afros zu erkennen. Sind die Quechua in Bolivien indigen, obwohl ein Teil ihrer Vorfahren von den Inkas dort angesiedelt wurde. Und wie sind die gewaltigen Migrationsprozesse zu beurteilen, die seit den 80-er Jahren in Bolivien stattfinden? So sind z.B. zahlreiche Aymará und Quechua von ihren angestammten Siedlungsgebieten im Altiplano in das Tiefland im Chapare gezogen, wo sie das Land kolonisieren. Sind sie dort Fremde, Eindringlinge? In Bolivien nennen sich die Indigenen inzwischen selbst pueblos indígenas y originarios, eingeborene und originäre Völker. Diese Bezeichnung mag als Selbstdefinition jenseits von Indio und Campesino taugen, macht die Einordnung aber nicht leichter. Im Folgenden soll indigen daher im einfachst denkbaren Sinne verwendet werden. Indigene sind die Ureinwohner Amerikas, egal mit wem sie sich ethnisch vermischt haben und wo sie ursprünglich einmal lebten.

Der Vollständigkeit halber sollen die nichtindigenen Ethnien Boliviens hier zumindest erwähnt werden: Zirka ein Drittel der Bevölkerung sind Weiße und Mestizen, zudem leben etwa 22.000 Afrobolivianos, Nachfahren afrikanischer Sklaven im Land. Letztere konzentrieren sich vor allem in den subtropischen Regionen des Departements La Paz. Darüber hinaus leben in Bolivien etwa 20.000 Asiaten, vor allem Japaner, Chinesen und Koreaner.

Das Gebiet des heutigen Boliviens zählt zu den Regionen in Lateinamerika, die in vorkolumbischer Zeit am stärksten besiedelt waren. Zumindest diese Aussage ist unstrittig. Wie viele Menschen bei Ankunft der Spanier auf dem Doppelkontinent lebten, weiß niemand so genau. Es gibt nur Schätzungen, und die unterscheiden sich deutlich voneinander. Aber man weiß, dass das Andenhochland in präkolumbischer Zeit ein Zentrum der Besiedlung war; es wird vermutet, dass dort bis zu 30 Millionen Menschen lebten. Wie groß die Bevölkerung im Hochland des heutigen Bolivien war, gehört schon wieder zu den großen Unbekannten. Ebenso wenig weiß man, wie viele und welche Ethnien das Gebiet des späteren Bolivien besiedelten. Es gibt zwar Aussagen, dass bei Ankunft der Spanier z.B. allein in Santa Cruz 80 verschiedene Ethnien existierten, aber diese Zahl ist m. E. mit großer Vorsicht zu genießen, da weite Teile des Departements, vor allem die Regenwälder im Norden, erst relativ spät erschlossen worden sind und einzelne Gruppen erst sehr spät Kontakte zu den Europäern herstellten. Zu dieser Zeit waren andere Ethnien bereits verschwunden.

Die Konquista verursachte einen dramatischen Rückgang der ursprünglich in Amerika lebenden Bevölkerung. Wie groß dieser Rückgang war, kann niemand genau beziffern. Zum einen, da die Ausgangsdaten nur vage bekannt sind, zum anderen, weil es bis heute schwierig ist, den Anteil der indigenen Bevölkerung zu bestimmen. Der chilenische Anthropologe Alejandro Lipschutz hatte versucht, den Rückgang der Bevölkerung Amerikas am Beispiel ausgewählter Regionen zu beziffern. So berechnete er, dass die Zahl der Uru und Aymará, die bis heute in der bolivianischen Andenregion leben, in den ersten hundert Jahren der Eroberung um ca. ein Viertel zurückging. Die Gründe dafür dürften vielfältig sein: Feuerwaffen, Krankheiten, Versklavung. Aber auch Lipschutzs Zahlen sind nur Schätzungen.

