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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der Putsch in Brasilien im Licht globaler Strategien

Steffen Flechsig | | Artikel drucken
Lesedauer: 16 Minuten

Brasilien: Präsidentin Dilma Rousseff - Foto: Agencia BrasilMitte Mai wurde Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) aus vorgeschobenen Gründen und von langer Hand vorbereitet durch eine reaktionäre und korrupte Mehrheit im Kongress ihres Amtes enthoben. An ihrer Stelle regieren derzeit Angehörige der alten Eliten unter Führung von Michel Temer das Land. Das impeachment wurde von großen Unternehmerorganisationen des Landes, wie dem Industriellenverband von Sao Paulo FIESP, der  schon den Militärputsch von 1964 unterstützt hatte, finanziert und befürwortet. Die Unterstützer gehen aber weit über nationale Politik hinaus. Namhafte Stimmen aus Lateinamerika und den USA betonen nachdrücklich globalstrategische Zusammenhänge und Hintergründe der Vorgänge in Brasilien. Auf einige soll hier verwiesen werden.

Der  Putsch – Ein Kapitel einer globalen Strategie

Es wäre falsch, meint der Befreiungstheologe Leonardo Boff, weltweit bekannt durch ein 1985 vom Vatikan auferlegtes einjähriges Lehr- und Redeverbot, die Krise Brasiliens nur von Brasilien aus zu denken. Krise und Putsch in Brasilien sind für Boff in die internationalen Auseinandersetzungen um Macht und Einflußsphären einzuordnen, die Kräftekonstellationen im Rahmen des sogenannten neuen Kalten Krieges, hauptsächlich zwischen den USA und China, sowie einen Aufschwung der Rechten in der Welt, ausgehend von den USA und Europa, widerspiegeln.  Sie stellen für  ihn „nur ein Kapitel einer globalen Strategie besonders der großen Konzerne, des Finanzsystems und der Regierungen der Zentren“ dar. Diese bestehe jetzt in Brasilien und Lateinamerika darin, „die progressiven Regierungen zu destabilisieren und sie als aggregierte Helfershelfer auf die Linie der globalen Strategien zu bringen“[1].

J. Carlos de Assis, Ökonom und Lehrender für internationale Wirtschaft an der Universität von Paraíba, wies bereits Anfang 2015 darauf hin, dass die Kooperation Brasiliens im Rahmen der BRICS (Zusammenschluss von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) mit den Zielen der Globalstrategie der USA kollidiert. „Wir sind BRICS, und BRICS bedeutet eine brasilianische Annäherung an den zentralen strategischen Feind der USA, an Russland. Und in BRICS selbst ist China, das sich als strategischer Verbündeter Russlands positionierte. Indien betreibt ein doppeltes Spiel, und Südafrika zählt nicht viel. Wir sind das unmittelbare Risiko… In einem eventuellen Konflikt mit Russland können die Amerikaner von uns Loyalität fordern wollen. Leider machen viele Brasilianer dieses Spiel mit.“ Dabei hat er „wenig patriotische Leute wie die Führer der FIESP“ im Auge, die unsere Zukunft „in engeren Beziehungen mit den USA und Westeuropa“ sehen. Assis glaubt, dass die USA, um ihre Interessen durchzusetzen, „mitwirken werden, uns in unserer internen Krise zu destabilisieren“[2].

Rückkehr der Hegemonialpolitik der USA in Südamerika

Auch nach dem Historiker Moniz Bandeira, einer der besten Kenner der US-amerikanischen Politik und der Beziehungen Brasilien – USA und Autor des Buches „Der zweite Kalte Krieg – Geopolitik und die strategische Dimension der USA“ (2013), muss der „kalte Putsch“ in einem internationalen Kontext verstanden werden, in dem die USA versuchen, ihre Hegemonie über Südamerika wieder zu errichten und vor allem Brasilien wieder zu kontrollieren. Bandeira ist überzeugt, dass die USA nicht gewillt sind, „eine Macht wie Brasilien im Südatlantik zu tolerieren, die eine Politik der Autonomie verfolgt“ und ein wesentlicher Baustein der BRICS-Kooperation ist. Vor allem „die wachsende Präsenz Chinas in Ländern Lateinamerikas und besonders in Brasilien bereitet der Außenpolitik der USA große Sorgen“[3].

