An einem 10. Dezember, vor 40 Jahren, wurde die Demokratie nach sieben blutigen Jahren Diktatur in Argentinien wiederhergestellt. In diesem Zeitraum kam es zu Unterdrückungsmaßnahmen, die von der Einschränkung der individuellen Freiheit, der Zensur im kulturellen Bereich und der Ausschaltung des Nationalparlaments bis hin zur Entführung, Ermordung und zum Verschwindenlassen von politischen Dissidenten reichten. Insgesamt hinterließ der als „Nationaler Reorganisationsprozess“ bezeichnete Plan der Militärjunta nicht nur bei den direkten Opfern und ihren Angehörigen, sondern auch in der breiten argentinischen Gesellschaft tiefe Spuren. Infolgedessen erfordert die Wiederherstellung der Demokratie nicht nur den Wiederaufbau von Formen der politischen Organisation, sondern auch die Entwicklung von Strategien, um zerbrochene soziale Bindungen wiederherzustellen, die Art und Weise der politischen Beteiligung zu überdenken und zu versuchen, die Verbrechen des Staatsterrorismus aufzuklären. Vor allem zum letztgenannten Feld, der Suche nach den Verschwundenen und der Erforschung ehemaliger illegaler Haftanstalten – so genannte Centros Clandestinos de Detención (CCD) –, hat die Archäologie, eine bekanntlich auf die Erfassung menschlicher Handlungen in der Vergangenheit anhand ihrer materiellen Überreste spezialisierte Disziplin, einen bedeutungsvollen Beitrag geleistet. In den folgenden Abschnitten wird kurz auf die Tätigkeit der Archäologie bei der Suche nach den durch den Staatsterrorismus Verschwundenen und auf die Forschung an Orten eingegangen, die in den Jahren der Diktatur 1976–1983 in Argentinien als CCD fungierten.
Auf der Suche nach den Desaparecidos
Der argentinische Fall ist mittlerweile international als menschenrechtspolitische Referenz in Bezug auf die Aufarbeitung der letzten zivil-militärischen Diktatur (1976–1983) anerkannt. Das liegt zunächst daran, dass bereits weniger als eine Woche nach der Wiederherstellung der Demokratie im Dezember 1983 ein Präsidialdekret verabschiedet wurde, das die Strafverfolgung der Militärführung anordnete. In diesem Zusammenhang gründete der damalige Präsident Raúl Alfonsín (1983–1989) die Nationale Kommission für das Verschwindenlassen von Personen (CONADEP). Dies ermöglichte, mit allen Rechten und Unrechten, eine rasche Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die nur kurze Zeit zuvor stattgefunden hatten.
Die 1983 gegründete Kommission, eine der ersten ihrer Art in der Welt, hatte die Aufgabe, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, insbesondere das Verschwinden von Menschen während der letzten Diktatur. Obwohl ihr 1984 vorgelegter Bericht, der unter dem Titel Nunca Más1 (CONADEP 1984) veröffentlicht wurde, nach wie vor scharf kritisiert wird, weil er die sogenannte „Theorie der zwei Teufel“ propagiere, verzeichnet er erstmalig zahlreiche Opfer- und Zeugenaussagen. Darüber hinaus brachte er die Existenz von Hunderten von CCD ans Licht, die im ganzen Land heimlich genutzt worden waren – ebenso wie Hinweise auf die Existenz unzähliger Massengräber, die die offizielle Version der Diktatoren bezüglich der „Nichtexistenz“ von Opfern widerlegten (Franco 2002, Calveiro 1998, S. 26). Die Strategie der Militärjunta, die Existenz verschwundener Personen als Teil einer vermeintlich globalen Propagandakampagne, um die De-facto-Regierung zu diskreditieren, zu bestreiten, erwies sich als Gegengewicht zu den Anklagen internationaler Organisationen über das Verschwindenlassen von Personen (Franco 2002) (Abb.1).
Letzteres führte nach der Wiederherstellung der Demokratie zur Bildung einer Gruppe von Expert:innen, die einige Zeit später das argentinische Team für forensische Anthropologie (Equipo Argentino de Antropología Forense – EAAF) bildeten. Die Anthropologen und Archäologen waren mit der Identifizierung und Exhumierung von Massengräbern beauftragt, um gerichtliche Beweise zu liefern. Die Gründung 1984 des EAAF-Teams war dank des Engagements des forensischen Anthropologen Clyde Snow (1928–2014) möglich, einem der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet. Er gehörte zu einem Kontingent von US-Gerichtsmedizinern, die damals von der Menschenrechtsorganisation Abuelas de Plaza de Mayo kontaktiert wurden, um genetische Analysen durchzuführen, um die zahlreichen Kinder wiederzufinden, die bei der Entführung der Eltern beziehungsweise während der Gefangenschaft geboren wurden und vom Militär als „Kriegsbeute“ enteignet worden waren – und zur Adoption freigegeben beziehungsweise behalten wurden (Nosiglia 1985). Die Anthropolog:innen stellten die Möglichkeit dar, auf die Expertengremien zu verzichten, die bei der Suche nach den Überresten der Verschwundenen in den Massengräbern von der Justiz und der Polizei abhängig waren. Die mit den Exhumierungen beauftragten Beamten und anderen Personen hatten nicht das Vertrauen der Angehörigen der Opfer, da die meisten von ihnen während der Diktatur Beamte gewesen waren beziehungsweise über keine professionelle Ausbildung verfügten – oder zumindest die technischen Grabungsprotokolle nicht anwandten, infolgedessen wichtige forensische Informationen verloren gingen (Salado/ Fondebrider 2008, S. 214-215; Snow 1984; Stover 1985; Cohen Salama 1992; Doretti/ Fondebrider 2001).
Die Nichtberücksichtigung wissenschaftlicher Methoden führte nicht nur zu sogenannten post mortem Schäden an den sterblichen Überresten, sondern auch zum Verlust der Möglichkeit, die Leichen mit kontextuellen Funden in Verbindung zu bringen, wie z. B. mit Schusswaffengeschossen, die Aufschluss über den Kontext geben könnten, in dem der Tod herbeigeführt wurde, oder mit persönlichen Gegenständen, die die Wiederherstellung der individuellen Identität, d. h. die Zuordnung von menschlichen Überresten (Nomen nescio) zu den verschwundenen Personen, ermöglichen würden. In diesem Sinne ermöglichte die anthropologische Perspektive wiederum die Verknüpfung von Skelettresten mit Funden in forensischen Untersuchungen; gleichzeitig wurde die traditionelle Perspektive der forensischen Wissenschaft um eine soziale Perspektive erweitert (z. B. durch Befragung von Angehörigen, Zeugen usw.) (Fondebrider/ Scheinsohn 2020, S. 673).
