Am 24. Oktober ging das 16. Gipfeltreffen der BRICS in Kasan zu Ende. Daran nahmen neben den zehn Mitgliedstaaten (BRICS+) weitere 25 Ländern der nichtwestlichen Welt teil. Insgesamt waren 42 Delegationen, darunter 24 Staats- und Regierungschefs, nach Kasan gereist. UN-Generalsekretär António Guterres, der ebenfalls anwesend war, hielt in der Abschlussveranstaltung eine Rede, in der er nachdrücklich die Prinzipien der UN-Charta beschwor sowie Frieden in der Ukraine, im Nahen Osten und im Sudan forderte. Für das Gastgeberland Russland, das im Vorfeld des Treffens über 200 Veranstaltungen organisiert hatte, war der BRICS-Gipfel ein großer diplomatischer Erfolg. Präsident Wladimir Putin hatte 17 bilaterale Treffen mit Spitzenpolitikern. Nachdem die fünf ursprünglichen Mitglieder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika auf dem Vorjahrsgipfel in Johannesburg bereits die Aufnahme von fünf neuen Mitgliedern – Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – beschlossen hatten, einigten man sich in Kasan auf die Aufnahme von 13 weiteren Staaten als Partner der BRICS+. Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil alle Beschlüsse der BRICS im Konsens entschieden werden.
Beim Blick auf die regionale Verteilung der zehn BRICS+-Länder fallen drei Dinge auf: Erstens bildet Eurasien mit Russland, China und Indien das Gravitationszentrum der Staatengruppe; zweitens sind sowohl Westasien mit Iran, Saudi-Arabien und den VAE als auch Afrika mit Ägypten, Äthiopien und Südafrika prominent vertreten; drittens ist Brasilien bislang das einzige lateinamerikanische Land der BRICS+. Das führt uns zu der Frage, wie das wechselseitige Verhältnis zwischen BRICS und Lateinamerika im Regionalvergleich zu bewerten ist.
Brasilien als Gründungsmitglied der BRICs
Dass Brasilien zu den vier Gründungsmitgliedern zählt, ist vor allem auf die Kombination folgender Faktoren zurückzuführen: Erstens ist es wie die anderen drei ein wichtiges Schwellenland, das zweitens als größter Staat Lateinamerikas den Status einer Regionalmacht hat. Diese beiden Eigenschaften gaben drittens den Ausschlag dafür, dass Jim O’Neill – Chefvolkswirt von Goldman-Sachs und der „Erfinder“ des Akronyms BRICs – im Jahr 2001 Brasilien zusammen mit Indien, China und Russland zu einer Gruppe zusammenfasste, die seiner Meinung nach die Länder mit dem dynamischsten und aussichtsreichsten Wachstum der nächsten Jahre umfassen würde. Dies nahmen viertens die Außenminister der vier genannten Staaten zum Anlass, um sich 2006 am Rande der UN-Vollversammlung erstmals zu treffen. Dem kam fünftens entgegen, dass Luiz Inácio da Silva (Lula), der seit 2003 als Präsident Brasilien regierte, als ausgewiesener linker Politiker eine größere Unabhängigkeit von den USA anstrebte. 2009 fand das erste Gipfelreffen der BRICs in Jekaterinburg (Russland) statt. Im Dezember 2010 wurde Südafrika als fünftes Mitglied in den Klub aufgenommen, der seitdem unter dem Label BRICS firmiert. 2025 wird Brasilien turnusmäßig den BRICS-Gipfel ausrichten. Zuvor – am 18. und 19. November 2024 – wird Rio de Janeiro Tagungsort des G20-Gipfels sein.
Als Gründungsmitglied der BRICs profitiert Brasilien zweifellos vom Aufstieg der Ländergruppe zu einem „global player“. Zugleich besteht gegenüber Russland, Indien und China, die als RIC-Format bereits vor den BRICs zusammengearbeitet haben, ein deutliches Machtgefälle. Dies resultiert sowohl aus dem Eigengewicht der genannten Großmächte als auch aus deren geopolitischen Lage in Eurasien, das sich zum Zentrum der Weltökonomie entwickelt. Brasilien liegt hingegen in der „westlichen Hemisphäre“, die von den USA immer noch als ihre „natürliche“ Sicherheitszone betrachtet wird und aus eurasischer Perspektive außerhalb der „Weltinsel“ liegt. In der internationalen Arbeitsteilung fungiert das lateinamerikanische Land nach wie vor als Rohstofflieferant und Produzent von Agrarerzeugnissen. Die geopolitischen und geoökonomischen Unterschiede zu den RIC-Ländern haben zweifellos Auswirkungen darauf, wie Brasilien das gemeinsame Interesse am Aufbau einer multipolaren Weltordnung formuliert und umsetzt.
