Schwer- oder Leichtindustrie, Staatsbetriebe oder Selbstverwaltung
Die Frage nach der Vorbildrolle anderer sozialistischer Staaten ist natürlich nur oberflächlich. Entscheidend ist vielmehr die zu etablierende Wirtschaftsstruktur, die konkrete Wirtschaftsplanung und -politik. Einen wichtigen Punkt schien Che Guevara von Anfang an richtig erkannt zu haben. Denn für ihn bestand der beste Weg zur Industrialisierung Kubas in der Anwendung neuer Technologien. Hierbei war der komparative Wettbewerbsnachteil gegenüber entwickelten Ländern am geringsten. Der Fokus sollte also auf Elektronik, Feinmechanik, Chemie- und moderne Metallurgie gelegt werden. Diese Sektoren böten großes Wachstumspotential. Außerdem könnte sich Kuba damit auf dem Weltmarkt beweisen. Gerade bei der Elektronik sah er seinen Inselstaat als internationalen Vorreiter. Soweit so gut. Dieser Logik folgten in der gleichen Zeit auch andere Länder, allen voran Japan und Taiwan – mithin kapitalistische Staaten. In Guevaras Vorstellungen würden die Elektronikindustrie und Automatisierung jedoch vor allem einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten, denn die Gesellschaft würde durch die Maschine befreit, der „neue“ Mensch durch mehr Zeit überhaupt erst ermöglicht.
Im Gegensatz zur kapitalistischen Entwicklung in Taiwan und Japan, die zeitgleich auf Elektronik als Entwicklungsvehikel setzten und massiv Klein- und Mittelunternehmen förderten, folgte Che Guevara dem Modell „sozialistischer Großbetrieb“. Dieser Weg war nicht nur sehr kapitalintensiv; es fehlten auch das Wissen, die Infrastruktur, die Vor- und Rückwärtsverknüpfungen und nicht zuletzt der Markt. Ein weiterer Trugschluss Guevaras lag darin, dass er in einer Gesellschaft, die durch permanente Unterbeschäftigung und geringe Einkommen gekennzeichnet war, ausgerechnet den Faktor Arbeit befreien wollte, der doch zunächst einmal in das Wirtschaftssystem hätte integriert werden sollen. Illustrativ für diese Entwicklung ist die Zentralisierung in der Schuhindustrie. Für den Industrieminister war die Liquidierung einer Unmenge an – seiner Ansicht nach – ineffizienten kleinen Schustereien ein großer Erfolg, konnten dadurch doch 6000 Arbeiter für andere Bereiche gewonnen werden, so Guevaras Argument. Allerdings gab es in dieser Zeit für die Arbeiter überhaupt noch keine Beschäftigungsalternativen – zumindest unter rationellen Gesichtspunkten. Somit wäre eine arbeitsintensive Industrialisierung sicherlich der bessere Weg als eine kapitalintensive Entwicklung gewesen.
Selbstverwaltung lehnte Che Guevara als kapitalistisches Element innerhalb des sozialistischen Systems grundsätzlich ab. Er sah es als erwiesen an, dass die Genossenschaften die bürgerlichen Werte nicht abzustreifen und den „neuen Menschen“ nicht zu erschaffen vermögen. Der „neue Mensch“ war für ihn eher freiwilliger Arbeiter als freier Genosse. Und es ging Guevara auch stets um die Zentralisierung, nicht um die Dezentralisierung. Gemäß dieser Logik zog er Großbetriebe entschieden den (kleinen) Genossenschaften vor. Das Paradox in Guevaras Denken liegt allerdings darin, dass er zwar auf Zentralisierung setzte, aber zugleich auch gegen den Bürokratismus kämpfte. Er konnte und wollte diesen unauflöslichen Widerspruch nicht anerkennen. Einen anderen Antagonismus gab es zwischen der Zentralisierung und der Demokratie: Denn da die Zentralisierung verlangte, entscheidende Maßnahmen immer auf der allerhöchsten Leitungsebene zu treffen, musste die Beteiligung der Arbeitermassen am Entscheidungsprozess notgedrungen hinten anstehen. Da half es nichts, dass er stets die maximale Initiative des Individuums forderte und betonte. „Ein Plan“, sagte er, „bei dem die Masse nicht beteiligt wird, ist ein Plan, der ernsthaft zu scheitern droht.“
Genossenschaften böten keinen Ausweg, da war sich Che Guevara sicher. Das beste Beispiel hierfür seien die sowjetischen Kolchosen (genossenschaftlich organisierte Großbetriebe). Er sah in ihnen gar eine kapitalistische Superstruktur innerhalb des sozialistischen Systems. Der hybride Charakter des ökonomischen (Selbst-)Managements innerhalb einer sozialistischen Wirtschaftsstruktur stünde dem Sozialismus (seiner Lesart) klar entgegen. Deshalb betonte er stets, dass Staatseigentum wichtig ist, um die sozialistische Transformation zu gewährleisten. In dieser Denkart ist demnach für Che Guevara das ideale Modell die sowjetische Sowchose (der staatlich gelenkte und in staatlichem Besitz befindliche Großbetrieb) oder die chinesische Volkskommune. Doch warum Staatseigentum gegen gesellschaftliches Eigentum ausspielen? Warum sollten die Arbeiter nicht selbst die Kontrolle über den Produktionsprozess übernehmen? Guevara jedenfalls war in dieser Frage recht dogmatisch: Das Kollektiv (der Genossenschaft) stünde dem großen Kollektiv (der Nation) entgegen. Ganz Kuba sollte am besten als eine einzige Großfabrik gesehen werden. Damit wäre dieses Gebilde befreit vom Handel und unterläge einzig und allein einem zentralen Plan. Genossenschaftliches Eigentum stellt demnach bei Guevara keine Besitzform dar, die mit dem Sozialismus kohärent ist. Vielmehr ging es ihm (auch in seinem praktischen Handeln als Industrieminister) immer darum, individualisiertes kollektives Eigentum in soziales Eigentum zu überführen.