Neben den Ergebnissen der CONADEP waren auch die gerichtsmedizinischen Untersuchungen ausschlaggebend für das Gerichtsurteil. Das Tribunal erklärte neun der zehn Militärangehörigen der drei Armeen, die die Junten bildeten und das Land seit dem Militärputsch vom 24. März 1976 bis zum Malvinas/Falklandkrieg 1982 regierten, für schuldig. In dem am 9. Dezember 1985, einen Tag vor dem zweiten Jahrestag der Demokratie, verkündeten Urteil wurden fünf der angeklagten Militärangehörigen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und vier freigesprochen. Ungeachtet von Kritik werden sowohl die Gründung der CONADEP als auch der „Prozess der Junten“ weltweit als bahnbrechend anerkannt. Der Rest ist Geschichte: Im Dezember 1986 und im Juni 1987 wurden zwei Gesetze verabschiedet, die als „Straffreiheitsgesetze“ (span.: Leyes de impunidad) bekannt werden sollten: das Gesetz „Voller Stopp“2 und das Gesetz „Gehorsamkeit“.3 Diese und eine Reihe von Präsidialdekreten, die während der Regierung von Carlos S. Menem (1989–1995) unterzeichnet wurden, verhinderten einerseits die strafrechtliche Verfolgung der übrigen Verantwortlichen für die Verbrechen und andererseits die Vollstreckung des Gerichtsurteils von 1985.
Die archäologische Forschung zur Suche nach den Desaparecidos in Argentinien lässt zwei Hauptphasen erkennen. Die erste umfasst den Zeitraum von den forensischen Untersuchungen, die im Rahmen der Prozesse von 1985 eingeleitet wurden, bis Ende 2001, der sogenannten „Krise vom Dezember“. Diese erste Phase ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Recherchen sich auf Friedhofsarealen konzentrierten. Die zweite Phase beginnt wiederum im Jahr 2002 und lässt sich durch eine Ausweitung der Suchgebiete, die inzwischen über Friedhöfe hinaus auf die Bereiche von illegalen Bestattungen ausgedehnt wurden, kennzeichnen (Somigliana/ Olmo 2002). Der Fall, der den Takt der zweiten Phase gab und somit als Pionier gilt, fand in der Provinz Tucumán, im Nordwesten des Landes, statt. Dabei handelt es sich um die Untersuchungen in dem Pozo de Vargas, einem unterirdischen Mauerwerk aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dort, wo zwischen 1975 und 1978 Leichen beseitigt worden waren, konnten im Zeitraum zwischen 2002 und 2021 Überreste von insgesamt 114 von den Sicherheitskräften Ermordeten exhumiert werden (Ataliva et al 2022, S. 153).
Im Gegensatz zu den Friedhöfen, bei denen die Angaben der Zeitzeugen normalerweise durch schriftliche Quellen (z. B. Friedhofs- und Krankenhausregister) ergänzt werden können (EAAF 2005, S. 18 ff.), erweist sich die Lokalisierung von geheimen Bestattungsplätzen als wesentlich schwieriger. Einerseits machen das Fehlen von zeitgenössischen Unterlagen und „Schweigepakte“ innerhalb der Streitkräfte (Clacso 2019, S. 33) und andererseits die Größe der unter Verdacht stehenden Areale die Anwendung archäologischer Prospektionstechniken erforderlich. Besonders erkennbar ist dies seit den 2010er Jahren, als neue Vermessungstechnologien auf Gelände der Sicherheitskräfte zum Einsatz kamen. Ein Beispiel dafür ist die Anwendung von LiDAR (Light Detection and Ranging) auf Arealen, auf denen möglicherweise sterbliche Überreste von Ermordeten begraben wurden – wie im Fall von Campo de Mayo4 und GADA 601 (Buenos Aires), Quinta de los Comandantes (Rosario), Campo San Pedro (Santa Fe)5, La Perla und Batallón José de la Quintana (Córdoba).6 Dieses Instrument der so genannten Fernerkundung, das üblicherweise von der Landesarchäologie zur Erschließung neuer archäologischer Stätten eingesetzt wird, ermöglicht es, großflächiger Gelände in relativ kürzerer Zeit als mittels Feldbegehungen zu erkunden. Dadurch können Bodenmerkmale identifizieren werden, die sich obertägig beziehungsweise aus der Bodenperspektive nicht erkennen lassen und damit die Stellen abzugrenzen, auf denen archäologische Sondierungen durchgeführt werden können (Landauer 2018, S. 5f.).7
Diese zweite oben erwähnte Phase (die, wie im folgenden Abschnitt zu erörtern sein wird, auch die Untersuchung von Ex-CCD umfasst) begann in einem Kontext sozialer Mobilisierung ab Dezember 2001. Zu den Protesten der Mittelschicht für den freien Zugang zu ihren Ersparnissen (zur Wiedererlangung ihres Bankguthabens – der so genannte Corralito) gesellten sich Arbeitslose, die begonnen hatten, sich in Volksversammlungen zu organisieren und direkte Aktionen zu ergreifen, um Straßen abzusperren (im Volksmund Piquetes genannt) und begannen, Druck wegen des Mangels an Geld im Umlauf und insbesondere des Manges an Lebensmitteln auszuüben. Ähnliches geschah u. a. in der Studentenschaft, in der es zu Besetzungen der Fakultäten, Straßenblockaden und öffentlichen Vorträgen kam. Sowohl die Provinz- als auch die nationale Regierung reagierten auf die Mobilisierung mit brutaler Repression, die den Tod von 39 Menschen und 500 Verletzten sowie zahlreiche Inhaftierten zur Folge hatte.8 Unter dem Slogan „Lasst sie alle gehen“ wurde damals die Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung der gesamten politischen Klasse deutlich und brachte sogar den Rücktritt des Präsidenten Fernando de la Rúa (1999–2001) mit sich (Abb.2).