Doch fangen wir am Anfang an. Bolivien hat ein kleines Problem: Das Land wird im Allgemeinen vergessen. Auch wenn es um die Würdigung indigener Kulturen geht, steht der Andenstaat zumeist hinter Peru, der Wiege des mächtigen Inka-Reiches, zurück. Es wird häufig vergessen, dass auch Bolivien auf eine frühe Hochkultur zurückblicken kann: die Kultur von Tiahuanaco. Diese ist benannt nach dem gleichnamigen Ort südlich des Titicaca-Sees, der zwischen 600 und 1000 u. Z. das Zentrum eines großen Reiches bildete, dessen Einfluss sich bis in die chilenische Atacama-Wüste, nach Cochabamba und selbst bis in den Nordwesten des heutigen Argentinien erstreckte. Die Stadt Tiahuanaco ist allerdings viel älter, ihre Geschichte lässt sich bis ca. 200 v.u.Z. zurückverfolgen. Von der Stadt, die vermutlich einmal zwischen 20.000 und 50.000 Einwohner zählte, blieben nur Ruinen – Reste von Gebäuden, Befestigungsmauern und gewaltige Sandstein- und Basaltblöcke. Niemand weiß heute, wer die Erbauer von Tiahuanaco waren und auf welche Weise sie ihren überragenden Einfluss in der Region herstellten und über Jahrhunderte sicherten. Unbekannt ist auch die Funktion der zahlreichen Gebäude. Doch die Herrscher von Tiahuanaco einten die verschiedenen Ethnien der Region und vermochten es so – ebenso wie die zur gleichen Zeit westlich des Titicaca-Sees herrschende Wari-Kultur – die Zersplitterung des Andenraumes zeitweise zu überwinden. Eine Einigung in solchem Umfang sollte Jahrhunderte später erst wieder den Inkas gelingen. Sowohl die Wari als auch die Tiahuanaco führten in ihrem Einflussbereich den Kult des Zeptergottes/ Viracocha ein, der sich schließlich im gesamten Andenraum ausbreitete, und später auch von den Inkas gepflegt wurde.

Als die Spanier in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts das Gebiet des heutigen Bolivien zu erobern begannen, war die Tiahuanaco-Kultur bereits untergegangen. Weite Teile Boliviens, der gesamte Westen entlang der Gebirgskette der Anden mit den heutigen Provinzen La Paz, Oruro, Potosí, Chuquisaca, Cochabamba, gehörten zum Herrschaftsbereich der Inkas. Dort lebte eine Reihe von Völkern, die verschiedenen Sprachfamilien angehörten, so z.B. Aymará, Tupi Guaraní, Tacana, Quechua. Wo einst die Kultur von Tiahuanaco verbreitet war, lebten die Aymará. Eine Tatsache, die zu der umstrittenen Annahme führte, die Aymará seien einst die Träger dieser einflussreichen Kultur gewesen.

Allen diesen Völkern war gemeinsam, dass sie der strengen Organisation des Inka-Reichs unterworfen und diesem tributpflichtig waren. Bei den Quechua sprechenden Stämmen im bolivianischen Altiplano liegt die Vermutung nahe, dass es sich (zumindest zum Teil) um von den Inka umgesiedelte Gruppen handelte. Die mitmaqkuna, die Umsiedlung ganzer Ortschaften in neu eroberte Gebiete, war eine Maßnahme der altperuanischen Herrscher zur Verbreitung und Sicherung ihres Einflusses. Die Umgesiedelten hatten die Aufgabe, den Unterworfenen ihre Kultur und ihre Sprache, das Quechua, zu vermitteln. In den unterworfenen Gebieten gab es immer wieder Widerstand gegen die Inkaherrschaft, vor allem von den Stämmen der Aymará sind Aufstände überliefert. Bei ihren Eroberungen in Bolivien überschritten die Inka nicht die Barriere der Anden. Sie beschränkten sich auf Handelskontakte mit den Stämmen, die am Fuße der Anden lebten, so lieferten Jägerstämme, wie z. B. die Leco (Lapa Lapa) Vogelfedern, Papageien, Honig etc. Die Kontakte blieben jedoch eher sporadisch.

Die Herrschaft der Inkas bewirkte eine Nivellierung der gesellschaftlichen Entwicklung in den unterworfenen Gebieten des Altiplano. Ihre Untertanen betrieben einen entwickelten Feldbau, mit Terrassenfeldern und ausgeklügelten Bewässerungssystemen. Die Stämme in den anderen Gebieten des heutigen Bolivien waren dagegen zumeist weniger entwickelt. Oft waren sie Jäger, die eine nomadisierende Lebensweise führten (z.B. im Chaco), andere Stämme trieben auch schon einfachen Feldbau. Jenseits der Anden, in den Steppen und Wäldern des bolivianischen Ostens war die Besiedelung deutlich geringer als auf dem Hochplateau. Vor allem im Regenwald lebten die Stämme weitgehend isoliert und hatten auch untereinander nur wenig Kontakt.

