Am 5. August 2016 wird nicht die gewählte Präsidentin des Gastgeberlandes Brasilien, Dilma Rousseff, die Olympischen Spiele feierlich eröffnen, sondern ihr Vize Michel Temer. Dieser scheinbar nebensächliche Rollentausch symbolisiert eine tiefe Krise des größten lateinamerikanischen Landes. Gegen Dilma Rousseff läuft derzeit ein Amtsenthebungsverfahren (Impeachment), das inzwischen das ganze Land spaltet. Es geht dabei aber nicht nur um die Präsidentin und ihre Partei, den PT, denen Amtsmissbrauch und Korruption vorgeworfen werden. Die PMDB von Michel Temer und andere Parteien stecken mindestens genauso tief im Sumpf der Korruption. Gegen 60 Prozent der 594 Abgeordneten und Senatoren laufen derzeit strafrechtliche Ermittlungen. Dieser systemische Defekt der brasilianischen Demokratie verweist auf grundsätzliche Defizite, die nun – bedingt durch die nicht minder tiefe Wirtschaftskrise – aufbrechen.
Die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren hat der siebtgrößten Wirtschaft der Welt 2015 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 3,8 Prozent beschert. Die Prognose von 4 Prozent für 2016 verspricht keine schnelle Besserung. Was verbirgt sich hinter dieser multiplen Krise, die das einst so erfolgreiche Schwellenland aus der Bahn geworfen hat? Welchen Anteil haben die seit 2003 regierenden Links-Mitte-Regierungen unter Luiz Ignacio (Lula) da Silva (2003-2011) und Dilma Rousseff (seit 2011) an der Krise? Und welche Konsequenzen leiten sich aus all dem für die Zukunft des Landes ab? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, verweisen die nachfolgenden Überlegungen auf Aspekte und Dimensionen der Krise, die derzeit im Getöse der medialen Berichterstattung kaum Beachtung finden.
Wer hat versagt?
Der Haupttenor der öffentlichen Debatten in Brasilien wie hierzulande zielt auf eine Personifizierung der Schuldfrage und die anschließende Skandalisierung der vermeintlich Schuldigen. Je nach politischem Interesse stehen entweder die Linken in Brasilien (Dilma, Lula, PT) bzw. Lateinamerika (meist mit Verweisen auf Cristina Kirchner in Argentinien und Nicolás Maduro in Venezuela) oder die gesamte politische Klasse des Krisenlandes am Pranger. Kritiken am Kurs der Regierungen von Lula und Dilma, die z. T. schon lange zuvor von anderen Linken vorgebracht worden waren, scheinen nun zum Allgemeingut zu gehören: Die Fixierung auf Extraktivismus und Rohstoffexport seien ebenso falsch gewesen wie die Umverteilungspolitik der Regierung. Diese Argumente reihen sich in einen Diskurs der Rechten ein, nach dem seit 2003 alles in die falsche Richtung gelaufen sei, weshalb nun eine Wende um 180 Grad (wie unter Mauricio Macri in Argentinien) anstehe: straffe Austeritätspolitik, Streichung der Sozialprogramme, Abschaffung der Quotenregelung an den Universitäten für Schwarze und Indigene, Entkoppelung von Rente und Mindestlohn, Anhebung des Rentenalters, Einschränkung der gewerkschaftlichen Rechte bis hin zur Verfassungsänderung etc.
