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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit María Pilotti
Argentinische Filmemacherin

Anja Jaramillo | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

1977, Casa Tomada, Das „Anne-Frank-Haus“ in Buenos Aires

Calle Santiago 2815 in Rosario, Argentinien. Es ist der 17. September 1977. Eine groß angelegte gemeinsame Aktion von Militär, Polizei und nationaler Gendarmerie, befohlen durch General Leopoldo Fortunato Galtieri, späterer Held des Falklandkrieges, ausgeführt durch den Kommandanten der Gendarmerie Carlos Augusto Feced, nimmt ihren Lauf. Mit einem Großaufgebot an Maschinengewehren und sonstigem schweren Waffen wird das Haus eines jungen Paares vom Balkon des gegenüberliegenden Hauses aus unter Beschuss genommen und anschließend gestürmt.

Die Frau und der Mann werden am Ende festgenommen und abgeführt. Bei den Verhafteten handelt es sich um María Esther Ravelo, genannt Cuqui, 23 Jahre alt, und Emilio Etelvino Vega, 31 Jahre alt. Die beiden sind blind. Emilio hatte sein Augenlicht bei einem Unfall, Cuqui das ihre bereits in jugendlichem Alter durch Krankheit verloren. Sie hatten sich auf der Blindenschule kennengelernt, heirateten und bekamen einen Sohn. Mit den beiden verschwindet am 17. September auch das einjährige Kind sowie der Blindenhund. Der kleine Iván findet sich zwei Tage später wieder ein. Zwei Männer fahren bei einer Verwandten Cuquis vor und übergeben ihr das Kind. „Den hier schickt dir deine Cousine“, merken sie lediglich an. Der Blindenhund leistet im nächstgelegenen Polizeirevier einige Zeit als Polizeihund gute Dienste im „Kampf gegen subversive Machenschaften“. Nur von Emilio und Cuqui fehlt bis heute jede Spur. Zwei von 30.000 Verschwundenen während der argentinischen Militärdiktatur.

Doch bei der Verschleppung und Ermordung der jungen Leute alleine bleibt es nicht. Wenige Tage nach der Verhaftung wird das Haus, Eigentum des blinden Paares, durch die Polizei vollständig ausgeräumt. Große Lastwagen fahren vor, in die alle Habseligkeiten der jungen Leute verladen werden. Nichts wird zurückgelassen, von den Stühlen bis zum Kronleuchter, sogar das Dreirad des kleinen Iván wird gestohlen. Vermutlich wird die Beute sodann einvernehmlich unter den Tätern aufgeteilt. Aber auch mit dem Diebstahl nicht genug. In den folgenden siebzehn Jahren wird das Haus als Zentrum für pensionierte und ausgeschiedene Polizisten und Militärs genutzt. Kein Wort über den unberechtigten Besitz, auch nicht, wie vielleicht zu vermuten, nach dem Ende der Militärdiktatur. Nur Schweigen. Als die Besetzung des Hauses im Jahre 1985 von den beiden Müttern der Opfer angeklagt wird, kommt der Fall an die Öffentlichkeit. Die Madres de la Plaza de Mayo organisieren Aufmärsche vor dem Haus in der Calle Santiago. Mehrere Journalisten recherchieren die Hintergründe der Verschleppung des jungen Paares und die der rechtswidrigen Aneignung ihres Hauses. Dessen Fassade wird immer wieder mit anklagenden Parolen versehen, die stets eilig mit grauer Farbe übertüncht werden, als ob man die eigene Scham überdecken wollte. Juristische Argumente gegen die Herausgabe des Hauses werden von dessen Belagerern nicht vorgebracht. Wie auch, wenn die von den Müttern immer wieder beigebrachte Eigentumsurkunde das Recht der Ermordeten doch schwarz auf weiß beweist. Ein Oberst wirft den Klägerinnen und ihren Mitstreitern vor: „Wann endlich werden Sie sich an den Aufbau des Landes mit Blick nach vorne machen und aufhören, in dem Morast der Vergangenheit zu wühlen?“ Die Täter werden zu Opfern gemacht.