Guevaras Wirtschaftsdenken ähnelte folglich eher Stalins Industrialisierung als Lenins und Trotzkis Neuer Ökonomischer Politik (NÖP). Er nahm sogar explizit Bezug auf diesen Punkt. Für ihn war nämlich die NÖP „das große Trojanische Pferd des Sozialismus“, weil es die materiellen Interessen zum ökonomischen Leitmotiv erhebt. Genossenschaften (und Kleingewerbe) könnten deshalb per se den „neuen Menschen“ nicht hervorbringen. Aber – das sei an dieser Stelle gefragt – vermochte das die zentralisierte Großwirtschaft? Vielleicht hätte eine intensivere Förderung von Genossenschaften genau diese Initiativen in den Menschen geweckt, die er so sehr ersehnt hat. Denn die Zentralisierung Che Guevaras bewirkte genau jene Bürokratisierung der Wirtschaft, die er zeitlebens ablehnte.
In der konkreten Tagespolitik sah er sich neben der Frage der Wirtschaftsstruktur als Industrieminister schnell auch der Frage gegenüber, wie der Aufbau der sozialistischen Wirtschaft (auf Grundlage der Groß- und Schwerindustrie) finanziert werden soll. Diese entscheidende Frage bildete den Ausgangspunkt für seine Ausarbeitungen zum „System der Haushaltsfinanzierung“ (Sistema Presupuestario de Financiamiento).
Das System der Haushaltsfinanzierung
Das System der Haushaltsfinanzierung machte den Kern der Zentralisierung der Wirtschaft aus, nämlich die Errichtung neuer Industrien unter Nutzung von Skaleneffekten. Ziel war die Schaffung vieler Arbeitsplätze in der Großindustrie (zu dann niedrigen Stückkosten) und eine Erhöhung der Produktivität gegenüber den traditionell wirtschaftenden Branchen oder dem Kleinsektor. Diese Industrien erhielten gemäß Kostenvoranschlag eine Finanzierung durch die Zentralbank – fest geplant – und auch ohne spätere Abweichungen vom Plan. Die Unternehmen wiederum mussten sämtliche Einnahmen an die Zentralbank abgeben. Sie hatten also weder eigene liquide Mittel noch eine eigene Bankverbindung.
Der Vorteil dieser Maßnahme lag auf der Hand: Denn erstmals wurden die Produktionszahlen und Einnahmen statistisch erfasst und zentral verwaltet. Es gab nun ein Planungsinstrument und eine Kontrollmöglichkeit (über die Finanzierung). Der Nachteil war die starre Struktur und die geringe Flexibilität innerhalb dieser Planwirtschaft. Denn ausgegeben werden durfte nur das, was im Plan stand – für Gehälter, Investitionen und andere Posten. Es gab somit weder Kredit noch eigenständiges Wirtschaften. Die Unternehmen verfügten über keine eigenen Finanzressourcen und konnten auch keine Analyse zu den Ergebnissen des Produktionsprozesses vorlegen: Es wurde einfach – produziert. Zu welcher Rentabilität, zu welchen Preisen, das konnte nicht nachvollzogen werden. Der Staat lenkte über den Plan und kontrollierte direkt und zentral die Unternehmen. Daher förderte Guevaras Steuerinstrument des Haushaltsplans ein Wirtschaftssystem, das von seinen Grundbedingungen her nur konform mit der Großindustrie sein konnte. Anstelle von vielen Zuckerfabriken sollte es beispielsweise nur noch das „Zucker-Großkombinat“ (Empresa Consolidada de Azúcar) geben, ein Zusammenschluss aus allen Zuckerfabriken des Landes – eine sozialistische Gigantonomie. Hier bezog sich Guevara ganz klar auf das sowjetische Modell (unter anderem mit Verweis auf Ivonin, den er demnach studiert haben muss.)