Das Misstrauen gegenüber der politischen Führung nach Jahren neoliberaler politischer Maßnahmen und infolge der soziopolitischen Krise führte zur Entwicklung von Bürgerbeteiligung und zur Bildung horizontaler politischer Initiativen (wie u. a. Nachbarschafts- und Studentenversammlungen, Betriebe ohne Chefs, Piquetero-Bewegungen und Tauschmärkte). Nach dem Rücktritt de la Rúas und dem Abtreten von mehreren Interimspräsidenten (Ramón Puerta, Adolfo Rodríguez Saá, Eduardo Caamaño und Eduardo Duhalde) wurden erneut Präsidentenwahlen angesetzt. Im Ergebnis wurde Néstor Kirchner aus insgesamt 18 Kandidaten gewählt. Auffallend ist nicht nur die hohe Zahl der Kandidaturen, sondern auch die Tatsache, dass Kirchner nur 22% der Stimmen erhielt, also weniger als Menem (24%), welcher wiederum die treibende Kraft hinter den neoliberalen Maßnahmen war, die das schmutzige Werk der Militärjuntas vollendeten und die Demontage des Staates verwirklichten (Geiger 2010, S. 132 ff.). Vor dem Hintergrund der politischen Klasse, die als korrupt, inkompetent und blutrünstig galt, wurde insbesondere während Kirchners Amtszeit (2003–2007) versucht, die Situation zu stabilisieren und das Image der politischen Klasse zu revidieren. In dem Bewusstsein, dass sowohl seine Regierung als auch die damals unbeliebte Führungsschicht Legitimität benötigten, machte er die Menschenrechtspolitik bezüglich der Aufarbeitung der Diktatur 1976–1983 zu einem der wichtigsten Fahnen seines Regierungsprogramms. Darauf soll später noch einmal eingegangen werden.
In diesem Zusammenhang wurden die bereits erwähnten „Straffreiheitsgesetze“, welche eine Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die im Zeitraum vom 1976–1983 begangenen Verbrechen unmöglich machten, für ungültig erklärt. Dies wurde 2003 vom Senat9 beschlossen und ermöglichte anschließend die Wiederaufnahme von Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit10 (Abb.3). Damit erhielten wiederum die archäologisch-forensischen Untersuchungen im Rahmen von gerichtlichen Ermittlungen, die Mitte der 1980er Jahre im ganzen Land lahmgelegt worden waren, neuen Auftrieb. In diesem Sinne wurden seit 2006 zahlreiche forensische Untersuchungen durchgeführt, die zur Auffindung von sterblichen Überresten von Desaparecidos im ganzen Land geführt haben.
Es sollte angemerkt werden, dass außer der forensischen Untersuchungen, die ab Mitte 1984 in Argentinien durchgeführt wurden, nur wenige Beispiele für die Anwendung archäologischer Methoden bei der Untersuchung moderner Fälle von systematischen Menschenrechtsverletzungen bekannt waren (Doretti/ Fondebrider 2001, S. 140 f.). Seitdem setzt sich das EAAF mit der Recherche über die Suche nach Verschwundenen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen auseinander – was sich nicht auf den argentinischen Kontext beschränkt.11 In den fast vier Jahrzehnten von Untersuchungen in Argentinien wurden mehr als 1400 menschlichen Überresten von Personen, die während der letzten Diktatur ermordet wurden und seitdem als Verschwunden galten, exhumiert. Davon konnten bislang mehr als 800 identifiziert wurden12 (Abb.4).
Die Tätigkeit des EAAF und anderer lokaler Teams13 liefert nicht nur gerichtliche Beweise und ermöglicht es den Angehörigen der Opfer, der jahrzehntelangen Suche ein Ende zu setzen und zu trauern (Clacso 2019, S. 164 ff., Guglielmucci 2020, 701 ff.), sondern entlarvt auch das unsichtbar machende Projekt des Staatsverbrechens und somit bieten der Gesellschaft die Gelegenheit, das soziale Ausmaß des Staatsverbrechens zu erkennen. In diesem Sinne basiert die Öffentlichkeit- und Sensibilisierungsarbeit auf kommunaler Ebene darauf, von der Diktatur angewandten Mechanismen zur Unsichtbarmachung und die offiziellen Erzählungen während der ersten Jahre der Demokratie zu veranschaulichen. Dadurch können Narrative infrage gestellt werden, die dazu tendieren, das Geschehen von 1976–1983 auf bloße Einzelfälle zu reduzieren und damit den zugrunde liegenden Versuch einer sozialen Disziplinierung zu leugnen (Feierstein 2007: 104–110).
Da die archäologische Vorgehensweise auf dem Prinzip der „Rekonstruktion“ beruht (was im Kontext des Staatsterrorismus noch an Wichtigkeit gewinnt), wird der interdisziplinären Arbeit und der Entwicklung von Datenbanken, die eine Kombination verschiedener Arten von Informationen (mündliche Zeugnisse, dokumentarische Quellen und materielle Spuren) ermöglichen, große Bedeutung beigemessen. In diesem Sinne hat das EAAF ein einheitliches Register der Opfer des Staatsterrorismus (Registro Unificado de Víctimas del Terrorismo de Estado – RUVTE) ins Leben gerufen, eine Plattform mit aktuellen Informationen über die Opfer der illegalen Repressionsmaßnahmen des argentinischen Staates und der geheimen Haftanstalten (sogenannte Centros Clandestinos de Detención – CCD).14 Sie ist für die ständige Sammlung und Systematisierung von Informationen über die illegalen Repressionsmaßnahmen der Sicherheitskräfte zuständig, mit dem Ziel, ein einheitliches nationales Register der Opfer und der Ex-CCD aufzubauen. Abgesehen von der Möglichkeit, Einzelschicksale zu klären, kann die Kenntnis darüber, ob eine bestimmte Person in einem CCD inhaftiert war und wann sie ermordet wurde, dazu führen, das Schicksal anderer Personen oder Gruppierungen zu ermitteln. Die Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen Entführung, Tötung, Bestattung und Ablagerung von sterblichen Überresten ist in diesem Sinne von entscheidender Bedeutung, um die Suche einzugrenzen und Hypothesen zur Identität der noch nicht identifizierten Getöteten zu entwickeln. Abschließend ist die enorme Bedeutung genetischer Untersuchungen für die Identifizierung von exhumierten sterblichen Überresten, die als NN vergraben wurden, zu erwähnen. Ein Projekt in diesem Sinne ist die „Lateinamerikanische Initiative zur Identifizierung von Verschwundenen“ (Iniciativa Latinoamericana para la Identificación de Personas Desaparecidas – ILID).15 Diese ist zuständig für die Förderung, Organisation und Entwicklung einer nationalen Bank von genetischen Proben von Angehörigen von Opfern des Verschwindenlassens, um die Möglichkeiten der Identifizierung zu erhöhen.