Dazu drei Bemerkungen: Erstens tragen Dilma, Lula und die Arbeiterpartei (PT) einen Teil der Schuld an der jetzigen Krise. Während des „Konsenses der fetten Jahre“ (2004-2011) haben sie zu sehr auf Kompromisse mit den alten Eliten, dem Agrobusiness und den Multis gesetzt und notwendige, aber umstrittene Strukturreformen (v.a. die Agrarreform; Förderung einer umweltschonenden Wirtschaft) vernachlässigt oder auf die lange Bank geschoben. Sie haben darauf gehofft, dass der Rohstoffboom weiter anhält und sie ihre fortschrittliche Sozial- und Bildungspolitik auf dieser Grundlage finanzieren können. Jeder Linksregierung muss aber klar sein, dass es für die notwendigen Veränderungen, die sie im Interesse der Bevölkerungsmehrheit anstrebt, nur ein begrenztes Zeitfenster gibt. Neben dem politischen Geschick bedarf es einer klaren Programmatik, die der eigenen Basis und den potentiellen Wählern in einer Weise zu vermitteln ist, dass sie dafür auch mobilisiert werden können. Positive Beispiele dafür haben Bolivien unter Evo Morales, Ecuador unter Rafael Correa und Venezuela unter Hugo Chávez geliefert.
Zweitens sind die Schuldzuweisungen, die seitens der Rechten vorgebracht und medial verstärkt werden, zumeist scheinheilig und einseitig. Sie dienen als „Munition“ in einem erbitterten Machtkampf, bei dem die Gegner linker Politik arbeitsteilig vorgehen. Dies beginnt mit der Skandalisierung der Korruption, die systemisch ist, aber selektiv gegen bestimmte Personen instrumentalisiert wird, und endet in der generellen Diffamierung linker Projekte als utopisch, nicht finanzierbar und ideologisch verblendet. Die Kontrolle über die Medien, die Macht, die Spielregeln selber setzen und interpretieren zu können, die Nutzung formeller und informeller Netzwerke, die enormen Möglichkeiten wirtschaftlicher Einflussnahme dienen der Vermittlung und Durchsetzung der eigenen Interessen. Kompromisse, die dabei mit (bestimmten) Linken eingegangen werden, sind zeitlich und inhaltlich sehr begrenzt.
Drittens löst die als Alternative zum Versagen der Linken propagierte Politik keines der strukturellen Probleme, die zu diesem Scheitern geführt haben. Im besten Falle gelingt Temer & Co. eine (bessere?) Anpassung an die „Finanzmärkte“ und die „Weltwirtschaft“. Mit dem Verweis auf die Übermacht der Ökonomie und deren Sachzwänge können unpopuläre Maßnahmen durchgedrückt werden. Die Frage, wohin diese Anpassung mittel- und langfristig führt, wird damit grundsätzlich ausgeblendet. Vielleicht können die Gegner von Dilma auch darauf hoffen, dass die von ihnen vollzogene Wiedereinordnung in den neoliberalen Mainstream ökonomisch (durch mehr ausländische Direktinvestitionen, Freihandelsabkommen, bessere Rankings) oder politisch (verbesserte Beziehungen zu den USA) belohnt werden.
Derartige Hoffnungen spielen auch in den politischen und medialen Debatten über die brasilianische Krise eine wichtige Rolle. Der Bevölkerung wird suggeriert, dass rechte, wirtschaftsnahe Akteure eher in der Lage sind, das Wohlwollen der „wirklich Mächtigen“ dieser Welt zu erlangen.
Der dritte Punkt bringt eine Dimension ins Spiel, die eine nähere Betrachtung verdient. Inwiefern kann oder muss die Krise Brasiliens als Krise des Gesamtsystems oder systemrelevanter Teile des globalen Kapitalismus verstanden werden? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen zumindest drei Analyseebenen beachtet werden: Brasilien lässt sich als (a) Teil der lateinamerikanischen Linkswende, (b) Mitgliedsland der BRICS bzw. wichtiges Schwellenland oder (c) Teil des kapitalistischen Weltsystems einordnen. Aus dieser Perspektive wäre die Krise des Landes Teil größerer Krisen, sofern sich solche Krisen auch wirklich feststellen lassen. Mit Blick auf Argentinien und Venezuela sollte die brasilianische Krise zunächst in diesem Kontext diskutiert werden. Zieht man den Bogen weiter und betrachtet sich die derzeitige Situation der BRICS-Staaten, zu denen Brasilien bekanntlich gehört, dann muss auch dieser Bezug bei der Krisenanalyse beachtet werden. Last not least befindet sich die gesamte Weltwirtschaft seit 2008 in der tiefsten Krise seit 1930, weshalb auch diese globale Ebene unbedingt zur Betrachtung der brasilianischen Krise gehört. Alle drei Deutungsmuster sind eng miteinander verknüpft und können deshalb nur zusammen eine plausible Gesamterklärung liefern.