Erst 1994 wird das Haus in der Calle Santiago 2815 in Rosario nach langem Kampf den Familien des Paares zurückgegeben. Es ist heute ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens und beherbergt ein Zentrum für Menschenrechte. Es soll nach den Vorstellungen eines in diesem Fall engagierten Journalisten ähnlich dem „Anne-Frank-Haus“ in Amsterdam ein Anlaufpunkt für Menschen aus aller Welt, vor allem aber für die Argentinier sein.

Die argentinische Filmemacherin María Pilotti hat der Geschichte um das verschwundene blinde Paar einen 35-minütigen Dokumentarfilm gewidmet. In „1977, Casa Tomada“ porträtiert sie Cuquis Mutter, Dona Alejandra Fernández de Ravelo, genannt Negrita, die seit Jahren auf der Suche nach der Wahrheit um die verschwundene Tochter ist und sich aus diesem Grund den Madres angeschlossen hat. Bei dem Film handelt es sich um ein einfühlsames Dokument des Schmerzes und der Trauer über den Verlust eines Kindes, aber auch über das Vergessen und Verdrängen der Wahrheit bis heute. Anlässlich des Leipziger Dok-Film-Festivals im November 1998, bei dem „1977, Casa Tomada“ gezeigt wurde, hatten wir die Gelegenheit zu einem Gespräch mit María Pilotti.

Anja Jaramillo

***

Wie bist Du auf die Idee gekommen, einen Film über diesen Fall zu machen, und wie hast Du Doña Alejandra kennengelernt?

In Buenos Aires gibt es jeden Donnerstag einen Marsch der Madres de la Plaza de Mayo. Das sind immer sehr traurige Momente, denn jeder weiß, dass die Mütter den Verlust ihrer Kinder beklagen, von denen sie nicht wissen, wo sie geblieben sind und ob sie leiden oder leiden mussten. Es ist ein Thema, das mich seit jeher berührt. Trotzdem fiel es mir schwer, mich den Madres zu nähern. Sie schienen gleich einem Schatz, den man aus der Ferne betrachtet. Eines Tages las ich in der Zeitung „Página 12″, die in Buenos Aires erscheint, einen Artikel von Osvaldo Bayer mit dem Titel: „La mirada de los ciegos“ (Der Blick der Blinden). Der Artikel berichtete von den Vorfallen, die sich im Haus eines verschwundenen blinden Paares zugetragen hatten. Dieses Haus war von Militär und Polizei nach der Verhaftung der jungen Leute leer geräumt und ausgeraubt worden, sogar das Dreirad des Kindes nahmen sie mit. Danach stand das Haus im Gebrauch der Polizei, die dort Feste feierte. Der Artikel erzählte von dem Schicksal der blinden jungen Frau, Cuqui, die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ungefähr das gleiche Alter hatte wie meine Tochter als ich den Artikel las. Die Geschichte ging mir so nahe, dass ich unbedingt etwas darüber machen wollte. Ich setzte mich mit Osvaldo Bayer in Verbindung, der mir eine Telefonnummer in Rosario gab, der Stadt, in der alles vorgefallen war. Es war die Telefonnummer des Journalisten Carlos del Frede, der über den Fall ebenfalls recherchiert hatte. Wir trafen ihn in Rosario und besuchten bei der Gelegenheit auch das Haus, das zu diesem Zeitpunkt noch vom Militär besetzt war, weshalb wir es uns nur von der gegenüberliegenden Straßenseite aus ansehen konnten.