In den letzten Jahren wurden Forschungen durchgeführt, die darauf abzielen, Muster zu erkennen, um die von den Einsatzkräften verwendete Logik rekonstruieren zu können. Ein Beispiel dafür ist eine Untersuchung, die den Großraum Rosario (Santa Fe) als Fallstudie heranzog. Dabei wurden die Arten von Todesfällen und ihre Kasuistik kombiniert, wobei jeder Befund bestimmten Einsatzkräften (Polizei und/oder Armee) zugeordnet wird. Auf diese Weise lassen sich die Beziehungen zwischen den Orten der Entführung, der Gefangenschaft, den Orten der Ermordung und der Beerdigung beziehungsweise Ablagerung der sterblichen Überreste ermitteln (Rosignoli 2014; Rosignoli 2015; Rosignoli 2020). Diese Art von Forschung zeigt also, wie wichtig es ist, einerseits verschiedene Arten von Informationen und Quellen, Analysen und Perspektiven zu kombinieren, und andererseits die Suche nach verschwundenen Personen und die Untersuchung der Strategien zur Beseitigung des Corpus Delicti mit den Orten der Inhaftierung in Verbindung zu setzen.
Archäologische Untersuchen zur geheimen Haftanstalten
Wie bereits erwähnt, hat die Regierung nach der im Dezember 2001 ausgelösten Repressionswelle – bei der sogar Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Madres de Plaza de Mayo von den Sicherheitskräften verprügelt wurden16 – den Forderungen von Menschenrechtsorganisationen und anderen NGOs nachgegeben. In diesem Zusammenhang wurden mehrere Orte, die während der letzten Diktatur als geheime Haftanstalten der Sicherheitskräfte (CCD) gedient hatten, in Gebrauchsleihe zur Verfügung gestellt. CCD wurden in verschiedenen Arten von Gebäuden betrieben, wobei in der Regel bestehende Gebäude genutzt wurden, sei es in öffentlichem- (z. B. Gebäude der Sicherheitskräfte, Schulgebäude) und privatem Besitz (z. B. Einfamilien-, Ferienhäuser, Autowerkstätte) – und sogar kirchlichem Eigentum (Verbitsky 2005). Obwohl diese Konzessionen ursprünglich eine Wiedereröffnung der Gebäude für die Öffentlichkeit als „Erinnerungsort“ (Nora 1998) vorsahen, wurden auch sozialwissenschaftliche Forscher:innen zu Rate gezogen, was zur Festlegung von zunächst unvorhergesehenen Zielen führte (Abb.5). Dies ermöglichte es, dass beispielsweise diese Orte nicht nur der Öffentlichkeit geöffnet wurden, sondern auch, dass u. a. archäologische und anthropologische Forschungen in Auftrag gegeben wurden. Somit konnten erstmals archäologische Forschungen konzipiert und durchgeführt werden, die neben den in Deutschland durchgeführten Forschungen an Arealen, die während des Nationalsozialismus als Zwangslager beziehungsweise Tötungsorte gedient hatten17, hinaus Pioniercharakter in Lateinamerika besitzen.
Die ersten Beispiele für die archäologische Forschung in Ex-CCD fanden ab 2002 in Großstädten Argentiniens statt, Capital Federal (CCD Club Atlético), Großraum Buenos Aires (CCD Mansión Seré) und Großraum Rosario (CCD El Pozo, CCD La Calamita). Diese Pionierfälle markierten einen erkenntnistheoretischen Meilenstein sowohl innerhalb der Archäologie als auch im Kontext der Erforschung der Geschehnisse während der letzten Diktatur in Argentinien. Der ursprüngliche Mangel an Referenzfällen in Bezug auf die archäologische Untersuchung zu Ex-CCD förderte die Entwicklung von sehr interessanten Projekten zur Erfassung von materiellen Spuren und insgesamt zur Aufarbeitung des Staatsverbrechens, die u. a. im Hinblick auf die Einbeziehung von bisher nicht berücksichtigten Akteuren und Perspektiven neuartig sind. Beispiele dafür sind die Zusammenarbeit mit Überlebenden und mit der Zivilbevölkerung (EIMePoC 2008). Dabei handelt es sich um zwei Akteur:innen, die bislang in Zusammenhang mit der Erinnerung an das Staatsverbrechens eher nicht berücksichtigt worden waren. Die Vertuschung der von der Diktatur begangenen Verbrechen wurde, wie bereits ausgeführt, durch das offizielle Narrativ der ersten Jahre der Demokratie verstärkt – das üblicherweise als „Theorie der zwei Teufel“ bekannt ist. In dieser Darstellung wird argumentiert, dass es sich um einen Krieg zwischen zwei Seiten handele (Streitkräfte und verschiedene Guerillagruppen), bei dem die argentinische Zivilbevölkerung lediglich als „Zeugin“ zu verstehen sei. Selbst wenn das Gerichtsurteil von 1985 den systematischen Charakter der staatlichen Verbrechen anerkannte, wurde die Trauer um die Opfer auf der diskursiven Ebene auf die Privatsphäre der Familie beschränkt, wodurch ein kollektiver Trauerprozess samt gesellschaftlicher Reflexion über das Geschehene in politischer und soziokultureller Hinsicht vermieden wurde.
Selbst wenn dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, ist es doch erwähnenswert, dass dadurch Tabus sowohl auf sozialer als auch auf politischer Ebene sichtbar wurden, die seit den Jahren der Diktatur und größtenteils auch seit dem Übergang zur Demokratie bestehen (EIMePoC 2008, S. 416 ff.). Die Gegenwart ehemaliger politischer Gefangener beziehungsweise Überlebender des Schreckens (d. h. Entführte, die das Glück hatten, befreit zu werden) ermöglicht es einerseits, u. a. Geschehnisse während der Gefangenschaft und Repressionsstrategien der Verbrecher zu rekonstruieren, das Schicksal anderer Menschen zu ermitteln und archäologische Funde und Befunde zu interpretieren. Andererseits geben Überlebende auch Aufschluss über das Projekt der zivil-militärisch-kirchlichen Diktatur, die Gesellschaft von der politischen Teilhabe zu distanzieren und über kollektive Projekte nachzudenken. Im Fall der gemeinsamen Arbeit mit der Zivilgesellschaft wurde u. a. die Tatsache hervorgehoben, dass auch diejenigen, die aus generationsbedingten oder familiären Gründen bisher nicht einbezogen wurden, um ihre Meinung zu äußern und über das Geschehene zu reflektieren, berechtigt sind. Damit wurde deutlich, dass auch diejenigen, die während der Demokratie geboren wurden oder keine Desaparecidos-Verwandten hatten, auf die eine oder andere Weise vom Staatsterrorismus durchdrungen sind. Leider führten Überlegungen dieser Art in einigen Fällen zu Missverständnissen mit Menschenrechtsorganisationen, die ihre Legitimität in Bezug auf die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in Frage gestellt sahen.