Erstens: Der lateinamerikanische Kontext
Brasilien ist das größte Land Lateinamerikas und wird seit 2003 von Mitte-Links-Koalitionen regiert. Wie andere Länder der Region, in denen ähnliche Regierungen die Amtsgeschäfte übernommen haben, vollzog sich diese partielle Abwendung vom Neoliberalismus unter folgenden Bedingungen: Erstens hatten die neoliberalen Reformen in der gesamten Region die soziale Polarisierung verstärkt und bei „Musterschülern“ wie Argentinien (2001/2002) oder Bolivien (2000-2005) zu tiefen Krisen geführt. Zweitens hatten sich auf diesem Nährboden Unzufriedenheit und Proteste entwickelt, die sich in sozialen Bewegungen (Bolivien, Ecuador) bzw. Staatskrisen (Argentinien, Venezuela) Bahn brachen. In dieser 1999 einsetzenden kontinentalen Trendwende kamen auch linke Parteien an die Regierung, die stärker auf Koalitionen mit anderen Kräften angewiesen waren. Dazu zählt auch der PT, der trotz der Direktwahl „seiner“ Präsidenten Lula und Dilma keine eigenen Mehrheiten im Parlament hatte.
Eines ist jedoch allen Links(-Mitte-)Regierungen Lateinamerikas gemeinsam: Allesamt setzten sie auf den globalen Rohstoffboom und profitierten von ihm. Den auf dieser Basis erreichten wirtschaftlichen Erfolg und die daraus erzielten Einnahmen wurden für Sozial- und Bildungsprogramme genutzt, in deren Ergebnis sowohl der Anteil der Armen an der Bevölkerung als auch die soziale Polarisierung abnahmen. Gerade für Brasilien, das in Hinblick auf die Polarisierung zwischen Arm und Reich lange an der Weltspitze stand, stellen diese Verbesserungen einen großen Erfolg dar.
Mit dem Fall der Rohstoffpreise (seit 2011) ist das gesamte Modell des umverteilenden Neo-Extraktivismus jedoch in die Krise geraten und funktioniert nicht mehr. Die Abhängigkeit von Rohstoffen trifft zwar nicht nur auf Lateinamerika, sondern auch auf Schwellenländer in anderen Weltregionen zu. Nichtdestotrotz liegt hier der Anteil der Rohstoffexporte an den Auslandseinnahmen deutlich höher und betrifft zudem die wichtigsten Länder der Region (Tabelle 1).
Rang | Land | Anteil | Rang | Land | Anteil |
1 | Venezuela | 92,5 | 11 | Thailand | 19,0 |
2 | Chile | 67,4 | 12 | Polen | 18,7 |
3 | Russland | 65,0 | 13 | Türkei | 18,1 |
4 | Argentinien | 53,3 | 14 | Rumanien | 17,7 |
5 | Brasilien | 51,4 | 15 | Kroatien | 15,8 |
6 | Indonesien | 48,5 | 16 | Ungarn | 14,2 |
7 | Südafrika | 44,3 | 17 | Philippinen | 10,5 |
8 | Malaysia | 32,2 | 18 | Tschechien | 9,9 |
9 | Indien | 22,6 | 19 | Taiwan | 5,8 |
10 | Mexiko | 20,1 | 20 | China | 5,7 |
Quelle: Fitch |
Die Ressourcenfalle, in der sich Lateinamerika wieder einmal verfangen hat, reicht weit in die Geschichte des Kontinents zurück. Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die daraus resultierenden strukturellen Zwänge (Pfadabhängigkeit) aufgebrochen werden können. Aufgrund seines wirtschaftlichen Potentials besitzt Brasilien von allen Ländern Südamerikas die besten Voraussetzungen, die entscheidenden Schritte hin zu einer nachholenden Industrialisierung einzuleiten. Ein unverzichtbarer Schlüssel dafür liegt in der Durchführung einer längst fälligen Agrarreform. Diese muss auf folgende Ziele gerichtet sein:
(1) Ausreichende Bereitstellung von Land für landlose Familien, um den Kolonisierungsdruck von den tropischen Regenwäldern Amazoniens sowie den Savannen (Gran Chaco; Cerrado) zu nehmen, um damit der Entwaldung entgegen zu wirken.