In jener Zeit regierte überall die Angst, auch wir hatten Angst. Rosario ist eine Stadt, die unvorstellbare Repressalien erlitten hat, viele dort sind während der Diktatur verschwunden. Carlos gab mir die Telefonnummer einer Verwandten der Negrita, wie Doña Alejandra im allgemeinen genannt wird. Wir blieben den ganzen Tag in Rosario, befragten alle Nachbarn, um etwas herauszufinden, aber niemand wusste etwas, jeder hatte ganz offensichtlich Angst, keiner wollte dabeigewesen, keiner etwas gesehen haben. Wieder in Buenos Aires, rief ich die Negrita an, die mir dank der Fürsprache von Osvaldo Bayer, dem sie ihr vollstes Vertrauen entgegenbrachte, alle Türen öffnete. Die Madres hatten ja ebenfalls Angst, denn während der Diktatur waren auch einige von ihnen spurlos verschwunden. Wir verabredeten uns an einen Donnerstag zu einem Marsch der Madres auf der Plaza von Santa Fé, ungefähr sechs Autostunden von Buenos Aires entfernt. Schon als ich die Negrita von weitem sah, beeindruckte mich ihre Erscheinung, die mir herzlich und warm erschien. An jenem Tag unterhielten wir uns lange auf der Plaza, und ich durfte sie während des Marsches filmen. Diese Aufnahmen sind am Ende unseres Filmes zu sehen. Das zweite Mal trafen wir uns bei ihr zu Hause. Dieser Besuch war ungemein ergreifend. Die Negrita wohnt in einem sehr bescheidenen Haus, das sie mietet, denn auf der Suche nach ihrer Tochter hat sie alles verloren, musste ihr eigenes Haus und ihr Geschäft verkaufen. Sie arbeitet mit ihren siebzig Jahren täglich elf Stunden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie empfing uns aufs herzlichste mit einem selbstgebackenen Kuchen und bestand am Abend darauf- wir waren zu dritt angereist und hatten uns noch nicht um ein Hotel gekümmert – dass wir bei ihr Quartier nehmen. Es entstand zwischen uns eine Freundschaft, und sie erzählte uns ihre Geschichte.

Manchmal war es auch für uns nicht leicht, denn die Negrita weinte oft, und wenn sie weinte, dann weinten wir alle, so stark spürten wir ihren Schmerz. Wir besuchten sie daraufhin noch einige Male, und noch jetzt fahren wir regelmäßig nach Rosario. Man nähert sich ihr und will nicht mehr fort. Sie ist eine Person, die uns allen ein Beispiel geben kann, weil sie alles gibt und sogar noch nach ihrer Arbeit jeden Tag für die Madres weiter arbeitet. Sie ist eine bescheidene Frau, eine Haufrau, die bevor ihr das widerfuhr, mit Ausnahme vom Kochen und der Kindererziehung nicht viel über das Leben wusste. Ihre Familie sowie ein kleiner Blumenladen waren ihre ganze Welt. Heute hat sie eine sehr viel weitere Sicht auf das Leben und den Schmerz, den man ihr zugefügt hat.

Nimmt die Negrita Deiner Einschätzung nach an den Aktivitäten der Madres „nur“ wegen ihres Schmerzes über den Verlust Cuquis teil? Inwieweit identifiziert sie sich mit politischen Ideen, vor allem denen der Tochter?