Darüber hinaus ermöglichte es die Anwendung archäologischer Techniken, materielle Hinterlassenschaften zu erfassen, die den Aufenthalt von Desaparecidos an den CCD belegen. Abgesehen davon, dass diese unwiderlegbaren Beweise für die Nutzung dieser Orte als Zentren illegaler Gefangenschaft darstellen und einmal mehr der offiziellen Version von damals widersprechen, wonach die Klagen über das Verschwindenlassen von Menschen durch die Diktatur Teil einer internationalen Kampagne seien, um sie zu diskreditieren, sind Funde dieser Art von größer Bedeutung, um die Orte „sprechen zu lassen“. In diesem Sinne ist es anzumerken, dass es sich in der Regel um Orte handelt, die meist leergeräumt wurden – so dass es schwierig ist, sich ein Bild davon zu machen, wie sie während ihrer Funktion als CCD ausgesehen haben könnten. Die CCD wurden noch vor dem Ende der Diktatur aus unterschiedlichen Gründen aufgelöst. In einigen Fällen geschah dies im Zusammenhang mit dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (Inter-American Human Rights Commission – IACHR)18 1979, in anderen, weil sie ihre repressive Funktion bereits erfüllt hatten, aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen für die Repression zuständigen Sicherheitskräften (Polizei, Streitkräfte) usw.
Die oben erwähnten Pionierforschungsfälle sind in diesem Sinne ebenfalls sehr bedeutsam, da sie erstens entweder abgerissen (Doval/ Giorno 2010; Zarankin/ Niro 2006) oder von den Sicherheitskräften vor ihrer Räumung architektonisch verändert wurden (EIMePoC 2008; Compañy et al. 2016), nicht zuletzt um eine spätere Anerkennung zu erschweren. Dies unterstreicht das Potenzial der Archäologie dafür, materielle Hinterlassenschaften verborgener Geschehnisse ans Licht zu bringen und somit den Versuchen der Verbrecher, die Fakten unsichtbar zu machen, entgegenzutreten. Zweitens dienten diese Fälle als Referenz für ähnliche archäologische Untersuchungen in anderen Teilen des Landes und Ländern der Region, wie beispielsweise Chile und Uruguay.
Die an Ex-CCD durchgeführten Dokumentationen konzentrierten sich zum einen auf die materiellen Spuren, die die inhaftierten und verschwundenen Personen hinterlassen haben. Unabhängig davon, ob es beispielsweise durch die Erfassung von Eingravierungen an Wänden möglich ist, den Aufenthalt bestimmter Personen an CCD zu identifizieren, lassen sich die Spuren an sich auch als Maßnahme des Widerstands interpretieren. Wenn man bedenkt, dass sich dabei um Personen handelt, die es damals offiziell „nicht gab“ und deren Leben ernsthaft in Gefahr war, gewinnt die Absicht, Spuren (z. B. Namen, Daten) zu hinterlassen, eine tiefgreifende Bedeutung (EIMePoC 2008, S. 559 ff.). Zum anderen fokussiert die Archäologie auf die Erfassung von materiellen Spuren der Täter. Aufgrund des kriminellen Charakters der an diesen Orten damals stattgefundenen Aktivitäten deuten die Spuren meist auf Maßnahmen der Verbrecher hin, die Geschehnisse zu vertuschen (Abb.6). In den letzten Jahrzehnten wurden auch Untersuchungen und Analysen durchgeführt, die dazu führen, einen anderen Blick auf die Ex-CCD zu werfen und Hypothesen über die innere Dynamik der CCD aufzustellen. Ein Beispiel dafür ist die Anwendung von Techniken der so genannten Raumanalyse, die entwickelt und eingesetzt wurden, um sich der Raumwahrnehmung in prähistorischen Kontexten zu nähern (Mañana Borrazás et al. 2002). In diesem Sinne wurden zunächst in Argentinien (Zarankin/Niro 2006) und später auch in Chile (Fuenzalida 2009), Uruguay (Marín et al. 2020) und Brasilien (Batista Costa 2020) Raumanalysemethoden eingesetzt, um Wahrnehmungserfahrungen (auch bekannt als Sichtbarkeits- und Proxemethoden) und Bewegungserfahrungen (Gamma-Analyse19) anzunähern.
Nach den ersten Fällen der Entstehung von Erinnerungsorten und archäologischen Untersuchungen, welche eher auf Initiative von unabhängigen, engagierten Akteuren (u. a. Menschenrechtsgruppen und NGOs) stattgefunden haben, ging die Verwaltung der Ex-CCD schrittweise in die Hände der staatlichen Verwaltung über beziehungsweise zurück. Dies geschah besonders ab 2004, als wie bereits erwähnt Begriffe wie Erinnerung und Menschenrechte in der offiziellen Agenda hervorgehoben wurden20 (Abb.7). Dies führte einerseits zu einer Vervielfachung der Ex-CCD, die zu Erinnerungsorten erklärt und für die Bevölkerung wieder geöffnet wurden.21 Dieses Engagement seitens der Staatsverwaltung schlug sich jedoch weder zwangseise in der Durchführung von weiteren archäologischen Untersuchungen noch in deren finanzieller Unterstützung nieder – was teilweise zur Entstehung von Solidaritätsinitiativen führte, um finanzielle Mittel für die Forschung zu generieren.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung wurde 2011 mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes unternommen, wonach alle Orte, die als CCDs fungiert hatten, als „Stätten der Erinnerung an den Staatsterrorismus“ anerkannt werden sollen.22 Diese Orte werden im Rahmen eines Netzwerks der Gedenkstätten (Red Federal de Sitios de Memoria) koordiniert. Das Netzwerk, das bislang Informationen über insgesamt 814 CCD und andere Orte der politischen Haft23 sammelte, die zwischen 197424 und 198325 im Lande betrieben wurden, steht unter dem Schirmherrschaft des Sekretariats für Menschenrechte.26
In den gut 20 Jahren zwischen 2002 und der Gegenwart wurden zahlreiche archäologische Untersuchungen in Ex-CCD durchgeführt – mehr als 30 in mindestens elf der insgesamt 23 Provinzen (siehe Tabelle). Die Neupositionierung der Exekutive angesichts der Straftaten ermöglichte es, das bereits im Zeitraum von 2004–2006 zehn Ex-CCD archäologisch untersucht werden konnten. Auch wenn die Untersuchungen meist von Menschenrechtsorganisationen und Bürgerinitiativen vorangetrieben wurden, verlieh die Wiederaufnahme der Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Jahr 2006 den Forschungsaktivitäten einen neuen Auftrieb – seitdem wurden 17 weitere Ex-CCD erkundet und deren Untersuchung von der Justiz finanziert. Die Entscheidung, Ex-CCD ausfindig zu machen und ihre materiellen Hinterlassenschaften im Rahmen von Gerichtsverfahren zu erfassen, ermöglichte nicht nur den Zugang zu Räumlichkeiten in privater Hand und im Besitz der Sicherheitskräfte sowie die materielle Sicherung der Gebäude27, sondern auch die finanziellen Mittel zur Durchführung der Ermittlungen (Abb.8).