(2) Auf dieser Basis Förderung einer solidarischen und ökologisch verträglichen Landwirtschaft, mit der die Ernährungssouveränität Brasiliens gesichert werden kann.
(3) Neustrukturierung der landwirtschaftlichen Produktion mit weniger Monokulturen und Agrobusiness (Soja-Komplex) zugunsten kleinerer Betriebe und größerer Diversität.
Diese Zielsetzung der Agrarreform ist nicht nur sozial und ökologisch, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Damit könnte die Kaufkraft auf dem Binnenmarkt gestärkt und die Industrialisierung vorangetrieben werden. Dass eine solche Strukturreform trotz des großen Druckes von unten auch unter Lula und Dilma blockiert wurde, zeugt von zweierlei: vom enormen Einfluss der Allianz aus traditioneller Elite, Agrobusiness und Multis sowie von der mangelnden politischen Bereitschaft der Regierungslinken, das für einschneidende Veränderungen erforderliche Bündnis mit den sozialen Bewegungen zu schmieden. In der jetzt von rechts zugespitzten Situation besteht die – vielleicht einmalige – Chance, in Verteidigung der bisherigen Errungenschaften eine Mehrheit für einen Umbruch von links zu formieren. Ein Schlüsselproblem besteht darin, wie die gespaltenen Mittelschichten für ein linkes Alternativprojekt gewonnen werden können. Hierfür könnte die Anerkennung, die Lula immer noch genießt, ein wichtiger Ausgangspunkt sein. Zusätzlich bedarf es aber dennoch einer personellen und inhaltlichen Erneuerung der politischen Linken. Ob diese Herausforderung erkannt und angenommen wird, müssen die nächsten Entwicklungen zeigen. Eine reale Chance besteht allemal.
Zweitens: BRICS und die Krise in der Semiperipherie
Brasilien bildet zusammen mit Russland, Indien, China und Südafrika die Gruppe der BRICS. Die ursprünglich 2001 von Goldman-Sachs ins Spiel gebrachte Gruppe der BRICs (damals noch ohne Südafrika) faßte diejenigen grossen Schwellenländer zusammen, von denen erwartet wurde, dass sie bis 2030 zu den alten Industrieländern aufschließen würden. Daraus entstand ein politischer Klub, der 2009 in Russland seinen ersten Gipfel abhielt und dem seit 2011 Südafrika angehört. Die jährlichen Treffen der Staatschefs der fünf Länder dienten nicht nur der Vertrauensbildung, sondern auch der schritttweisen Institutionalisierung des nunmehr politischen Bündnisses. Bisheriger Höhepunkt war die Gründung einer eigenen Entwicklungsbank – New Development Bank (NDB). Der entsprechende Beschluss wurde auf dem 6. BRICS-Gipfel in Fortaleza (Brasilien) gefasst. Inzwischen wurde die NDB Anfang 2016 in Shanghai unter indischer Präsidentschaft eröffnet. Politisch verstehen sich die BRICS als Reformer und in diese Eigenschaft auch als Herausforderer der westlich dominierten Weltordnung. Ihr gemeinsames Ziel besteht in der Durchsetzung einer multipolaren Weltordnung. Dazu nutzen sie sowohl ihre kollektive Zugehörigkeit zur Gruppe der 20 als auch ihr eigenes Gewicht als Aufsteiger.