Die Negrita besuchte ihre Tochter und deren Familie zweimal in der Woche. Die beiden jungen Leute waren ja blind und benötigten manchmal Hilfe. Die Negrita brachte ihnen Essen, begleitete sie außer Haus, half, wo und wann immer es ihr möglich war. Sie wusste, dass die beiden Mitglieder einer verbotenen Gruppe waren. Emilio, der Schwiegersohn, hatte einen Bruder, der sich vor dem Gefängnis in den Selbstmord geflüchtet hatte. Jeder damals wusste, dass die Menschen in den Gefängnissen auf brutale Weise gefoltert wurden. Die Negrita war sich all dieser Dinge sehr wohl bewusst. Anfangs war sie, so erzählte sie selbst, gegen die politischen Aktivitäten, weil sie spürte, dass sich ihre Tochter damit in Gefahr begab. Aber schließlich akzeptierte sie die Situation, weil sich Cuqui und Emilio liebten und die Negrita ganz genau wusste, dass sie die beiden nicht von ihrer Tätigkeit würde abhalten können. So respektierte sie mit der Zeit den Standpunkt ihrer Kinder und leistete ihnen Beistand. In dem Haus der beiden befand sich im oberen Stockwerk ein Zimmer, in dem das Paar Verfolgten ein Versteck bot. Das war ihr Beitrag, denn zu viel mehr waren sie wegen ihrer Blindheit nicht in der Lage. Die Negrita erzählte mir, dass sie oft beobachtete, wie Emilio das Essen, das sie mitgebracht hatte, nach oben in dieses Zimmer brachte, um es den Kameraden zu geben. Auf diese Art und Weise leistete auch die Negrita ihren Beitrag, vielleicht ohne politische Beweggründe. Sie verfugte zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht über breite politische Kenntnisse. Sie wusste außerdem nicht viel über die politischen Ziele der Gruppe, nur, dass sie für mehr Gerechtigkeit kämpfte.

Ihre eigene militante Haltung setzte mit der Suche nach ihrer Tochter nach deren Verschwinden ein. Die einzige Zuflucht bei der Suche fand sie bei den anderen Madres, Frauen, denen dasselbe Schicksal wie ihr widerfahren war. Sie begann, zu deren Versammlungen zu gehen und an den Aktivitäten teilzunehmen. Wie alle Madres ging sie zur Polizei, fragte wieder und wieder nach dem Verbleib ihrer Kinder, suchte Hilfe bei Menschenrechtsorganisationen, machte die Namen der Verschwundenen Leuten zugänglich, die ins Ausland reisten, tat alles, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. In Argentinien kannten wir diese Wahrheit ja selbst nicht. Die Madres ließen sich zu Konzentrationslagern führen, wo Menschen gefoltert und im Anschluss daran umgebracht worden waren. Einige Militärs haben von sogenannten Todesflügen berichtet, die darin bestanden, über dem Río de la Plata Leute aus Flugzeugen zu werfen, deren Leichen hin und wieder vor der Küste Uruguays auftauchten.

Die Negrita hat all dies am eigenen Leib erlebt. Sie hat heute den Wunsch, dass die Menschenrechte geachtet werden. Sie will vor allem nicht, dass ein Schmerz wie der ihre sich jemals wiederholt und einem anderen widerfährt. Ihr heutiges Engagement rührt, wie sie selbst sagt, aus ihrem Wunsch, dass keine andere Mutter jemals wieder weinen muss.

Was ist aus Iván, dem Sohn des blinden Paares, geworden? Wie hat er den Verlust seiner Eltern verarbeitet? In dem Film ist er nicht zu sehen.

Iván ist ein schüchterner und introvertierter junger Mann. Er hat unsere Präsenz akzeptiert, wollte aber an dem Filmprojekt nicht teilnehmen. Natürlich hat er sehr unter dem Verlust der Eltern gelitten, vor allem, was seine Mutter betrifft. Er hat als Kind oft geäußert, dass ihn seine Mutter alleine gelassen habe. Dieser Gedanke hat ihn sehr belastet. Keiner weiß, wieviel Ivän von der damaligen Verhaftung und Verschleppung seiner Eltern gesehen und begriffen hat, und welche Bilder sich ihm ins Unterbewusstsein gegraben haben… Er war damals ja gerade mal etwas älter als ein Jahr. Möglicherweise hat er grausame Dinge mit ansehen müssen. Iván lebt heute bei seiner anderen Großmutter und deren Familie, die weit weniger militant ist als die Negrita. Wir haben ihm natürlich angeboten, an dem Film mitzuwirken. Wir wollten ja auch nichts gegen seinen Willen in den Film aufnehmen und ihm diesen deshalb nach der Fertigstellung vorführen. Aber Iván hat sich nie bei uns gemeldet und wir respektieren seine Haltung. Er hat meines Wissens auch keinerlei Kontakt zu der Organisation „Hijos“, die sich nach dem Heranwachsen der Kinder der damals Verschwundenen vor nicht allzu langer Zeit gebildet hat, und für die gleichen Ziele wie die Madres kämpft.