Die spanischen Konquistadoren kamen im Zuge der Zerschlagung des Inka-Imperiums von Peru aus nach Bolivien. Sie waren auf der Suche nach Eldorado, dem mythischen Goldland, von dem ihnen immer wieder berichtet wurde. Die Spanier sollten dem sagenhaften Reich noch lange nachjagen und dafür reichlich Entbehrungen und Opfer in Kauf nehmen. Eldorado blieb ein Mythos. In Bolivien fanden sie kein Gold, dafür aber Silber.

Der Legende nach entdeckte der „Indio Hualpa“ 1545 das Silber auf dem Berg Potosí. Um genau zu sein, er entdeckte es wieder: Bereits die Inkas kannten und nutzten die reichen Silbervorkommen im Cerro Rico. Die Edelmetalle Gold und Silber hatten für die Inkas keinen materiellen, dafür aber einen hohen rituellen Wert, das Silber galt als die Tränen von Mama Killa, der Mutter Mond. Nach Hualpas Entdeckung wurde nicht das Gold, sondern das Silber, das Mittel zur Mehrung des Reichtums der Allerkatholischsten Majestät. Als kleine Bergbausiedlung gegründet, wuchs die Stadt Potosí schnell und wurde zum Inbegriff für unermesslichen Reichtum, aber auch für beispiellose Verschwendungssucht. „Zu Beginn des 17. Jahrhunderts zählte die Stadt bereits 36 prachtvoll geschmückte Kirchen, 36 Spielhäuser und 14 Hochschulen. Die Salons, Theater und Bühnen waren mit kostbaren Wandteppichen, Vorhängen, Wappenschildern und Schmiedearbeiten versehen.“ (Galeano 1974, 46) Dem Land und vor allem seinen Ureinwohnern blieb nichts von diesem Reichtum: Bolivien wurde ausgehöhlt und ist bis heute eines der ärmsten Länder Amerikas.

Für einen nicht geringen Teil der Eroberten lassen sich die Lebensbedingungen unter der Konquista mit drei Begriffen umschreiben: mita, reducción und encomienda.

Die mita war die spezifische Form der Arbeit vor allem in den Bergwerken. Die Spanier übernahmen damit ein System, das bereits bei den Inkas gebräuchlich war. Auch die altperuanischen Herrscher kannten eine mita. Darunter verstanden sie die Arbeiten, die für öffentliche Bauten – Straßen, Tempel, Paläste – zu leisten waren. Zu solchen Arbeiten wurden die Männer immer wieder herangezogen. Auch der Dienst in der Armee ist dieser Art der Tributleistung zuzurechnen. Die Inkas führten zwar fast ständig Krieg, aber ein stehendes Heer kannten sie nicht.

Allerdings übernahmen die Spanier das alte System nur insofern, als sie die Indígenas zu verschiedenen Arbeiten heranzogen. Die Tributpflichtigen bei den Inkas wurden zwar nicht bezahlt, aber versorgt. Auch die Versorgung ihrer Familien war in dieser Zeit gesichert. Bei den spanischen Konquistadoren war die mita nichts anderes als Zwangsarbeit. Im großen Umkreis der Bergwerke wurden die Indígenas für die Arbeit in den Schächten rekrutiert. Die Spanier veranstalteten regelrechte Einfangaktionen, Menschenjagden, um den Nachschub an Arbeitern zu sichern. Die Arbeiter in den Minen hatten zwar formal gesetzlich garantierte Rechte, faktisch wurden sie jedoch wie Leibeigene behandelt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren mörderisch, es wird berichtet, dass im Verlaufe eines Jahres vier von fünf Bergleuten nicht überlebten. In den drei Jahrhunderten der spanischen Kolonialherrschaft, so heißt es, fraß der Cerro Rico von Potosí acht Millionen Menschen.

Mit den Minen konnte man reich werden, und so war es nicht ungewöhnlich, dass encomenderos ihre Schutzbefohlenen an die Minen verkauften. Mitunter wurden die Indígenas als Eigenkapital in die Bergwerksgesellschaften eingebracht, so erwarben auch die encomenderos, die ja eigentlich Kolonisten waren, Anteile am Silberbergbau.

