Zum 100. Geburtstag des argentinischen Schriftstellers
Wie könnte Julio Cortázar in Erinnerung gebracht werden, ein Schriftsteller, der die Zeit zum Duell forderte, der die Rückseite der Zeit entdeckte und sie bearbeitete, als wäre sie ein Krapfen? Cortázar kam auf die Welt, als der deutsche Kaiser einen Platz an der Sonne besetzen wollte. Er war ein Paradoxon der Geschichte, gewissermaßen eine Entschädigung für sie: ein in Kriegszeiten geborener Pazifist. Der Argentinier Julio Cortázar wurde in Belgien geboren und schrieb den größten Teil seines Werkes in Frankreich. Dieser zwei Meter große Dichter galt als Ausnahme der von Augusto Monterroso aufgestellten Regel, wonach die Statur umgekehrt proportional zur Fähigkeit als Dichter sei. Julio Cortázar der Schriftsteller, der nicht nur von dem berichten wollte, was „Jenseits“ geschieht – was ja an sich schon ausreichend gewesen wäre – sondern auch dem Leser vorschlug zu bedenken, dass dieses „Jenseits“ existiert, wenn man mit es mit seinem „Sein“ belebt.
Cortázar definierte die Literatur als eine Weise, die Realität zu modifizieren: Die Realität ist ihrerseits Möglichkeit und Freiheit. Die Freiheit bedeutete für ihn, die Art zu zerstören, in der uns die Realität gezeigt wird – was kein blinder Zufall ist. Um die Realität zu verändern, sollte sie zuerst erlebt werden. Julio Cortázar zog alles in Zweifel. Denn der Ausgangspunkt ist die Wiederbegegnung des Menschen mit seiner eigenen Identität. Cortázar war ein Mensch seiner Zeit, der die Probleme der nächsten Generationen darlegte – der Größte Cronopio, wie ihn seine Bewunderer nach den kreativen und unkonventionellen Wesen aus seinen Erzählungen nannten.
An Cortázar aus Anlass seines 100. Geburtstages zu erinnern, heißt an eine Ewigkeit zu erinnern – sowohl aufgrund des Jahrhunderts als auch des Millenniums. Der Schriftsteller gibt uns noch immer Schlüsselideen. Das geschieht nicht, weil man glaubt, er sei irgendwo im Himmel, sondern weil seine Literatur die Zeit besiegte, genauso wie er den Raum bereits aufgelöst hatte: Er ist ein Schriftsteller unter zwei Himmeln, unter sieben gleichen Himmeln, der aus Paris über Argentinien schrieb und es beschrieb. Der Dichter Juan Gelman sagte einmal, er hätte durch das Lesen die Bücher, die Cortázar in Paris schrieb, seine Stadt Buenos Aires erst richtig verstanden. Hat das etwas zu tun mit der geographischen Perspektive? Nein. Es handelte sich darum, die Worte aus dem eigenen Sein zu holen. Auf dieselbe Art, wie in den Anden gesagt wird, man trinke den Alkohol nicht um zu vergessen, sondern um sich zu erinnern, betrieb Julio die Literatur nicht als eine Flucht vor, sondern als eine Wiedervereinigung mit sich selbst. In einer Zeit, in der der Egoismus und das Misstrauen herrschen, sind das Selbstvertrauen und das Vertrauen an die Menschlichkeit Zeichen der Revolution.
Der Argentinier sprach über die Literatur als Weg zur tiefen Identität. Im Gegensatz zu der Idee, wonach die Literatur ein Synonym für Freizeit sei (was bedeutet, dass ein Mensch mit mehr Freizeit auch literarischer ist, und umgekehrt), ist sie für Cortázar untrennbar mit dem Leben verbunden. Die Literatur ist für ihn kein Raum, in dem man Antworten finden kann, sie ist ein Weg, Fragen zu stellen. Und die Fragen helfen, die begrenzte Realität zu erweitern.
Cortázar zeigte sich nonkonformistisch gegenüber allem Erlaubten und Genehmigten, weil er der geschenkten kulturellen Gewissheit misstraute. So könnte der Jazz für die einzig wahre Musik gehalten wird, weil seine Bedeutung paradoxerweise in der Unmöglichkeit liegt, ihn zu definieren. Cortázar war verliebt in den Jazz, weil dieser nicht definiert, begrenzt und klassifiziert werden könne. Genauso wie der Jazz ein unbeschränkter spontaner Schöpfungsakt ist, sollte man nicht nach der Literatur suchen, sondern beachten, dass der Mensch immer vor einer literarischen Quelle steht. Die Literatur wurde uns als etwas nahegebracht, was in den Büchern steht, als ob die Literatur nichts mit dem Leben zu tun hätte.