In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es Diskussionen um Straffreiheit und Amnestie hinsichtlich der in der Diktatur verübten Verbrechen. Welche Haltung hat die Bevölkerung in Argentinien hierzu? Ist die Amnestie Deiner Ansicht nach Voraussetzung für eine erfolgreiche Demokratisierung des Landes oder, wie einige meinen, eher ein Hindernis?

Das Problem besteht darin, dass Armeen immer dazu geschaffen werden, die Macht einiger weniger zu verteidigen. Die Oligarchie bediente sich des Militärs, um die Verbrechen gegen militanten Gegner und deren Verschwinden zu systematisieren. Einige der Täter wurden in Argentinien im Anschluss an die Diktatur verurteilt, aber bereits in dem Wissen, dass man sie sowieso begnadigen würde. Die Täter von damals verteidigen vehement ihre Interessen. In meinem Land, wie in so vielen anderen auch, verschafft sich die Regierung trotz Problemen wie Arbeitslosigkeit, Hunger und defizitärem Sozialsystem ihre Sicherheit dadurch, dass sie das Militär und vor allem die Polizei verstärkt, und das, obwohl sich gezeigt hat, dass letztere sich an der organisierten Drogenkriminalität beteiligt. Die Regierung selbst ist in zahlreiche Korruptionsfälle verwickelt. Sie weiß zu verhindern, dass diese Fälle ernsthaft ver-

folgt werden. Die Straffreiheit hat sich in Argentinien mittlerweile vollständig gefestigt. Von vielen der verschwundenen Personen wird noch heute behauptet, sie hätten Selbstmord verübt, aber wir vermuten, dass sie ermordet wurden. Werden die Ermittlungen fortgeführt, könnte niemand vorhersagen, welche Personen überführt werden würden. Es ist ein Fass ohne Boden. Deshalb wird immer wieder von Selbstmord gesprochen, damit die Fälle nicht weiter untersucht, sondern eingestellt werden. Wir in Argentinien können nicht darauf hoffen, dass dieser – sagen wir – Völkermord eines Tages abgeurteilt wird. Es wurden ja auch „nur“ Befehle der Regierung ausgeführt. Deshalb kommt man an die Täter strafrechtlich nicht heran. Ich will die jetzige Regierung nicht des Genozids bezichtigen, aber sie hat Mörder begnadigt. Anstatt gleich nach dem Ende der Militärdiktatur einen Schlussstrich zu ziehen, nahm man sich zwei Jahre Zeit zur Verurteilung von Tätern, die dann später doch begnadigt wurden.

Wir in Argentinien glauben nicht mehr an den entschiedenen Willen, die Täter bestrafen zu wollen. Wir müssen dabei zusehen, wie eine Bestrafung immer unwahrscheinlicher wird. Die Organisation „Hijos“ fühlt regelmäßig Aktionen durch, um auf dieses Unrecht und die Täter von damals aufmerksam zu machen. Sie gehen zum Haus eines Mörders und beschmieren es mit Farbe. Solche Aktionen werden vorher über die Medien angekündigt. Die Polizei ist deshalb in der Regel bereits vor Ort. Es kommt häufig zu Auseinandersetzungen. So soll die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Thema gerichtet werden. Die Linke des Landes und verschiedene Menschenrechtsorganisationen sollten sich zusammentun, um auf diesem Gebiet weiter etwas zu bewirken. Eine Wiedergutmachung ist aber nicht möglich. Ein solch großer Schmerz kann auf keine Art wiedergutgemacht werden. Dennoch soll unser Film auch eine Art Wiedergutmachung sein, eine Wiedergutmachung, die es niemals geben kann.

Welchen Stellenwert hat das Thema heute in Argentinien?