Kollision mit militär-strategischen Interessen der USA und ihrer Rüstungsindustrie

Nach Bandeira hat das Streben der PT-Regierungen nach Unabhängigkeit auch auf militärisch-strategischem Gebiet wichtige Interessen der USA und ihrer Rüstungsindustrie berührt. Als Beispiele nennt er die brasilianische Nuklearpolitik und -industrie (Brasilien verfügt mit über die modernsten Zentrifugen für die Urananreicherung der Welt); die Nichtunterzeichnung des Zusatzprotokolls zum Atomwaffensperrvertrag zwecks Verhinderung von Inspektionen (und Spionage); den gezielten Ausbau der maritimen Potentiale durch PT-Regierungen, insbesondere der Bau eines atomgetriebenen U-Bootes mit französischer Technologie zur Schaffung eines eigenen Sicherheitsraums im Südatlantik und zum Schutz der strategisch wichtigen Ölvorkommen; den Kauf von Helikoptern Russlands; Kauf und Bau von Kampflugzeugen vom Typ Grippen gemeinsam mit Schweden anstatt mit Boeing; die Kündigung eines Vertrages mit den USA über eine Raketenabschußbasis auf der Insel Alcantara und vor allem die anhaltende Zurückweisung der Bestrebungen der NATO durch die Regierung Rousseff, ihr Einfluß- und Operationsgebiet im Südatlantik auszudehnen. All das habe die USA bewogen, auf einen Regimewechsel in Brasilien zu setzen[4].

In die neuen hegemonialen Bestrebungen der USA fügen sich für Bandeira Verhandlungen der Obama-Administration mit der argentinischen Regierung unter Macri über die Errichtung von zwei Militärbasen in strategischen Regionen Argentiniens ein. Eine in Ushuaia (Provinz Feuerland, angrenzend an die Antarktis) und die andere im Drei-Ländereck von Argentinien, Brasilien und Paraguay, die Region mit dem größten unterirdischen Süßwasserspeicher der Erde, dem Guarani-Aquifer.

Angriff auf eigenständige brasilianische Außenpolitik und BRICS

Brasilien: BRIC 2010 - Foto: Agencia Brasil, José CruzDie auf Eigenständigkeit orientierte Außenpolitik Brasiliens unter Lula und Dilma zielte auf eine multipolare Welt, die nicht dem Diktat der USA unterliegt. Sie führte zum Bündnis der BRICS-Gruppe mit China, Russland, Indien und Südafrika, förderte die lateinamerikanische Integration, wenn auch nicht entschieden genug, und die Süd-Süd-Kooperation. Ein entscheidendes Moment in der Neuausrichtung der brasilianischen Außenpolitik war die Ablehnung des Projektes der USA über die Schaffung einer Amerikanischen Freihandelszone (span.: ALCA; gemeint ist das gesamte  Gebiet von Alaska bis Feuerland unter Führung der USA). Lateinamerika hatte sich, so Noam Chomsky, „in den letzten 10 bis 15 Jahren bis zu einem gewissen Punkt von ausländischer Herrschaft, hauptsächlich von den USA, befreit… eine dramatische Entwicklung in Sachen Außenpolitik“[5]. Das sieht auch der Historiker und Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein so: „Die Außenpolitik Brasiliens unter dem Kommando der PT markierte eine bedeutende Veränderung ihrer historischen Unterwerfung unter die geopolitischen Imperative der USA. Brasilien übernahm Führung in Lateinamerika und schuf eigene lateinamerikanische Strukturen, die Kuba einschlossen und die USA und Kanada ausschlossen“.

Zum besseren Verständnis der Ereignisse beschreibt Wallerstein die Arbeiterpartei PT und ihre Stellung in der brasilianischen Politik folgendermaßen: Die 1980 gegründete PT war eine „sozialistische, antiimperialistische Partei, … eine für das traditionelle politische und militärische Establishment Brasiliens gefährliche revolutionäre Partei, die die Wirtschaft und die konservativen sozialen Strukturen bedrohte. Die USA sahen ihren ‚Antiimperialismus‘ als hauptsächlich gegen die dominierende Rolle der USA in der Lateinamerika-Politik gerichtet an, was er in der Tat war … Die PT in der Präsidentschaft (2003-2016) war etwas weniger radikal, als ihre Gegner fürchteten, aber noch radikal genug, diese nicht ruhen zu lassen in ihrem Wunsch, sie zu zerstören, nicht nur diejenigen, die das Amt inne haben, sondern auch als eine Bewegung mit einer legitimen Marke in der brasilianischen Politik“[6].