Julio Cortázar schlug eine andere Sichtweise auf den Alltag gegenüber dem Universellen vor. Was könnte universeller als das Alltagsleben sein? Die Literatur Cortázars brachte die Enteignung der Realität, welche die Menschen erleiden müssen, an die Öffentlichkeit. Normalerweise hält man das, was im Alltag geschieht, für eher bedeutungslos. In diesem Sinn sollte das Alltagsleben von der Routine unterschieden werden. In der Routine geht es wie selbstverständlich um die passive Annahme der Realität. Cortázars Literatur zeigt den Lesern den Wert des Alltags: Wenn man die Realität verändern will, sollte man sich selbst zuerst als Teil der Realität anerkennen: Die Routine ist ein Herrschaftssystem. Dagegen könnte das Ergebnis der Beschreibung des Alltags eine Anklage sein, die die Ungerechtigkeit offensichtlich macht. Jedenfalls ist Literatur ein Ausdruck des Seins.
Julio Cortázar entdeckte die Spontaneität der Kindheit, die Gewohnheitslesern frische Luft zum Atmen gibt. Die Literatur stellt die Begriffe der Erlaubnis und der Angewohnheit in Frage. Die Fantasie, was in der Kindheit angeschaut werden kann, ist universell: Die Kinder können ohne Probleme mit vielfältigen Ebenen der Realität leben. Sie trennen nicht die Fantasie vom Alltag. Doch sie agieren in beiden Welten, ohne nach der Wirklichkeit zu fragen. Sigmund Freud schrieb über die Ernsthaftigkeit des Witzes und Roberto Fontanarrosa hielt einen Vortrag über die Harmlosigkeit der Schimpfwörter. Cortázar sprach seinerseits ernsthaft von der Ernsthaftigkeit des Spielens. Seine Erzählungen beinhalten das Spielen. Genauer gesagt, wurden seine Erzählungen geschrieben, als ob sie ein Spiel wären, denn seine widerwillige Literatur trennte die Fantasie nicht vom Alltagsleben. Das Alltagsleben taucht als eine Bemerkung auf: Unserer Schriftsteller sieht eine endlose Quelle für Sensibilität in der Befreiung des Menschen durch den Homo Ludens.
Während der Größte Cronopio spielt, widersetzt er sich der Rationalität des Kronos. Cortázar mochte nicht achtgeben, denn Achtlosigkeit erlaubte ihm, den Teufelskreis der Routine zu vermeiden, um sich auf die Ebene der Realität zu konzentrieren. Die Fantasie könnte als das definiert werden, was man vergessen hat, als wahr anzuerkennen. Würde man den Alltag von dem Korsett des Wahren, Realistischen befreien, könnte die Fantasie ein Teil der Normalität sein. Julio ist ein ansteckender Cronopio, der vorschlägt, dass die Realität statt von den Regeln von ihren Ausnahmen aus gesehen werden sollte.
Die Literatur Julio Cortázars ist eine spielerische, schöpferische Tätigkeit, die sogar als eine erotische Tat verstanden werden könnte: Sie ist eine Art des Fühlens, wenn man unter Liebe nicht die Auflösung des Daseins versteht, sondern die Schöpfung einer neuen gemeinsamen Einheit mit der geliebten Person. Diese Literatur ist eine Waffe, ein Werkzeug zur Beseitigung der Hindernisse, die den Menschen hindern, seine Selbstverwirklichung zu erreichen – und damit die Gelegenheit, eine intersubjektive Wesenheit zu schaffen.
Allgemein wird akzeptiert, dass eine Melodie innerhalb ihres Klanges vergeht. Trotzdem verschwindet sie nicht: Sie könnte die Zuhörer bis zu ihrem letzten Tag begleiten. Das Werk Julio Cortázars gehört sowohl zur Gegenwart als zur Zukunft. Wenn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr möglich wäre und der Mensch sich in Freiheit äußern könnte, wird das Werk Cortázars der Vergangenheit angehören: Es wird ein Andenken an eine Zeit sein, in der der durchschnittliche Mensch glaubte, er sei Nichtseiendes – ohne daran zu glauben.
Bildquellen: [1] Sara Facio; [2] Julio Cortázar; [3] Quetzal-Redaktion, gt; [4] Wearthedead.