Dieses Gewicht ist natürlich in starkem Maße von der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Stabilität der BRICS abhängig. In dieser Hinsicht stellt Brasilien derzeit das schwächste Kettenglied im Fünferklub dar. Dessen einzelnen Mitglieder sind in unterschiedlicher Weise von der derzeitigen globalen Krise betroffen. Während Indien und China weiterhin Wachstumsraten zwischen sechs und sieben Prozent erwarten lassen, haben die anderen drei Länder tiefe Einbrüche zu verzeichnen. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass nicht nur Brasilien, sondern auch Russland und Südafrika in hohem Maße von Rohstoffexporten abhängig sind. Russland leidet zudem unter den Auswirkungen des im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise von der EU verhängten Wirtschaftsembargos.
Der Preissturz auf den globalen Rohstoffmärkten liegt in der stark gesunkenen Nachfrage begründet. Sowohl die Industrieländer als auch China haben ihre Importe aus Brasilien reduziert. Inzwischen (2015) gehen 18,6 Prozent aller brasilianischen Exporte nach China, gefolgt von der EU (17,8 Prozent) und den USA (12,7 Prozent; alles Angaben des IWF). Die Exporte nach China setzten sich 2014 zu 80 Prozent aus Sojaprodukten, Eisenerz und Rohöl zusammen.
An dieser Stelle wird deutlich, welche Rolle China im derzeitigen System der Weltwirtschaft zukommt. Für die Rohstoffexporteure unter den Schwellenländern (siehe Tabelle 1) war es ein bevorzugter Markt. Zudem hat die anhaltende Nachfrage Chinas nach Rohstoffen maßgeblich dafür gesorgt, dass die Preise dafür in die Höhe gingen. Für die Industrieländer stellt China wegen der Größe seines Marktes eine gefragte Adresse für ausländische Direktinvestionen dar. Umgekehrt liefert die Volksrepublik billige Massengüter für den Weltmarkt. Vor allem die USA, die wegen der Stellung des Dollars als globale Leitwährung gegenüber einer wachsenden Verschuldung gelassen bleiben können, profitieren von dieser Art der Arbeitsteilung. Gegenüber den Entwicklungsländern hat sich China inzwischen als wichtiger Investor und Geber von Entwicklungshilfe profiliert (besonders in Afrika). Auch in Lateinamerika finden chinesische Kredite großen Anklang. Insgesamt flossen von 2005 bis 2014 118,7 Milliarden US-Dollar nach Lateinamerika, davon 22 Mrd. nach Brasilien, das damit an zweiter Stelle liegt. Davor kommt nur noch Venezuela mit 56,3 Mrd. US-Dollar. Nach Sektoren liegt Brasilien im Energiebereich vorn (12,2 Mrd.), bei der Infrastruktur Venezuela mit 28,4 Mrd. (Gallanger & Myers).
Dieses System der Arbeitsteilung zwischen Industrieländern, die das Zentrum der Weltwirtschaft bilden, Schwellenländern an der Semi-Peripherie (BRICS, Mexiko, Argentinien, Türkei, Südkorea, Indonesien u. a.) und Entwicklungsländern (Peripherie) gerät mit der Reorientierung Chinas auf den eigenen Binnenmarkt aus der Balance. Hinzu kommen die Auswirkungen der globalen Rezession, die Euro-Krise und der Brexit. Die Semi-Peripherie der Schwellenländer, die 2008/09 noch mit einem blauen Auge davon gekommen waren und die mit ihren Konjunkturprogrammen auch die Weltwirtschaft vor Schlimmerem bewahrt haben, drohen nun selbst zu einem neuen Brandherd der Weltwirtschaftskrise zu werden.
Die BRICS, die sich durch eine hohe Bevölkerungszahl, ein großes Territorium und regionale Bedeutung auszeichnen, könnten nun dem chinesischen Kurs folgen und sich auf ihre Märkte konzentrieren. Allein in Brasilien entfallen 80 Prozent des BIP auf den eigenen Binnenmarkt. Die oft bemängelte Unterschiedlichkeit der Wirtschaftsstrukturen könnte dabei von Vorteil sein.