Die encomienda übernahmen die Konquistadoren aus dem Mutterland. In Amerika wurde sie eingeführt, nachdem die spanische Krone die Sklaverei für die Ureinwohner verboten hatte. Da die Sklaverei die Zahl der Eingeborenen stark dezimiert hatte, sollten die Indios für die Indias erhalten bleiben; ohne Menschen war die spanische Variante der Kolonisation des Landes nicht zu realisieren. Den spanischen Siedlern wurden deshalb fortan von der Krone große Ländereien leihweise überlassen, zum Inventar gehörten auch die dort lebenden Ureinwohner. Gegen die Verpflichtung, diese zu schützen, zu erziehen und zum christlichen Glauben zu bekehren, hatten die Kolonisten das Recht, Tribute in Form von landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten einzuziehen. Auch öffentliche Arbeiten, z.B. im Straßenbau, waren tributpflichtig. Die Frondienste hatten einen solchen Umfang, dass die Indígenas die meiste Zeit des Jahres für die encomenderos sowie die spanische Krone zu arbeiten hatten und sich daher immer mehr verschulden mussten. Letztlich „gehörten“ sie den spanischen Kolonisten. Diese Form der Versklavung hatte ebenso wie die „echte“ Sklaverei zuvor verheerende Folgen für viele indigene Völker. Sie wurden aus ihrer gewohnten Lebensweise herausgerissen, hatten ihnen ungewohnte Arbeiten zu verrichten. Hinzu kamen eine ungewohnte Ernährung und von den Kolonisten eingeschleppte Krankheiten. Ihre Anzahl sank drastisch.

Nicht viel anders waren die Bedingungen in den reducciones der verschiedenen geistlichen Orden. Vor allem Jesuiten und Franziskaner bauten in Bolivien ein System dieser Reduktionen auf. In diesem Fall übertrug die Krone das Land an die Kirche und die Indígenas hatten „zum Ruhm der Kirche und des Christentums“ zu arbeiten. Die Aufgabe der Missionen war die Verbreitung des Christentums unter den Ureinwohnern. Auch wenn die reducciones heute oft verklärt werden, vor allem von den Kirchen selbst, die Indígenas hatten dort ebenso wie in den encomienda-Ländereien unter feudalen Bedingungen zu arbeiten. Die beabsichtigte Nebenwirkung der Missionierung war die Zerstörung der traditionellen Kultur. Die Indígenas wurden in speziellen Dörfern zusammengefasst, um sie besser unter Kontrolle zu haben. Ihre Lebensweise wurde damit radikal verändert. Besonders gravierend war das bei den Gruppen, die bis dato als Nomaden oder Halbnomaden gelebt hatten.

Für nicht wenige Stämme, vor allem im Chaco und in der Amazonasregion war der erste Kontakt mit Europäern der zu den Missionaren: Die Chimán und Baure in der Provinz Beni, die Chiquitano und Ayoreo in Santa Cruz, die Guaraní in Chuquisaca, sie alle waren der christlichen Missionierung unterworfen.

Auch wenn die Formen der Zwangsarbeit wie mita und encomienda ebenso wie die Reduktionen der Mönchsorden ab dem 17. Jahrhundert formal abgeschafft wurden – sie hatten sich überlebt und waren der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung im Wege, so änderte sich an der grundlegenden Abhängigkeit der Indígenas in Bolivien nicht viel. Aus Schutzbefohlenen der encomiendas und Reduktionsindianern wurden abhängige peones, aus der mita unterworfenen Minenarbeitern halb-leibeigene Mineros.

Eine Zäsur für einzelne indigene Gruppen brachte auch der Kautschuk-Boom im 19. Jahrhundert mit sich, als die Abgesandten der Kautschukbarone weit in den amazonischen Urwald eindrangen und das Leben der dort zurückgezogen lebenden Stämme grundlegend veränderten. Viele Einheimische starben unter unmenschlichen Bedingungen als Arbeitssklaven in den Camps der Kautschukzapfer, wurden erschossen, weil sie im Wege waren oder fielen den eingeschleppten Krankheiten zum Opfer. Die zur Sprachfamilie der Pano gehörenden Pacahuara und Yaminahua, die im Norden Boliviens siedeln, wurden auf diese Weise fast ausgerottet. Die Pacahuara zählen heute zu den vom Aussterben bedrohten Ethnien in Bolivien. Der Kautschuk-Boom macht deutlich, dass sich mit der Unabhängigkeit Boliviens, für die auch viele Indigene gekämpft hatten, nichts an ihrer gesellschaftlichen Situation geändert hatte.

