Argentiniens Staatsbankrott von 2002 mit ungeahnten Spätfolgen
Am 16.06.2014 wurde in New York ein weitreichendes Urteil gefällt: ein Urteil, das tief in die Souveränitätsrechte eines Landes eingreift und private Investmentinteressen schützt; ein Urteil, bei dem es um viel Geld geht und die Rendite für eine Minderheit über die Belange einer ganzen Nation stellt. Denn im Fall des Rechtsstreits zwischen einer Hedgefondsgruppe und dem Staat Argentinien waren es die Investoren, die einen Sieg auf ganzer Linie errangen.
Hintergrund des Rechtsstreits bildete der argentinische Staatsbankrott von 2002. Nach Verkündung des Schuldenmoratoriums hatte Argentinien mit den meisten der Schuldner eine Umschuldung und einen Schuldenverzicht erreicht – bis auf einige Hedgefonds, angeführt von NML Capital. Die Gruppe harrte aus und verweigerte nicht nur die Umschuldung, sondern verklagte die argentinische Regierung auf Rückzahlung des gesamten Schuldenbetrages inklusive Zinsen. Unterdessen kauften die Hedgefonds alte argentinische Schuldentitel weit unter Wert auf, um die Klagesumme zu erhöhen. Sie bestätigen damit einmal mehr, weshalb sie aufgrund ihrer überzogenen Renditeerwartungen und der daraus sich ergebenden halbseidenen Geschäftspraxis gern auch als „Geierfonds“ oder „Heuschrecken“ bezeichnet werden: Sie profitieren von ihrem schon danieder gestreckten Opfer und hinterlassen eine kahle Landschaft, wie beim massenhaften Einfall von Wanderheuschrecken, einer der biblischen Plagen.
Nach Angaben der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner hat NML Capital zum Beispiel im Jahr 2008 Staatsanleihen im Wert von 48 Millionen US-Dollar billig aufgekauft und vor Gericht die Auszahlung deren Nennwerts in Höhe von 832 Millionen US-Dollar geltend gemacht.
In dem Urteil bekamen die Heuschrecken 1500 Millionen US-Dollar zugesprochen, was Argentinien erneut in große finanzielle Schwierigkeiten brachte. Ermöglicht wurde die Einschaltung der US-Justiz jedoch dadurch, dass die argentinische Regierung die Staatsanleihen damals unter US-amerikanischem Recht ausgegeben hatte.
Von Griesa bis zu den wichtigen Fragen
Dabei ist und bleibt die Frage der Anleihen und Auslandsverschuldung eine Souveränitätsfrage.Das Urteil des US-amerikanischen Richters Thomas Griesa entscheidet jedoch über nicht weniger als die Gegenwart und die Zukunft Argentiniens. Denn damit erhöht sich von heute auf morgen die Schuldenlast, was die Entwicklungsmöglichkeiten des Landes stark einschränkt.
Nachdem der argentinische Staat der Hedgefondsgruppe 832 Mill. US-Dollars auf ein Konto der Bank of New York Mellon (BoNY) überwiesen hatte, um die Schulden aus den alten Staatsanleihen zu begleichen, wurde der Fonds von Richter Griesa gesperrt. Interessant – aber eigentlich nicht überraschend – ist die Argumentation der Justiz. Sie pocht auf das Gesetz, wonach die Gläubiger ihre Anleihen in vollem Umfang zurückbezahlt bekommen müssen. In der Praxis sehen Experten zudem tiefergehende Gründe. Zum einen will man Druck auf die Verhandlungen ausüben. Zum anderen soll das Urteil abschreckend auf andere Schuldner wirken und keinen Präzedenzfall schaffen.
Die Frist für die Rückzahlung endet Ende Juli. Sollte Argentinien bis dato die Altschulden bei der Hedgefondsgruppe nicht beglichen haben, droht eine Strafe von 15 Milliarden US-Dollar, was definitiv einen neuen Default nach sich zöge. Außerdem haben die Ratingagenturen bereits das D – gleichbedeutend mit Zahlungsausfall – in der Hand, wonach Argentinien große Probleme bekäme sich weiterhin auf dem internationalen Finanzmarkt zu finanzieren.
Doch vorerst wird verhandelt. In der vorigen Woche wurde ein Vermittler, Daniel Pollack, benannt, dessen Lohn (12.000 US-Dollar pro Tag) vermuten lässt, dass eine schnelle Lösung gefunden wird. Unter dieser Vermittlung stimmen sich der argentinische Staat und die Hedgefondsgruppe ab. Um einem neuen Default vorzubeugen, stellt Argentinien auch bei Nichteinigung bis Ende Juli die Bedingung, dass der gesperrte Fonds fristgerecht bei der BoNY freigegeben wird.