Jahr |
Stadt |
Provinz |
Bezeichnung des CCD |
2002 |
Rosario |
Santa Fe |
El Pozo |
2002 |
Granadero Baigorria |
Santa Fe |
La Calamita |
2002 |
Morón |
Buenos Aires |
Mansión Seré |
2002 |
Capital Federal |
– |
Club Atlético |
2005 |
Capital Federal |
– |
Virrey Cevallos |
2005 |
Capital Federal |
– |
Olimpo |
2005 |
Tafí Viejo |
Tucumán |
Arsenal Miguel de Azcuénaga |
2005 |
Posadas |
Misiones |
La Casita |
2006 |
La Matanza |
Buenos Aires |
El Vesubio |
2006 |
Morón |
Buenos Aires |
Regional de Inteligencia (RIBA) |
2006 |
Capital Federal |
– |
Automotores Orletti |
2006 |
Córdoba |
Córdoba |
La Perla |
2006 |
Córdoba |
Córdoba |
Departamento de Inteligencia de Córdoba (D2) |
2006 |
San Miguel |
Buenos Aires |
Campo de Mayo (4 CCD) |
2008 |
Punilla |
Córdoba |
Chalet de Hidráulica / El Embudo |
2008 |
La Plata |
Buenos Aires |
Pozo de Arana / Campo de Arana / La Casona |
2009 |
Pilar |
Córdoba |
Puesto Caminero |
2010 |
Bahía Blanca |
Buenos Aires |
La Escuelita |
2013 |
Olavarría |
Buenos Aires |
Monte Pelloni |
2014 |
Marquesado |
San Juan |
La Marquesita |
2014 |
Santa Lucía |
Tucumán |
Base Militar Santa Lucía |
2014 |
Sáenz Peña |
Chaco |
Ex Alcaidía |
2015 |
Famaillá |
Tucumán |
Escuelita de Famaillá |
2015 |
La Matanza |
Buenos Aires |
Puente 12 III / El Banco |
2015 |
Las Lajas |
Mendoza |
Campo Las Lajas |
2017 |
Corrientes |
Corrientes |
Regimiento de Infantería Nr.9 Cnel. Pagola |
2020 |
Guerrero |
Jujuy |
Guerrero |
2021 |
Rosario |
Santa Fe |
Quinta de los Comandantes |
2022 |
Quilmes |
Buenos Aires |
Puesto Vasco |
2022 |
Neuquén |
Neuquén |
La Escuelita |
2023 |
Punta Alta |
Buenos Aires |
Séptima Batería / Batería de Infantería de Marina |
Tabelle: Aufstellung der archäologisch erfassten Ex-CCD in Argentinien
Wie bei den Verfahren 1985 gegen die Junten, führte auch hier die Beteiligung von Archäolog:innen zur Sicherung wichtiger materieller Beweise für die Existenz dieser Orte und zur Rekonstruktion des mosaikhaften Bildes des stattgefundenen Verbrechens. Darüber hinaus trugen sie ebenfalls zur Verurteilung der für Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verantwortlichen bei. In mehreren Fällen führten archäologische Untersuchung dieser Ex-CCD auch zur Lokalisierung von Massengräbern, die Rekonstruktion der repressiven Logik innerhalb und außerhalb dieser Orte und außerdem, wie bereits erwähnt, die Erfassung materieller Zeugnisse von Menschen, die größtenteils immer noch als „verschwunden“ gelten. Die mit Hilfe archäologischer Techniken gesammelten Informationen sind auch von großer Bedeutung für die Entwicklung von Erzählungen, die die Bedeutung von Haftanstalten nicht nur im Hinblick auf die physische Beseitigung politischer Dissidenten während der Diktatur, sondern auch bezüglich der sozial-politischen Disziplinierung vermitteln – was nicht auf die Jahre der Diktatur beschränkt werden soll.
Schlussbemerkungen
Durch die Kombination verschiedener Quellengattungen (Dokumente, Aussagen von Zeug:innen, materielle Hinterlassenschaften) ist es möglich, nicht nur die während der Diktatur begangenen Verbrechen zu untersuchen, sondern auch die Mechanismen der Unsichtbarmachung sichtbar beziehungsweise greifbar zu machen. Dies trägt einerseits dazu bei, die Verantwortlichen für die Verbrechen gerichtlich zu verurteilen und ermöglicht andererseits Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Angehörigen. Methoden wie das Verschwindenlassen von Personen (Techniken, die bekanntlich sowohl damals in Argentinien als auch in anderen südamerikanischen Ländern entwickelt und angewendet wurden) und der Errichtung von CCD insofern als Orte der Entführung, der Folter, der Verhöre und des Todes, sowie die fehlende Dokumentation und der Schweigepakt der Verantwortlichen für die Verbrechen – und nicht zuletzt die immer noch vorhandene Angst der Zeug:innen28 – machten es notwendig, neue Wege zur Untersuchung der Geschehnisse zu entwickeln und zu befahren (Abb.9).