Die Ausbeutung der Indígenas zum Wohle der Kolonisten und der spanischen Krone schuf die heutige Struktur der bolivianischen Gesellschaft, auch in ethnischer Hinsicht. Die mita setzte die Angleichungsprozesse unter den verschiedenen Stämmen fort, die z.T. schon von den Inkas forciert worden sind. In den Minen arbeiteten Angehörige verschiedener Gruppen und Völker, die das Quechua als gemeinsame Sprache übernahmen. Es fanden Annäherungs- und Verschmelzungsprozesse statt, sowohl untereinander als mit den Spaniern. Ethnien verschwanden und neue entstanden. Ein Beispiel hierfür sind vermutlich die Aymará. Neben der Theorie, die Aymará seien die Nachkommen der Tiahuanaco-Kultur gibt es auch eine andere These über die Entstehung dieses Volkes. Danach sind die Aymará das Produkt eines solchen Assimilierungsprozesses, ihr Volk entstand aus dem Zusammenschluss verschiedener verwandter Stämme – erst nach der Ankunft der Spanier.

Im Volk der Chiquitano gingen in der Kolonialzeit andere ethnische Gruppen auf, die auch die Sprache Chiquitano übernahmen. Diese Entwicklung ist vor allem auf die Konzentration dieser Stämme in Jesuitenreduktionen zurückzuführen, in denen die Missionare Chiquitano, die Sprache der zahlenmäßig stärksten Gruppe, als Verkehrssprache durchsetzten. Die große Zahl der Quechua sprechenden Gruppen auf dem gesamten Altiplano Boliviens ist auf jeden Fall auch als eine Folge dieser Entwicklung anzusehen.

Darüber hinaus übernahmen viele Indígenas das Spanische als Verkehrssprache. Auch die europäische Kleidung setzte sich mehr und mehr durch (z.T. gezwungenermaßen), der berühmte Männerhut der bolivianischen Indígena-Frauen ist ein Beispiel dafür. Von der traditionellen Kleidung der Einheimischen blieben nur Relikte, wie z.B. der Poncho.

Mit der Konquista setzte in Bolivien auch eine sozialökonomische Differenzierung der bis dahin weitgehend homogen organisierten dörflichen und Stammesgemeinschaften ein. Die übliche Bevorzugung der Kaziken und ihrer Söhne in den encomiendas und reducciones, die Einnahmemöglichkeiten von Ackerbau treibenden Gruppen, die die Bergbaustädte im Hochland mit Lebensmitteln und Vieh versorgten, führten zur Entstehung sozialer Unterschiede. Mit der Zeit bildete sich so etwas wie eine indigene Oberschicht heraus, die sich sehr bald von den Indios absetzte. Zur Diskriminierung durch Weiße und Mestizen kam die durch Indígenas hinzu, die keine Indios mehr sein wollten und sich sehr bewusst und dezidiert an die Lebensweise der Europäer anpassten. Indio ist bis heute ein Schimpfwort in Bolivien.

Die ethnische Differenzierung Boliviens war immer auch eine sozialökonomische: An der Spitze die Weißen, gefolgt von den Mestizen – heute zusammengefasst als karai-castellanos, und ganz am Schluss der sozialen und ökonomischen Stufenleiter die Ureinwohner. Daran hat sich bis heute nicht viel verändert, auch wenn aus den Indios inzwischen Campesinos geworden sind. Der Rassismus ist allgegenwärtig in Bolivien, das zeigen auch jüngste Ereignisse in den Departamentos Beni und Santa Cruz.

Bis heute lebt die Mehrzahl der bolivianischen Indígenas in den einst von den Inkas kolonisierten Regionen im Andenhochland. Dort ist ihr Anteil an der Bevölkerung auch am höchsten. Die größte Zahl der Ethnien lebt allerdings in Amazonien. Dabei handelt es sich zumeist um kleine Gruppen mit höchstens einigen hundert Angehörigen. Die Mehrzahl von ihnen lebt von kleiner Landwirtschaft und der Viehhaltung. Etwa ein Drittel der indigenen Ethnien führt bis heute ein Leben als Jäger, Sammler und Fischer (Sirionó, Toromona, Ese ejja) z.T. verbunden mit einfachem Ackerbau (Guarasugwe, Machineri). Einige Gruppen, wie z.B. die nur etwas mehr als zweihundert Angehörige zählenden Yuqui, haben das Kunsthandwerk als Einnahmequelle entdeckt.

