Noch weiter südlich kreuzt die Pan-Americana, an dieser Stelle ungepflastert, einen Maultierpfad (Km 1024, nicht beschildert), an dessen Ende die Ortschaft Polvo liegt (gemäß Zensus von 1935: 87 Einwohner). Haupterzeugnisse sind Hammelfleisch, Lanolin, Wolle und Kaktusfasern. Für viele Reisende ist Polvo das eigentliche Tor zu Patagonien. Möglicherweise hat General Juan Manuel de Rosas hier im Jahre 1832 seinen Indianerfeldzug begonnen. Diese Vermutung liegt deshalb nahe, da die Indianer in dieser Gegend bis zur Nicht–mehr–Auffindbarkeit befriedet wurden. Wahrscheinlich hat auch der junge Charles Darwin, der Rosas während seiner (Rosas-)Attacke traf, die schmale, kiesbedeckte Straße von Polvo betreten und auf den nahebei gelegenen, abschüssigen Steilhängen die Exemplare jener schwarzen Kröte gesammelt, die er in seinem “Forschungstagebuch”, bekannter unter dem falschen Titel “Die Reise der Beagle”, sorgfältig beschreibt.
Äußerlich unspektakulär, mit einer bewohnten Fläche von wenig mehr als zwei Morgen und über den Spitzen seiner niedrigen Dornbüsche kaum wahrnehmbar, hat man Polvo, obwohl es Teil des ehemaligen Königreichs Araukanien und Patagonien war, “den Weiler ohne einen Prinzen ” [1] genannt. Und doch besitzt es jenen besonderen Charme, der so vielen Schafzuchtorten eigen ist. Die Schursaison (10. – 17. Mai) zieht alljährlich jede Menge Besucher in ihren Bann. Die Polvanos selbst verweigern sich dem Zauber, ihre Schweigsamkeit aber zeigt beredt, dass es sich für die Touristen lohnt, den an solchen Tagen herrschenden, durch die erweiterten Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten bedingten Massenandrang in Kauf zu nehmen. Ähnlich verhält es sich am “Druidentag” (4.1.) und “Märtyrerfest” (22.7.)
Zur Schurzeit erinnert das bunte Treiben auf dem Marktplatz ein wenig an die Atmosphäre der vierten Szene, des vierten Aktes von “Ein Wintermärchen”, mit einer Wollkönigin in uralter Strickjacke und einem lustigen Scherertanz, der schon so manchem unvorsichtigen Zuschauer zum Verhängnis wurde. Alle zehn Jahre wird ein eisteddfod veranstaltet – ein Sängerkrieg, bei dem walisische Gedichte gesungen und gebrüllt werden. Die gleichzeitige Übersetzung in die Sprache der Tehuelche-Indianer mag ein Überbleibsel aus den Tagen der Kolonisation sein.
Besuchern von Polvo kann die in der Stadt herrschende Wasserknappheit nur unschwer entgehen und der vernünftige Wandersmann versorgt sich mit für die Dauer seines Aufenthaltes ausreichend Wasser. Jeder Besuch – egal wie lang er auch dauert – macht das Bohren eines Brunnens nötig, und der sparsame Reisende berücksichtigt diese zusätzliche Ausgabe in seinem Etat. Die Siedler sind gezeichnet von jahrelanger Armut und wirken äußerst angriffslustig – ein Eindruck übrigens, der durch längere Bekanntschaft sogar noch verstärkt wird. Bedingt durch Polvos Lage abseits vom Touristenstrom, der den entfernt lebenden Nachbarn die Neuzeit gebracht hat, neigt der im Umgang mit Fremden ungeübte Polvano zu Barschheit, es sei denn der Besucher ist der walisischen Umgangssprache mächtig. Mehr als nur normale Vorsicht muß walten lassen, wer unangemeldet ein Bauernhaus betritt und ebenso wenig sollte man erwarten, klare Richtungsanweisungen für den Ortskern und das Hotel (Residencial Penrhydeudraeth) zu erhalten. Das für Polvo-Verhältnisse luxuriöse Restaurant, dessen Keller mit einigen der besseren feuerländischen Jahrgänge gefüllt ist, ist meistens geschlossen. Für den Hobbyhöhlenforscher tun sich in den Bergen zahllose Möglichkeiten auf.