Das Thema ist nicht zuletzt wegen der Untersuchungen des spanischen Richters Garzón, der nicht nur gegen Pinochet, sondern auch gegen einige argentinische Verbrecher, allen voran gegen Videla ermittelt, hochaktuell. Durch die Strafverfolgung im Ausland werden die Täter zu Gefangenen in ihren eigenen vier Wänden. Es handelt sich bei den begangenen Verbrechen um solche gegen die Menschlichkeit. Diese werden jetzt auch international geahndet. Das Militär fühlte sich in seiner Allmacht als Herr über Leben und Tod. Videla wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, trotzdem befindet er sich auf freiem Fuß und bewegt sich unangetastet durch die Straßen. Viele der Täter wurden nicht nur begnadigt, sondern stiegen auch in ihrem militärischen Grad auf. Wie kann man dies nur zulassen? Dies hinterlässt in unserer Gesellschaft tiefe Spuren. Die Menschen fühlen sich betrogen und übergangen. Deshalb nimmt dieses Thema innerhalb der Bevölkerung eine bedeutende Stellung ein. Da wird auch so bleiben. Es ist wie mit der Wahrheit, die, auch wenn man versucht, sie unter den Teppich zu kehren, immer wieder nach oben drängt und ans Licht kommt.

Findet eine Diskussion auch innerhalb der Armee statt?

Es gab innerhalb des Militärs Leute, die ihre Aussagen vorbereiteten und ankündigten. Sie wurden jedoch aus dem Militär entfernt. Es gab vor nicht allzu langer Zeit auch Fälle von ehemaligen Militärs, die wohl von ihrem Gewissen geplagt, aussagten, an den oben geschilderten Todesflügen teilgenommen zu haben. Einer von ihnen machte eine Aussage vor Richter Garzón in Madrid. Er wurde verhaftet, später aber begnadigt. Das Wichtige war jedoch, dass er mit seiner Aussage den sogenannten „Pakt des Schweigens“ durchbrochen hat. Vorher hatte es ja keinerlei Aussagen seitens des Militärs über die Todesflüge gegeben. Bei den von mir geschilderten Fällen handelt es sich aber leider nur um Einzelfälle. Noch immer hängt das Foto Videlas in den Unterrichtsräumen der Militärschulen. Ich weiß daher wirklich nicht, inwieweit sich die Mentalität des Militärs überhaupt geändert hat. Es liegt jedenfalls noch ein weiter Weg vor uns, was die Aufarbeitung der Diktatur betrifft.

Wie wurde schließlich aus dem so lange besetzten Haus ein Menschenrechtszentrum?

Das Haus war über siebzehn Jahre vom Militär besetzt. 1994 wurde es der Negrita zurückgegeben. Ich war bei dieser Übergabe dabei und wartete auf der Straße. Man hatte mir gesagt, ich könne nicht mitkommen. Die Negrita wischte sich ihre Tränen aus den Augen, bevor sie das Haus zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder betrat. Nach der Übergabe kam sie zu mir, umarmte mich und sagte: „Ich habe nicht gefunden, wonach ich gesucht habe.“ Sie meinte damit die Tochter. Das war die ganze Zeit so etwas wie eine trügerische und vom Schmerz genährte Hoffnung. Das Haus gehört jetzt Iván. Ein Rechtsanwalt hat es für wenig Geld angemietet. Heute werden dort regelmäßig Veranstaltungen über Menschenrechte abgehalten. Das Haus ist zu einem Ort des Gedenkens und der Erinnerung geworden. Osvaldo Bayer hat es in seinem Artikel mit dem „Anne-Frank-Haus“ verglichen. Es ist also so etwas wie das „Anne-Frank-Haus“ Argentiniens.

Das Interview wurde am 27. Oktober 1998 von Heidrun Zinecker, Peter Gärtner und Anja Jaramillo in Leipzig geführt.

Übers. aus dem Span.: Anja Jaramillo

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