Spannungen im Zuge des Erweiterungsprozesses
Der Kasan-Gipfel hat die brasilianische Position innerhalb der BRICS+ in ein gewisses Zwielicht gerückt. Zum einen hat Präsident Lula seine Teilnahme überraschend abgesagt. Als Grund wurde ein „häuslicher Unfall“ angegeben. In Verbindung mit dem Veto, das Lula kurzfristig gegen die anstehende Aufnahme Venezuelas eingelegt hatte, wirft sein Fernbleiben Fragen auf. Mit Blick auf die Rolle Brasiliens als Gastgeber der beiden Gipfel – G20 im November und BRICS+ voraussichtlich im Juli 2025 – wird sich zeigen, ob die derzeitigen Spannungen vorübergehender Natur sind oder sich vertiefen werden.
Zum anderen steht Lula in dreifacher Weise unter Druck. Im eigenen Land muss er erstens einen machtpolitischen Balanceakt vollführen, dessen Ausgang ungewiss ist. In Lateinamerika hat zweitens der Amtsantritt von Javier Milei, der als neugewählter Präsident Argentiniens einen reaktionären Staatsumbau mit der „Kettensäge“ betreibt, die Hoffnungen Lulas zunichte gemacht, das Gewicht der Region innerhalb der BRICS+ zu erhöhen. Milei hat nicht nur die Aufnahme in die Staatengruppe, für die sich Brasilien stark gemacht hatte, ausgeschlagen. Er hat im April 2024 zudem die Aufnahme Argentiniens als „globaler Partner“ der NATO beantragt und sich damit als aktiver regionaler Gegenspieler Lulas positioniert. Drittens zeugt Lulas Veto gegen die Aufnahme Venezuelas als BRICS-Partnerland davon, dass er bereit ist, dem massiven Druck aus Washington nachzugeben.
Venezuela, das sich in einer schweren Krise befindet, muss sich seit mehr als 20 Jahren gegen die massive Einmischung der USA wehren, die mehrfach und mit allen Mitteln – außer einer direkten militärischen Intervention – versucht haben, das Land mit einem Regime Change in ihren Einflussbereich zurückzuholen. Nach den jüngsten Wahlen im Juli 2024 hat die Biden-Administration der venezolanischen Regierung Wahlbetrug vorgeworfen, die Sanktionen verschärft und die Kampagne zum Sturz der Regierung von Nicolas Maduro intensiviert. Dass Lula auf das Narrativ Washingtons zurückgreift, um sein Veto gegen die Aufnahme Venezuelas zu begründen, lässt tief blicken. Gegen Nicaragua, das ebenfalls aufgenommen werden sollte, hat Brasilien ebenfalls sein Veto eingelegt. Wie Lula sich im verschärften Ringen um den Aufbau einer multipolaren Weltordnung positionieren wird, muss die Zukunft zeigen.
Wachsende Bedeutung und regionale Verschiebungen
Die Liste der Staaten, die in Kasan als Partnerländer der BRICS bestätigt wurden, umfasst 13 Kandidaten – Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam. Betrachtet man diese Liste unter regionalen Gesichtspunkten, dann fallen folgende Punkte auf: Erstens ist die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der auch Russland angehört, mit drei Neuzugängen (Belarus, Kasachstan, Usbekistan) prominent vertreten. Zweitens sind mit Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam erstmals ASEAN- Mitglieder vertreten. Alle vier zählen zu den Schwergewichten der südostasiatischen Ländergruppe, der außerdem noch Brunei, Kambodscha, Laos, Myanmar, die Philippinen und Singapur angehören. Drittens hat mit der Türkei ein NATO-Mitglied seine Aufnahme in die BRICS beantragt. Dass sich Präsident Recep Tayyip Erdogan in Kasan mit Wladimir Putin, Xi Jinping und Narendra Modi zu bilateralen Gesprächen traf, unterstreicht den hohen Stellenwert der türkischen Mitgliedschaft. Mit Algerien, Nigeria und Uganda als Partnerländer ist viertens die Gruppe der afrikanischen Länder innerhalb der BRICS+ nunmehr auf sechs angewachsen.