Diesen kleinen und mittelgroßen Gruppen steht die große Zahl der Aymará, Guaraní und Quechua gegenüber, die sowohl in ihrer Lebensweise sehr differenziert sind (als Bergleute, Bauern, Lohnarbeiter, Angestellte, Händler), als auch über große und erfahrene ökonomische und soziale Organisationen verfügen.

Noch heute gilt es vor allem in der westlichen Tradition als Fortschritt und erstrebenswert, wenn sich die Indigenen assimilieren. Nur so, glaubt man, ließen sich die unterentwickelten Länder Lateinamerikas entwickeln. Die Ureinwohner Boliviens haben sich diesem Assimilierungsprozess mehr oder weniger erfolgreich zu entziehen versucht. Die Aufstände und Widerstandsbewegungen der Indígenas Boliviens, angefangen mit den ersten Erhebungen im 16. Jahrhundert bis hin zu den Aufständen und Aktionen des 20. und 21. Jahrhunderts zielten auch immer auf eine eigenständige Entwicklung, jenseits der Dominanz durch die Weißen. Die Bemühungen der Herrschenden liefen generell in Richtung Anpassung an die das Land dominierende mestizische Kultur und Kontrolle der Ureinwohner. Selbst die Gewerkschaftsbewegung, die eine große Bedeutung für die Mobilisierung der Mineros und Campesinos und den Kampf für ihre Rechte hatte, war zwar von ihrer Basis her, seltener aber hinsichtlich ihre Ziele eine genuin indigene Bewegung. So schätzte das Nationale Exekutivkomitee der Confederación Sindical Unica de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB) ein, dass die nach der Revolution von 1952 vom MNR gegründeten Gewerkschaften letztlich darauf zielten, die Bewegung der von nun an Campesinos genannten Indios zu kontrollieren und zu neutralisieren. Die Organisation reklamiert deshalb das Recht der „originären Völker“ auf ihre eigene Art zu leben und sich zu organisieren.

Die Bewegung der bolivianischen Indígenas, deren wichtiges Ergebnis nicht zuletzt die Wahl des Coca-Bauern und Gewerkschaftsführers Evo Morales zum Präsidenten des Landes war, geht dezidiert in eine Richtung, in der weniger die Assimilierung als vielmehr die Betonung der kulturellen Eigenständigkeit im Vordergrund steht. Das könnte weitere Differenzierungsprozesse im Lande nach sich ziehen, nicht zuletzt auch unter den Indígenas. Die kleinen Stämme in der Amazonasregion, die von Fischfang, Jagd sowie dem Sammeln von Früchten leben, haben mit den komplexen Gesellschaften der Quechua oder Aymará wenig gemein und der Kampf der Cocabauern des Chapare ist auch nicht unbedingt der ihre. Von den anderen ethnischen Bevölkerungsgruppen – den Weißen, Mestizen, Afrobolivianern und Asiaten – ganz zu schweigen, deren Lebensweise sich noch grundlegender von der der Andenvölker unterscheidet.

Und hier sind wir wieder am Anfang, beim Beispiel Südafrika. Emanzipations- und Abgrenzungsbestrebungen hatten dort neue Gräben aufgerissen, und 15 Jahre nach dem historischen Machtwechsel ist immer noch nicht entschieden, wie aus dem Neben- und Gegeneinander der Schwarzen, Weißen und Farbigen ein wirkliches Miteinander werden kann. Inwieweit also Bolivien seinem selbstgestellten Anspruch, eine multikulturelle und multiethnische Nation zu sein, in der alle ihrer Kultur entsprechend leben können, gerecht werden wird, bleibt abzuwarten.

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Literatur:

CSUTCB.Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia: Historia de los movimientos indígenas en Bolivia. http://www.puebloindio.org/CSUTCB3.html

Díez Astete, Álvaro: Pueblos étnicos de tierras bajas en situación de alta vulnerabilidad y en aislamiento voluntario.

Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas. Verlag Neues Leben, Berlin 1974.

Longhena, Maria/ Alva, Walter. Die Inka und weitere bedeutende Kulturen des Andenraumes. Erlangen 1999.

Pueblos indígenas y originarios de Bolivia. http://www.amazonia.bo

Schlenther, Ursula: Lateinamerika und seine Ureinwohner. Berlin 1976.

Teijero V., José: Regionalización y diversidad étnica cultural en las tierras bajas y sectores del subandino amazónico y platense de Bolivia. La Paz 2007

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