Die Anwendung von Methoden der Archäologie, einer Disziplin, die aus dem Bedürfnis nach menschlichen Zeugnissen (der fernen Vergangenheit) entstanden ist, die sich im Wesentlichen auf ihre materiellen Spuren stützen, wurde zu einem wirksamen Mittel, um die Informationslücken zu schließen, die kennzeichnend für die Taten des Staatsterrorismus sind. Dies ermöglicht es, die Forderungen von Menschenrechtsorganisationen und anderen NGOs nach Gerechtigkeit zu unterstützen und zur gerichtlichen Verurteilung der Verantwortlichen beizutragen, aber auch einige der Brüche und Kontinuitäten zwischen den Jahren der Diktatur und der Demokratie aufzuzeigen. Die Erfassung und Untersuchung von materiellen Spuren in den Ex-CCD und die Lokalisierung von Massengräbern und anderen geheimen Gräbstätten und die damit verbundene Identifizierung von Skelettüberresten stellen einen wesentlichen Schritt bei der Untersuchung des Staatsverbrechens dar, der jedoch in einen größeren Zusammenhang gestellt werden muss. Denn staatliche Verbrechen und die Existenz eines Netzes von geheimen Haftanstalten waren Mechanismen, die darauf abzielten, die damals vorhandenen Formen der politischen Diskrepanz zu beseitigen, aber auch Formen der politischen Verfolgung auf einer breiteren, gesellschaftlichen Ebene durchzusetzen. Die staatlichen Reformen, die mit dem Elan der Regierung Carlos Menems (1989–1999) und der Duldung durch die großen politischen Parteien durchgeführt wurden und die, mit mehr oder weniger Nachdruck, bis heute in Kraft sind, sind ohne die sozial-politische Reformen, die während der letzten Diktatur durchgeführt wurden, nicht denkbar. In diesem Sinne ist die Zersplitterung der oppositionellen politischen Organisationen mit dem Versuch verbunden, die gesamte Gesellschaft zu entpolitisieren (Abb.10).
Da es sich bei der Wiederherstellung der Demokratie in Argentinien um ein komplexes Phänomen handelt, kann sie nicht auf einen Triumph beschränkt werden, der einseitig durch die Beteiligung und den Druck des Volkes bei den Klagen gegen die Diktatur erzielt wurde. Auch wenn die mutige Aktion der Menschen, insbesondere der Frauen, die sich trotz offizieller Maßnahmen wie dem Belagerungszustand vor dem Regierungsgebäude versammelten, um eine Audienz beim De-facto-Präsidenten zu beantragen und ihn um Informationen über den Verbleib ihrer entführten Töchter und Söhne zu bitten, und die der Aktivist:innen im Exil bei der Verbreitung von Informationen über die Situation in Argentinien hinsichtlich der Verbrechen der Militärregierung unbestreitbar ist, muss der Zerfall des Regimes – oder anders gesagt die Ablösung der Regierungsverwaltung – eher in Ereignissen gesucht werden, wie der militärische Niederlage nach der militärischen Auseinandersetzung um die Rückgewinnung der Inselgruppe im Südatlantik im Jahr 1982, dem Malvinas/Falklandkrieg (Rozitchner 2005).
Der 10. Dezember 1983, der Tag, an dem Argentinien wieder gemäß dem Grundgesetz regiert werden konnte, stellt zweifellos einen Wendepunkt in der politisch-kulturellen Geschichte des südamerikanischen Landes dar. Während es im Gegensatz zu den sieben langen Jahren der De-facto-Herrschaft mehr als nachvollziehbar ist, dass die Demokratie als ein gewünschter Ankunftspunkt angesehen wird, legt die zeitliche Perspektive, die sich durch die vier Jahrzehnte ergibt, nahe, dass sie eher ein Ausgangspunkt ist. In diesem Sinne soll die Demokratie als die (notwendige) Basis verstanden werden, aus welcher der demokratische Wiederaufbau durchgeführt und das kollektive Schicksal entschieden werden kann. Die Demokratie ist notwendigerweise mit der Aktion des Aufbaus verbunden – zu dem in einem postdiktatorischen Kontext auch der Aspekt des Wiederaufbaus hinzu kommt. Beispiele dafür sind das unermüdliche Engagement von Menschenrechtsaktivist:inen, Überlebenden und ehemaligen politischen Gefangenen – sowie der Einsatz von Archäolog:innen und Anthropolog:innen, um eine Gesellschaft mit weniger Ungerechtigkeit und mehr Transparenz zu schaffen. Ebenso wie die Handlungen derjenigen, die sich jeden Tag darum bemühen, auf diesem Fundament die bestmögliche Welt zu gestalten.
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Fußnoten:
1 Der Begriff „Nie Wieder“ leitet sich von dem Ausdruck „Nie Wieder Faschismus!“ ab, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurde. Diese leicht übersetzbare Formel wurde auch in anderen Ländern des lateinamerikanischen Südkegels, wie Chile und Brasilien, ebenfalls in Bezug auf die Diktaturen angewandt. https://vorwaerts.de/artikel/77-jahre-kriegsende-nie-bedeutet (Abruf am 15.04.23)
2 Ley de punto final, Nr. 23.492 http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/20000-24999/21864/norma.htm (Abruf am 17.11.2023)
3 Ley de obediencia debida, Nr. 23.521 http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/20000-24999/21746/norma.htm (Abruf am 17.11.2023)
4 https://www.swissinfo.ch/spa/argentina-d-humanos_argentina-surca-los-cielos-para-descubrir-fosas-clandestinas-de-la-dictadura/46374588 https://www.naiz.eus/eu/info/noticia/20210216/argentina-busca-en-avion-y-mediante-tecnologia-laser-fosas-clandestinas-de-la-dictadura (Abruf am 17.11.2023)
5 www.elciudadanoweb.com/a-50-km-de-santa-fe-equipo-argentino-de-antropologia-forense-comenzo-a-excavar-en-busca-de-victimas/ (Abruf am 17.11.2023)
6 Dabei ist zu erwähnen, dass Grundstücke wie Campo de Mayo ca. 5.000 Hektar und Campo San Pedro 2.000 Hektar groß sind. Dazu: https://www.argentina.gob.ar/noticias/el-ministerio-de-justicia-invertira-130-millones-de-pesos-para-financiar-el-trabajo-del (Abruf am 17.11.2023)
7 In diesem Zusammenhang ist die Gründung 2014 des Teams für forensische Geologie (Equipo de Geología Forense – EGF) zu erwähnen, das sich aus Geologen der Universität von Río Cuarto (Río Cuarto, Córdoba) zusammensetzt, um ihr Fachwissen bei der Identifizierung illegaler Bestattungen einzusetzen und der Justiz zu unterstützen. https://www.unrc.edu.ar/unrc/n_comp.cdc?nota=28821 (Abruf am 10.11.2023)
8 https://www.argentina.gob.ar/noticias/20-anos-de-la-masacre-del-19-y-20-de-diciembre-de-2001 (Abruf am 24.11.2023)
9 Der Gesetzentwurf wurde von Patricia Walsh verfasst, der Tochter des Schriftstellers und Journalisten Rodolfo J. Walsh (1927–1977), der 1977 von den Sicherheitskräften entführt wurde und bis heute als verschollen gilt.