Drittens: Von der Weltwirtschaftskrise zur Zivilisationskrise
Gegenwärtig haben wir es aber nicht nur mit einer Krise der Semi-Peripherie, sondern mit einer Krise der Weltwirtschaft zu tun. Für rund 80 Billionen US-Dollar werden jährlich weltweit Waren produziert und Leistungen erbracht. Bei einem realen geschätzten Geldvermögen, das etwa doppelt so hoch ist wie die Jahreswirtschaftsleistung, gerät die kapitalistische Verwertungslogik ins Stottern und sucht im Vorantreiben von Finanzspekulationen einen Ausweg, der aber die Kluft zwischen Realwirtschaft und Finanzkapital nur noch weiter vertieft. Wenn nun noch die „chinesische Lokomotive“, die bisher krisendämpfend gegengesteuert hat, wegen halbierter Wachstumsraten und der Reorientierung auf den eigenen Binnenmarkt ausfällt, dann stößt das globalkapitalistische System an eine inhärente Grenze. Hinzu kommen planetarische Grenzen, die sich in Umwelt-, Klima- und Ressourcenkrisen bzw. -kriegen äußern.
Aus dieser Perspektive ist die brasilianische Krise Teil einer globalen Krise, die zwar in der Weltwirtschaftskrise ihre derzeit akute Zuspitzung erfährt, zugleich aber darüber hinausgeht. Vom Standpunkt des Post-Extraktivismus handelt es sich „um eine umfassende Zivilisationskrise“, die „deutlich über Diagnosen einer Wirtschafts- und Finanz- oder multiplen Krise hinaus(geht)“ (Brand 2016:3). Der in Lateinamerika entwickelte Diskurs des Post-Extraktivismus kritisiert den „westliche(n) Fortschrittsglaube(n) der Moderne, das damit verbundene Wachstumsparadigma, das Verständnis von Natur als auszubeutender Ressource, autoritäre und vertikale politische Herrschaftsmuster sowie die asymmetrische Weltmarktintegration“ (ebenda:2).
Diese allgemeine Kritik des antizivilisatorischen Wesens des Kapitalismus findet in der brasilianischen Krise einen exemplarischen Fall. Als größtes Land Lateinamerikas, zu dem mit 63 Prozent weite Teile des Amazonasbeckens gehören und dessen Wirtschaftsmodell auf Ressourcenplünderung beruht, verkörpert das gegenwärtige Brasilien die oben genannten Kritikpunkte in geradezu paradigmatischer Weise.
Dies kann anhand des Zusammenhangs zwischen Agrarexport und Entwaldung verdeutlicht werden.
Brasilien ist mit Agrarexporten im Wert von 89,5 Mrd. US-Dollar (2013) der weltweit zweitgrößte Agrarexporteur. Beim Export von Zucker, Kaffee, Orangensaft, Soja, Alkohol und Geflügel hat das Land den Spitzenplatz inne. Beim Rindfleischexport liegt es auf dem dritten Platz. Allein von 1992 bis 2006 hat sich die Zahl der Rinder von 34 Mio auf 73 Mio fast verdoppelt. Auch die Sojafläche hat sich in Brasilien seit 2000 auf 26,7 Mio ha verdoppelt. Inzwischen ist mit der Ölpalme eine zweite Agrarfront entstanden (Suchanek/ Hess 2014, S. 212). Rinderzucht, Sojaanbau und Palmölplantagen gehören neben dem illegalen Holzeinschlag, der Errichtung von Megaprojekten sowie dem Straßenbau zu den Hauptursachen der Entwaldung Amazoniens (Fatheuer). 2012 dienten in Brasilien die illegal gerodeten Flächen von insgesamt mehr als 500.000 ha als Rinderweiden (ca. 3/5) oder Sojafelder (2/5). Im gleichen Jahr importierte die EU Waren (Rindfleisch, Soja und Leder) im Wert von 3,7 Mrd Euro, die auf diesen Flächen angebaut worden waren (FERN 2015). Zählt man noch die Flächen hinzu, die der Eisenerzförderung (Brasilien ist der größte Exporteur von Eisenerz) und dem Bau von Straßen zur Erleichterung der Exporte zum Opfer fallen, dann bekommt man eine Vorstellung, wie groß die unersetzbaren Verluste an Lebensraum, Biodiversität und Kohlenstoffsenken sind, die dem Extraktivismus allein in Brasilien zum Opfer fallen. Die genannten Agrarexporte gehen alle in große Industrie- und Schwellenländer: Der Zucker und das Rindfleisch vor allem nach Russland, das Soja nach China und in die EU, der Orangensaft nach Belgien, der Kaffee in die USA und das Geflügelfleisch nach Japan.