Das Instrument der Finanzierung gemäß Haushaltsplan entsprach freilich den allgemeinen Zielen der Planwirtschaft: Es ging nicht um eine kapitalistische Rentabilität der Unternehmung, sondern um die Erfüllung des Plans als Ausdruck des Weges hin zur neuen Gesellschaft. Guevara lehnte folglich auch die Werttheorie ab, da diese der Inbegriff des kapitalistischen Marktes sei. Mit der Ablehnung der Werttheorie und des Marktes als solchen muss folglich auch das Geld eine andere Rolle ausfüllen als im Kapitalismus. Geld ist für Guevara ein Ergebnis des Handels – und damit der vorgelagerten Produktion. Verschwindet irgendwann (im Zuges des globalen Überganges zum Sozialismus) der Handel, weil er vollumfänglich der Planwirtschaft Platz gemacht hat, dann verschwände auch das Geld (und der Kredit und die Banken). Mit dem Verschwinden des Geldes, so hoffte er, würde auch beim „neuen Menschen“ das Interesse am Materiellen abnehmen oder – im besten Falle – keine Rolle mehr spielen.
Doch schon bald manifestierte sich der Widerspruch zwischen Guevaras wirtschaftspolitischen, sozialistischen Idealen und der Realität Kubas nach der Revolution im Finden von (aussagekräftigen) Preisen. Kubas Wirtschaft geriet immer mehr ins Schlingern. Im Februar 1964, also schon im Angesicht der heraufziehenden ökonomischen Krise, bemerkte Guevara in „Sobre el Sistema Presupuestario de Financiamiento“, dass es müßig sei, darüber zu debattieren, ob die Selbstverwaltung für die Wirtschaftseinheiten gegenüber der zentralisierten Politik bessere Ergebnisse gebracht hätte. Ein Eingeständnis? Jedenfalls gingen seine Ideen und Ideale immer mehr an der Realität vorbei. Sie blieben Theoriegerüste auf einer realpolitischen Baustelle. Es fehlten zur Umsetzung der Pläne qualifizierte Kader, Materialien, Daten und Informationen und nicht zuletzt auch oft das Verständnis bei den Arbeitern.
Die erste „Gran zafra“
Guevara muss dies selbst erkannt haben, spätestens als Kuba 1964 wieder daran ging, die Zuckerrohrproduktion auszuweiten. Fidel Castro initiierte – offensichtlich auf Druck der Sowjetunion – die erste „Zafra-Kampagne“. Mit dieser Kampagne wollte Kuba die Zuckerrohrproduktion wieder erhöhen. Sie war von 6,9 Millionen Tonnen im Jahr 1961 auf 3,9 Millionen Tonnen im Jahr 1963 gefallen. Das erklärte Ziel lautete, Tauschwert für den Handel mit der Sowjetunion (v.a. Waffen und Erdöl) zu erwirtschaften. Auch die Industrialisierung (Bezahlung von Maschinen) sollte durch diese Einnahmen finanziert werden und Kuba endlich den take-off (in Anlehnung an Rostow) erreichen.
Entsprechend wurden alle Industrialisierungsanstrengungen in anderen Sektoren zurückgestellt. Die landesweite Mobilisierung von Arbeitern führte zu Engpässen und Fehlorganisation in allen Branchen. Doch der Fokus lag und blieb auf dem Zuckerrohr. Sechs Millionen Tonnen sollten 1965 geerntet werden. 1970 stand schließlich die Zafra de las 10 millones an. Das Scheitern der Gran Zafra hat, nach konservativer Rechnung, die begonnene Wirtschaftsentwicklung um mindestens zehn Jahre verzögert.
Diese Krise hat Che Guevara allerdings nicht mehr erlebt. Im April 1965 tauschte er seinen Ministerposten wieder mit dem Engagement als Revolutionär. Er reiste inkognito in den Kongo, 1966 schließlich nach Bolivien. Sein tragischer Tod am 9. Oktober 1967 machte sein Wirken als Industrieminister fast vollkommen vergessen. Che Guevara starb als Revolutionär, nicht als Ökonom.
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Bildquellen: [1] Sven Werk; [2], [3] Quetzal-Redaktion, pg