Einst der Lieblingsaufenthaltsort der patagonischen Riesen, die in dieser Gegend überaus zahlreich gewesen sein sollen und derentwegen frühe Kartenwerke die Legende “Regio Gigantum” ziert, hat Polvo mitangesehen, wie diese Ureinwohner in Zahl und Körpergröße über die Jahre hin schrumpften, bis Mitte des Jahrhunderts nur noch ein einziger übrig war. Auf ihn Jagd zu machen wurde zum Volkssport und ist Teil der reichen Folklore von Polvo. Die Überreste seiner kleinen Lehmziegelhütte sind noch zu besichtigen, aber nicht jeder Reisende wird diese Zwei-Tages-Tour machen wollen, da sie nur zu Fuß zu bewältigen ist. (Festes Schuhwerk ist ein Muß). Wer sich aber dazu entschließt (und der Trip befreit einen von dem üblen Geruch des Schafbades und der unbehandelten Felle, die einen Schatten auf diese ansonsten attraktive Ortschaft werfen), wird belohnt mit dem Anblick umherziehender Guanakoherden und seltsamer, in den Fels geschmierter Handabdrücke, von denen es heißt, sie seien 10.000 Jahre alt. Für den Ausflug zu den Grabstätten der ersten Siedler ist mehr Zeit nötig – nicht ganz eine Woche – und er ist nur den wirklich Hartgesottenen anzuraten. Hat man es bis dorthin geschafft, entschädigt einen die stille Erhabenheit drei einzelner, radkappenförmiger Grabsteine, die aus heimischen Felsblöcken gehauen sind und verwischte keltische Inschriften tragen, für alle Strapazen. Die eindrucksvolle Trostlosigkeit rund um diese winzige Nekropole wirkt wie Balsam auf die Seele des fußkranken Reisenden.
Die städtischen Gebäude in Polvo umfassen das Zentralgefängnis, das Waisenhaus der Gründerväter, die Wollkämmerei und die Kapelle der Methodisten. Diese ist in den Worten des französischen Reisenden Gaston “ein recht typisches Beispiel … sieht man ab von dem Fenster, das Kritik Tür und Tor öffnet.” Ein Christian – Science – Leseraum befindet sich im Planungsstadium und soll in einem Raum untergebracht werden, der derzeit als Zona Rosa bekannt ist (an fast allen Werktagen geöffnet) und der in früheren Zeiten den Gauchos während der Schafschur als Versammlungsort diente. (Man beachte die Haken und die zerkratzten Türpfosten, wo der Legende nach die Sporen aufgehängt wurden.)
Der Mercado (Markt) befindet sich ganz in der Nähe, und obwohl Polvos Tauschhandelsystem eine Garantie dafür ist, dass der enthusiastische Reisende seiner Armbanduhr verlustig gehen wird, ist ein Besuch das Risiko wert. Außer Wurzelgemüsen und Schafskadavern, die wie Sandsäcke um die mürrischen Händler herum drapiert sind, wird auch die traditionelle indianische Ornamentik feilgeboten, die so mancher für echt hält. All diese Gegenstände sind gefertigt aus getrockneten Kaktusfasern, denen magische Eigenschaften zugeschrieben werden, und umfassen Federläppchen, Kalenderhalter, Serviettenringe, Schnallen, Krawattennadeln, Lesezeichen und Sockel für Digitaluhren. In einiger Entfernung vom Markt liegen die verlassenen Hütten der Steinhauer, die in den Eisenerzabbaustätten arbeiteten. Durch diesen Teil der Stadt gibt es nur wenige organisierte Führungen.
Tief verwurzelt in patagonischer Geschichte trägt Polvo leicht am Gewicht seines Alters, hat aber ständig sinkende Einwohnerzahlen zu beklagen. Die Jugend des Ortes gerät verständlicherweise in den Sog der Ölpipeline und des bunten Lichterglanzes der Stadt Río Gallegos. Folglich beträgt das Durchschnittsalter in Polvo 73. Mit der für das kommende Jahrzehnt in Aussicht gestellten petrochemischen Fabrik soll auch der Tourismusanteil steigen. Das Vogelaufkommen ist überaus reich und der Himmel über Polvo färbt sich regelmäßig schwarz, wenn die Truthahngeier aufsteigen (Cathartes aura). Auch Stinktiere (Zorrillos) sind zu nennen. Die Flora ist zäh, aber dünn und beschränkt sich auf Dornengestrüpp und jene Kaktusart, die die Grundlage des heimischen Kunstgewerbes bildet. Ohne sich von den Spötteleien der Fremden über die Eintönigkeit ihrer wenig bemerkenswerten Gegend beirren zu lassen, genießen die Polvanos, dass die Landschaft hin und wieder einer verrückten Laune der Natur nachgibt und scheuen keinen noch so langen Weg, um einen Gletscher mit lautem Krachen kalben zu hören.
In einem anderen Zeitalter müssen Dinosaurier auf diesem staubigen Plateau herumgestreift sein und ihre Eier dort abgelegt haben, wo heute Schafe grasen, ohne auch nur die geringste Spur hinterlassen zu haben. Das Museo de Polvo (Polvo Museum, Montags geöffnet) enthält das Gipsmodell einer Pionierbehausung, eine Kartenskizze der spanischen Eroberung, eine antike walisische Frisierkommode, eine Sammlung von Häuten und Fellen, einen ausgestopften Albatros, die Epauletten eines Füsiliers und ein Kanu. Auf Wandgemälden sind Rosas Massaker (Nordwand) und das Hochwasser von 1899 (Westwand) dargestellt. Der diensthabende Museumswächter wird von Zeit zu Zeit wach, um den Besucher zu ermahnen, sich nicht auf die Schaukästen zu lehnen.
Aus dem Engl.: Gabriele Eschweiler
[1] Unübersetzbares Wortspiel: “the hamlet without a prince” – hamlet = Weiler / Shakespeares Tragödienheld Prinz Hamlet [Anm. d. Üs.]