Charnia heißt das soeben erschienene Debüt des in Leipzig ansässigen Schlagzeugers, Komponisten und Dozenten Pablo Tarantino (Buenos Aires, 1983). Flankiert wird Tarantino von Musikern aus der Jazzszene der sächsischen Metropole: Roman Polatzky am Altsaxophon, Emmanuel Walter am Klavier und Max Müller am Bass. Die Platte besteht aus insgesamt neun Stücken, von denen acht von dem Schlagzeuger stammen – der auch für die Produktion und Gestaltung sowie das Coverartwork verantwortlich war. Der Albumtitel bezieht sich gewiss auf die paläontologische Entdeckung, die 1958 im Charnwood Forest (Leicestershire, England) gemacht wurde, und zwar auf das Fossil eines malerischen farnblattähnlichen Lebewesens, das vor mehr als 550 Millionen Jahren während des Ediacariums den Meeresboden bewohnte.
Pablo Tarantino, welcher seit seinen frühen Jugendjahren immer wieder den Wohnort gewechselt hat, bietet uns eine Reise durch die Mäander des Lebens, von seinem Anfang (Charnia) bis zu seinem Ende (The End of evolution), sowohl auf Volks- (Canto a la Telesita) als auch persönlicher Ebene (Alma canta, Song for Terezihna), in seinen Schwankungen (The uproot, Accept and surrender) und in seinen Momenten der relativen Ruhe und Besinnung (The right path, Train by the sea).
Den Auftakt gibt das gleichnamige Charnia, ein Stück, das von den ersten Takten an die Idee von Entstehung und Werden vermittelt. Nach einer Einleitung, in der das Geräusch von Wind und Wasser heraufbeschworen wird, beginnt sich eine Melodie im Saxophon zu bilden. Dicht gefolgt vom Bogen des Kontrabasses, schnellen Walzen des Schlagzeugs und kristallinen Klavierarpeggios, definieren sich nun einige Schritte. Das Wesen ist in Bewegung und eines ist nun klar: die ersten Augenblicke des Lebens sind zerbrechlich und voller Unschuld zugleich.
Dieser sehr evokativen Darstellung des Entstehens und der Endlichkeit des Lebenszyklus folgt Alma canta, ein kraftvolles Stück im Tempo einer raschen Milonga, mit dem sich das Quartett im Unisono präsentiert – zweifelsohne das plötzliche Erwachen nach einem tiefen Schlaf. Hier skizziert sich eine Melodie am Sax mit kontrastierenden Akkorden des ums Wort bittenden Klaviers, dessen Zugeständnis zu einem wunderschönen Solo von Walter führt. Danach kehrt Polatzty voller Variationen zum Thema zurück und schafft so einen Raum für das gesamte Quartett. Dieses intensive Stück weicht dem Song for Terezinha, das wohl melancholisch beginnt, bevor ein Klavier-Ostinato einen dynamischen Wechsel andeutet, was Tarantino bereitwillig annimmt und durch ein Crescendo seine Mitstreiter ermuntert, sich frei zu entfalten, bevor es schließlich zur Ruhe kommt.
Die folgenden vier Titel können als eine Art Suite verstanden werden. The End of evolution, quasi der erste Satz, ist ein Stück, das trotz seiner geringen Dauer eine große Dramatik vermittelt. Nach einem abschließenden crescendo schloss sich The uproot an, welches zwar in den ersten Takten noch einen Hauch von Bedauern mit sich bringt, sich aber für einige Momente in eine eher optimistische Ballade verwandelt. Nach Rückkehr des Themas wird die anfängliche Stimmung diesmal durch einen Aufstieg übersprungen, der zu einem echten Zusammenbruch führt. Eine Klavierlinie taucht aus der Ekstase auf, rettet das Thema und lädt den Rest der Musiker ein, sich zusammenzureißen und wieder vorwärts zu gehen. Accept and surrender ist wiederum ein kurzes aber sehr intensives Solo-Schlagzeug-Stück, das wohl die äolischen Effekte des Schlusssatzes von Frederik Chopins zweiter Klaviersonate beschwört. Das ebenso kurze Stück The right path schließt sich nahtlos an, in dem der Bass eindringt, Fragen stellt und langsam in den letzten Satz, Train by the sea, übergeht. Nach ein paar Takten für das Saiteninstrument kommen die restlichen Musiker wieder zusammen. Das Ergebnis ist eine immer intensiver werdende Ballade, die eine Lokomotive in zunehmender Bewegung zu setzen scheint.
Das Album schließt mit Canto a la Telesita, dem einzigen Stück des Albums, das nicht aus Tarantinos Feder stammt. Dieses von Rolando Valladares und José Augusto Moreno geschriebene Stück wurde ursprünglich als Hommàge an Telésfora Castillo konzipiert – jenes junge Mädchen aus Santiago del Estero, welches Ende des 19. Jahrhunderts lebte und durch seine Vorliebe für den Tanz und seinen tragischen Tod zu einer Legende wurde. Tarantinos Bearbeitung für sein Quartett ist eine große Bereicherung für diesen Titel des nordargentinischen Volksrepertoires und ergänzt die Arbeiten anderer seiner Landsleute. Hierbei sind zwei Versionen zu erwähnen, die im Abstand von etwa einem Jahrzehnt veröffentlich wurden. Einerseits die Version von Chango Farías Gómez (Rompiendo la red, 2003), die das Vidala-Tempo beibehält – dafür hauptsächlich mit elektrischen Instrumenten ausgeführt wird. Andererseits die Fassung des Pianisten Hernán Ríos (Volviendo desde mí, vol. 2, 2013), der das Stück im Zamba-Tempo und mit Solo-Piano präsentiert. Tarantino entscheidet sich für das Vidala-Tempo und schöpft mit großem Geschick die instrumentalen Möglichkeiten seines akustischen Quartetts aus, als handele es sich um einen Jazz-Standard, und schafft dabei vielfältige Räume für sein Quartett, um weiterhin seine hohe interpretatorische Qualität zu beweisen.
Kurz gesagt, Charnia ist ein warmes und persönliches, gleichzeitig dramatisches und offenes Album mit höchst originellen Werken und Arrangements – sowie mit einer fantastischen Klangqualität. Die neun Stücke, aus denen sich das Album zusammensetzt, zeugen nicht nur von der individuellen Virtuosität dieser vier hervorragenden Musiker, sondern auch von der gelungenen Chemie im Aufnahmestudio. Dieses vortreffliche Debütalbum ist ein Vorbote einer überaus vielversprechenden Karriere und lässt uns sehnsüchtig auf weiteres Material warten. In der Zwischenzeit ist man mehr als gut versorgt.
Pablo Tarantino Quartet
Charnia
PKmusik, 2024
Bildquelle: [1] CoverScan