Angesichts dieses Ressourcen fressenden und die Umwelt zerstörenden Wirtschaftsmodells, das die imperiale Produktions- und Lebensweise der Industrieländer mit den notwendigen Gütern versorgt, bietet die derzeitige Krise auch eine Chance. Der Putsch der alten Eliten hat nicht nur das Land gespalten, sondern auch das ganze politische System erschüttert und beschädigt. Die Mehrheit der Brasilianer weiß, wie korrupt Temer & Co. sind und sie deshalb auch keine Alternative darstellen. Es liegt bei den linken Kräften, sich glaubwürdig zu erneuern und einen grundsätzlichen Wandel aufzuzeigen. Die „alten“ Linken haben gezeigt, wie es nicht geht. Eine neue Linke muss daraus lernen und die Konsequenzen ziehen. Wenn sie die wahren Dimensionen der gegenwärtigen Krise und deren globale Einbettung begreift, ist ein erster Schritt getan. Wenn ein Gigant wie Brasilien unter dem notwendigen Druck von links-unten erst einmal in Bewegung kommt, können nicht nur die Brasilianer hoffen.
Hingegen hätte ein Sieg der Putschisten schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen – nicht nur für das Land. Bereits jetzt sind ein rascher Verfall der politischen Kultur und eine schwere Beschädigung der demokratischen Institutionen zu konstatieren. Die von Temer & Co. angestrebte Rückkehr zum Hard-Core-Neoliberalismus würde die Krise noch verschärfen. Bereits jetzt sind Millionen von Brasilianern, die sich dank der Massnahmen der PT-Regierungen von der Armut befreien konnten, von einem Rückfall in diesselbe bedroht. Viel wird davon abhängen, ob die Menschen auf der Straße und in den Favelas begreifen, worum es nun geht. Die „fetten Jahre“ sind vorbei. Von jetzt an kann niemand mehr die alten und neuen Probleme unter den Teppich kehren. Wenn das Land aus der Krise heraus kommen will, dann sind einschneidende Veränderungen notwendig. Die Frage ist, in welche Richtung und durch wen diese eingeleitet werden. Insofern wird Brasilien auch nach den Olympischen Spielen im Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen.
Literatur
Brand, Ulrich: Post-Extraktivismus, 12. Juli 2016; unter: http://www.degrowth.de/wp-content/uploads/2016/06/DIB_Post-Extraktivimus.pdf
Fatheuer, Thomas: Die Ursachen der Entwaldung in Amazonien – ein kurzer Überblick. Unter: http://www.degrowth.de/wp-content/uploads/2016/06/DIB_Post-Extraktivimus.pdf
Gantner, Urs: Brasiliens Landwirtschaft im Vorwärtsgang, in: Agrarforschung Schweiz, 4 (2013) 2, S. 96-98; unter: http://www.agrarforschungschweiz.ch/artikel/2013_02_1845.pdf
Suchanek, Norbert/ Hess, Stefanie: Agrarproduktion – treibendeKraft für Tropenwaldzerstörung, in: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 210-214; unter: http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2014/KAB2014_210_214_Suchanek_Hess.pdf
Konsumgüter und Entwaldung. FERN, März 2015; unter: http://www.fern.org/sites/fern.org/files/fern%3D_summary_german.pdf
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Bildquelle: [1] Catalytic Communities_; [2]-[4] Agencia Brasil