Während auf eine Lösung bei den Verhandlungen gewartet wird, fand in der brasilianischen Stadt Fortaleza ein Treffen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) statt. In den BRICS-Staaten leben etwa 40% der Weltbevölkerung (zirka drei Milliarden Menschen). Eines der wichtigsten Ziele der BRICS-Staaten ist es, einen gemeinsamen Garantiefonds zu schaffen. Damit soll die finanzielle Stabilität der Mitglieder verbessert werden. Obwohl Argentinien kein BRICS-Mitglied ist, wurde es auf das Treffen als Gastland eingeladen. Die argentinische Regierung sucht hierbei v.a. nach einem weiteren Rettungsanker angesichts der drohenden Sturmflut auf seine Auslandsschulden. Und auch auf juristischem Gebiet hat Argentinien Aktivitäten gestartet. So rief die argentinische Regierung vergangene Woche die Staatspräsidenten der Region auf, eine Vereinbarung über einen neuen regionalen Rechtsrahmen zu treffen, der die Umschuldungen schützen könnte. Denn die Alternative, die Lösung bei den großen internationalen Finanzorganisationen wie Internationalem Währungsfonds oder Weltbank zu suchen, ist aussichtslos.
Überraschend ruhig verhält sich angesichts der schwierigen finanziellen Lage die Bevölkerung Argentiniens – bislang. Freilich, es gibt wieder Generalstreiks und Massendemonstrationen. Aber jeder ist sich der schwierigen Situation bewusst. Das liegt zunächst daran, dass jeder Argentinier stets und ständig mit der öffentlichen Verschuldung leben muss; und das von Geburt an, in der Schule und auf Arbeit. Sogar die Kinder wissen, dass Argentinien Unmengen an Schulden hat. Derzeit drücken das Land schätzungsweise 137 Milliarden US-Dollar an Auslandsschulden. Jährlich müssen fünf Milliarden US-Dollar für Tilgung und Zinsen aufgebracht werden. Überraschenderweise fragen sich nur wenige, was der Ursprung dieser Schuld ist. Für die meisten steht sie schwarz auf weiß geschrieben, als ob sie die argentinische Ursünde wäre.
Dabei ist die Logik der Importschuld vom Prinzip her widersprüchlich: Denn sind nicht die Gläubiger daran interessiert, zunächst ihre Produkte gegen Kredit zu verkaufen – und danach die Schulden einzutreiben bzw. gegen neue Schulden zu ersetzen, bis die Schuldenspirale schwindelige Dimensionen erreicht? Und legen nicht die Ratingagenturen aus den Gläubigerstaaten allein das Rating fest – und somit praktisch den Zinssatz, zu dem das Land auf dem internationalen Markt Kredite aufnehmen kann? Kurzum, die öffentliche Verschuldung ist eine Unterwerfungsstrategie. Während die eine Vertragspartei anordnet, muss sich die andere fügen.
Die Verschuldungsfrage ist auch nach wie vor eines der Topthemen auf der politischen Agenda. Allerdings erweisen sich die offizielle Verlesung und Kritik des Urteils von Thomas Griesa und die zaghafte Forderung nach einer neuerlichen Umstrukturierung der öffentlichen Schulden als hilflose Instrumente. Ebensowenig trägt der Kreuzzug gegen den Imperialismus dazu bei, eine realistische, langfristige Lösung des Problems der wirtschaftlichen Konsolidierung zu schaffen. In diesem Zusammenhang berichten die Medien über die Verhandlungsdelegationen, die ins Ausland fliegen, um sich mit den Vertretern der Weltmacht zu treffen. Und trotz des rhetorischen Symbolismus unterschreiben sie letztlich doch unbedenklich alles, was ihnen vorgelegt wird.
Die Opposition, weit davon entfernt, selbst eine Antwort auf die Verschuldungsproblematik zu finden, bringt sich nach dem New Yorker Urteil wieder in Stellung. Obwohl ein Teil der Schulden aus zurückliegenden Zeiten in ihrer Verantwortung liegt, stellt sie nun Fragen in fast umstürzlerischer Art: Warum akzeptierte der argentinische Staat das Urteil von Griesa? Aus welchem Grund wurde die Bank of New York als Zahlstelle ausgewählt? Ist die Umschuldung trotz der Erschöpfung der einzelstaatlichen Reserven der Weg zur Entwicklung und zur Unabhängigkeit?
Aus allen politischen Lagern werden Forderungen laut. Demnach sollte der Staat:
- auf keinen Fall das Urteil-Griesa akzeptieren;
- den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen, um die Restrukturierung der öffentlichen Schuldung zu stoppen, da dadurch die Finanzmittel für die Basisversorgung der Ärmsten fehlen würden;
- vom Vertrag mit der BoNY zurücktreten und die argentinische Banco Central oder die Banco Nación als Zahlstelle festsetzen;
- eine Versammlung der Anleihensinhaber einberufen, um die internationalen Anleihen zu nationalisieren;
- eine Zweikammer-Kommission einrichten, um die Legitimität der öffentlichen Schuldung zu analysieren;
- eine Sondersteuer einführen, mit der die innerhalb der letzten Dekade erfolgte Kapitalflucht besteuert werden soll.
Viele dieser Punkte sind illusorisch. Doch die Zeit rennt. Eine schnelle Lösung muss her. Daher ist auch der Ausweg, die Legitimität der Schulden zu überprüfen, so wie es Ecuador getan hat, derzeit kein Thema. Aber zugleich wird deutlich, dass Argentinien nicht nur für den neuerlich drohenden Default, sondern langfristig eine Strategie braucht, um die Schuldenspirale zu durchbrechen. Denn Unabhängigkeit bedeutet, von niemandem abzuhängen – auch nicht finanziell.
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