Die BRICS 23 umfassen damit neben dem eurasischen Kern (RIC) sechs afrikanische Länder, je vier Länder Südost- und Westasiens (einschließlich Türkei), drei GUS-Länder sowie drei lateinamerikanische Länder. Durch die jüngste Erweiterungswelle ist die Zahl der islamischen Staaten, die unter den fünf ursprünglichen Mitgliedern (BRICS) gar nicht vertreten waren, auf acht (Ägypten, Algerien, Iran, Indonesien, Kasachstan, Malaysia, Saudi-Arabien, VAE) angewachsen. Der kontinentale Schwerpunkt, der von Anfang an in Asien lag, hat sich mit den BRICS 23 erweitert: Neben China und Indien, in denen zusammen 35 Prozent der Weltbevölkerung beheimatet sind, gehören zehn weitere asiatische Länder zu den BRICS 23. Auf die 23 Länder entfallen zusammen 56 Prozent der Weltbevölkerung, 47,8 Prozent des globalen kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP-KKP) und fast die Hälfte der weltweiten Erdölförderung des Jahres 2022. Die entsprechenden Kennziffern für die führenden westlichen Industrieländer der G7 (USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Japan) sind 9,86 Prozent (Bevölkerung), 29,08 Prozent (BIP-KKP) und 24,2 Prozent (Erdölförderung).
Lateinamerika als Teil des globalen Südens
In der Abschlusserklärung des Kasaner Gipfels, die 134 Punkte umfasst, stehen der Aufbau einer multipolaren Weltordnung, die Stärkung der regionalen Sicherheit, die Durchsetzung einer gerechten Entwicklung und der Ausbau der Kontakte zwischen den Menschen im Mittelpunkt. Diese Agenda ist klar an den Bedürfnissen und Interessen des globalen Südens ausgerichtet. In diesem Sinne sind die BRICS ein nicht-westlicher Zusammenschluss der Mehrheit der Weltbevölkerung. Diese hat erkannt, dass nur der Aufbau einer gerechten und stabilen multipolaren Weltordnung das Überleben der Menschheit sichern kann. Das strukturelle Hauptproblem der BRICS besteht darin, dass ihre Agenda mit der unipolaren Weltordnung des Westens kollidiert. Am deutlichsten wird dies an den drei Konflikten in der Ukraine, in Westasien und in der ostasiatischen Küstenzone. In Kasan stand der Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser und die damit verbundenen Konflikte im Zentrum der Debatten (Punkt 28 bis 35 der Deklaration).
Gemessen an diesen Konflikten, die alle drei das Potential haben, einen dritten Weltkrieg auszulösen, erscheint die Situation in Lateinamerika fast ruhig. Lediglich die gespannte Lage in Haiti fand in der Deklaration des 16. BRICS-Gipfels ihren Niederschlag (Punkt 41). Mit Blick auf Lateinamerika waren besonders die Aussagen zur Verhinderung und Bekämpfung illegaler Finanzströme, Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung, Drogenhandel und Korruption (Punkt 49), die Forderung von Reformen der internationalen Finanzarchitektur, um den Erfordernissen der globalen Wirtschaftsführung gerecht zu werden und die internationale Finanzarchitektur integrativer und gerechter zu gestalten (Punkt 62 bis 68) sowie die Forderung nach Abschaffung von einseitigen Wirtschaftssanktionen (Punkt 22) von großer Relevanz.
Wie aktuell besonders Punkt 22 ist, zeigt die Abstimmung der UN-Vollversammlung am 30. Oktober. Zum 32. Mal in Folge verlangte sie die Aufhebung des von den USA verhängten Wirtschaftsembargos gegen Kuba. 187 der 193 Mitgliedstaaten stimmten für die Aufhebung des Embargos; nur die USA und Israel votierten dagegen, während sich Moldawien enthielt. Ähnlich eindeutig sind die zahlreichen Beschlüsse der UNO gegen das brutale, völkerrechtswidrige Vorgehen Israels gegen die palästinensische Bevölkerung, das sich nach dem 7.Oktober 2023 zum Genozid gesteigert hat. In beiden Fällen zeigt sich einerseits die wachsende Isolierung des Westens, auf die dieser andererseits mit wachsender Gewalt und Aggressivität reagiert, was ihn immer mehr in die Sackgasse und die Menschheit an den Rand ihres Untergangs treibt. Beide Aspekte, die engstens miteinander verbunden sind, machen deutlich, wie schwer der Weg zu einer neuen, gerechten Weltordnung sein wird. Der 16. BRICS-Gipfel ist eine entscheidende Weichenstellung auf diesem Weg.
Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, gc [2] Quetzal-Redaktion, jdaka