10 Nach Angaben der Staatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden in Argentinien seit dem Jahr 2006 knapp 296 Urteile wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhängt, wobei 1115 Personen verurteilt und 171 freigesprochen wurden. Derzeit laufen 15 Verfahren und 75 weitere Fälle warten auf einen Verhandlungstermin. Dazu: https://www.fiscales.gob.ar/lesa-humanidad/desde-2006-se-dictaron-296-sentencias-por-crimenes-de-lesa-humanidad-son-1115-las-personas-condenadas-y-171-las-absueltas/ (Abruf am 3.11.2023)
11 Seit Ende der 1980er Jahre führt die EAAF in anderen Ländern, in denen es ebenfalls zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, Untersuchungen durch und unterstützt die Bildung von forensischen Forschungsteams. Im Laufe der Zeit zeigt sich die Tätigkeit des argentinischen Teams in insgesamt 45 Ländern in Lateinamerika, Afrika, Asien, Osteuropa und Ozeanien. Dazu: https://eaaf.org/quienes-somos/nuestra-historia/ (Abruf am 3.11.2023)
12 https://eaaf.org/como-trabaja-el-equipo-argentino-de-antropologia-forense-rol-clave-en-la-identificacion-de-desaparecidos-tenemos-un-compromiso-asumido/ (Abruf am 3.11.2023)
13 Dies ist der Fall u. a. vom Colectivo de Arqueología, Memoria e Identidad de Tucumán (CAMIT) und dem Grupo Interdisciplinario de Arqueología y Antropología de Tucumán (GIAAT) in San Miguel de Tucumán, dem Centro de Estudios e Investigaciones en Arqueología y Memoria (CEIAM) in Rosario, dem Equipo Mendocino de Arqueología y Antropología Forense (EMAAF) oder dem Centro de Estudios e Investigaciones en Antropología y Arqueología (CEIAA) in San Juan. Diese NGOs arbeiten mit Menschenrechtsorganisationen, indigenen Völkern und Gemeinschaften, argentinischen Bundesjustizbehörden, nationalen Universitäten und anderen Einrichtungen zusammen.
14 https://www.argentina.gob.ar/derechoshumanos/ANM/rutve (Abruf am 3.11.2023)
15 https://www.argentina.gob.ar/derechoshumanos/ANM/iniciativa-latinoamericana-para-la-identificacion-de-personas-desaparecidas-ilid
16 https://www.pagina12.com.ar/390112-crisis-del-2001-en-argentina-la-represion-a-las-madres (Abruf am 23.11.23)
17 In Deutschland ist die so genannte Zeitgeschichtliche Archäologie seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahren zunehmend im Einsatz. Erste Beispiele für ihre Aktivität stellen archäologische Erfassungen 1986 am Standort der Gestapo in Berlin-Kreuzberg (Kernd’l 1990) und in der ehemaligen «Euthanasie»-Anstalt in Bernburg (Sachsen-Anhalt, damals DDR) (Stahl 2015) sowie 1988 im ehemaligen KZ-Außenlager Witten-Annen (Witten, Nordrhein-Westfalen) (Jakel 1993) dar.
18 Schlußfolgerungen der Untersuchung der IACHR in Argentinien wurden im folgenden Jahr veröffentlicht. Siehe: OAS-General Secretariat / Inter-American Commission oh Human Rights (1980). https://www.argentina.gob.ar/noticias/40-anos-de-la-historica-visita-de-la-cidh (access 4.23.23). Dazu: Goldman (2009)
19 Das so genannte Gamma-Modell, das erstmals von Bill Hillier und Julienne Hanson zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre präsentiert wurde, betrachtet Bewegung und Zirkulation durch die Quantifizierung von Tiefe und Durchlässigkeit der Zugangswege, über die Abhängigkeit eines Raumes von einem anderen und wie die Bewegung und der Weg innerhalb eines Raumes beeinträchtigt werden, sowie durch die Formen des Zugangs (die Ein- und Ausgänge des Ortes), die ihn je nach seiner Organisation als „distributiven“ oder „nicht-distributiven“ Raum einordnen. Dazu: Hillier/ Hanson 1984.
20 Die am 24. März 2004 angeordnete Entfernung der Porträts der ehemaligen Diktatoren Rafael Videla und Emilio Bignone, die seit der Diktatur in der Galerie der Nationalen Militärhochschule ausgestellt waren. Dazu entschuldigte sich ein Präsident zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens öffentlich für Staatsverbrechen. Beide Ereignisse stellen hochsymbolische Akte der Regierung dar, mit dem sie sich gegen die Ereignisse der Diktatur wendet – weitgehend vergleichbar mit dem Kniefall Billy Brandts 1970 in Warschau. https://www.youtube.com/watch?v=xTG-pihZ_WQ (Abruf am 8.12.2023)
21 https://apm.gov.ar/sites/default/files/Espacios%20de%20Memoria%20en%20la%20Argentina.%ü20Catalogo%20web.pdf (Abruf 23.11.2023)
22 Nationales Gesetz Nr. 26.691 über Stätten der Erinnerung von 2011. http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/180000-184999/184962/norma.htm (Abruf am 3.11.2023)
23 https://www.argentina.gob.ar/derechoshumanos/ANM/rutve/mapas (Abruf am 3.11.2023)
24 Diese Liste enthält auch Orte, an denen die Parapolizei bereits vor dem Staatsstreich von 1976 im Rahmen der Repressionsmaßnahmen der genannten Alianza Anticomunista Argentina (AAA) politische Gegner:innen inhaftiert hat. Dazu: Servetto 2008
25 https://www.argentina.gob.ar/derechoshumanos/sitiosdememoria/centrosclandestinos (Abruf am 15.04.23)
26 Im Einklang mit der Betonung der Menschenrechtspolitik wurde diese Behörde, die 1984 zunächst als Untersekretariat eingerichtet worden war, während der Präsidentschaft von Néstor Kirchner im Jahr 2003 zum Sekretariat befördert.
27 Durch gerichtliche Maßnahmen des „Innovationsverbots“, was sich auf die Untersagung von Bauaktivitäten oder andere architektonische Maßnahmen bezieht, um mögliche gerichtliche Beweise zu sichern.
28 Diese aus den Jahren der Diktatur stammende Furcht, die teilweise bis heute anhält, wird nicht zuletzt durch die „Abrechnungsfälle“ der letzten Jahre verstärkt. Ein exemplarischer Fall in diesem Sinne ist das (zweite) Verschwinden des Überlebenden und Zeugen Jorge Julio López im Jahr 2006 (Siehe Abb.9) www.omct.org/en/resources/urgent-interventions/presumed-forced-disappearance-of-mr-jorge-julio-l%C3%B3pez (Abruf am 02.12.2023)
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