Brasilien war auf Grund seiner Größe immer ein unbequemer Nachbar für die USA. Die Außenpolitik des Landes schwankte stets zwischen Dependenz und Unabhängigkeit, zwischen Servilität gegenüber den USA und dem Streben nach Eigenständigkeit. Aber mit den Aktivitäten der BRICS-Gruppe, betont S. Martín-Carrillo vom Lateinamerikanischen Strategiezentrum für Geopolitik in Quito, stellte die Außenpolitik der brasilianischen PT-Regierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Hegemonie der USA und die in Bretton Woods errichtete Ordnung mit IWF, Weltbank und dem US-Dollar als Leitwährung global in Frage. Die Bildung einer BRICS-Entwicklungsbank bedeutete „die Schaffung einer Finanzierungsalternative fern der von den USA beherrschten Institutionen“ und „außerhalb der neoliberalen Politiken, die an die Bedingungen der Finanzierung durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds geknüpft sind“[7]. Das mußten die USA als Herausforderung, wenn nicht als Bedrohung ihres Herrschaftsanspruchs ansehen. Insofern vermuten viele in Lateinamerika wie der argentinische Politologe Juan Manuel Karg im Absetzungsverfahren „einen Angriff auf die BRICS-Gruppe“ und „den Plan, Brasilien international wieder auf die Linie der USA und der EU zu führen“[8].

Rückführung der brasilianischen Außenpolitik in „ihr natürliches Bett“ und Freihandel – ein Schlag gegen den Mercosur und die regionale Integration

Brasilien: Sojaernte in der Landwirtschaft - Foto: Agencia BrasilFür die am meisten mit dem Weltmarkt und internationalen Kapital verbundenen und abhängigen Sektoren der Wirtschaft (Bergbau, Landwirtschaft, Banken) werfen Zollunion und gemeinsamer Regionalmarkt seit 2013 zu wenig Profite ab. Sie streben „die wirklich relevante Integration“ mit den entwickelten Ländern und die neoliberale Globalisierung an. Für sie war ALCA das große Geschäft und nicht der Mercosur. Der neue Außenminister José Serra hält Mercosur für eine „Farce“ und ein „größenwahnsinniges Delirium“, das Brasilien daran hindere, zu größeren Flügen im Welthandel anzusetzen[9].

Die neue Strategie der Rückführung der brasilianischen Außenpolitik in „ihr natürliches Bett“ unter der Interimsregierung Temer soll Abhilfe schaffen und dazu beitragen, das Land aus der Krise zu führen. Außenminister Serra will die Beziehungen zu den USA, Europa und Japan wieder ins Zentrum rücken, zugleich „den Mercosur renovieren“, die Beziehungen Brasiliens zum Mercosur „flexibilisieren“ und sich den neoliberal und freihändlerisch orientierten Megaverträgen TPP (eng.: Trans Pacific Partnership) und TISA (eng.: Trade in Services Agreement) anzunähern. Dazu soll es allen Ländern des Mercosur erlaubt werden, frei und unabhängig extraregionale Freihandelsabkommen abzuschließen.

Das aber widerspricht dem zentralen Artikel 1 des Gründungsvertrages von Asunción von 1991, wonach die Länder des Mercosur verpflichtet sind, Freihandelsabkommen mit anderen Ländern oder Blöcken gemeinsam auszuhandeln. Sobald diese zentrale Klausel beseitigt ist, warnt seit Jahren Samuel Pinheiro Guimaraes, ehemaliger Generaldirektor des Außenministerium während der Regierungszeit von Lula und Hoher Generalvertreter des Mercosur 2011 und 2012, wird der Weg offen sein für Freihandelsabkommen mit den USA, der EU und anderen Ländern. Aber auch der Abschluss von Freihandelsabkommen zwischen den Blöcken wie z.B. dem Mercosur und der EU mit der Folge einer erheblichen Reduzierung der Zölle für europäische Industrieimporte wäre für ihn „der Anfang vom Ende des Mercosur“[10]. Ein solcher Abschluss beschädigt eine weitere Basisinstitution des Mercosur, den Gemeinsamen Außenzoll gegenüber Drittländern, und zerstört die Zollunion, den Kern des Mercosur.

Objektive Betrachtungen sorgen sich um die Zukunft des Mercosur und der südamerikanischen Integration und befürchten, daß die Freihandelspolitik die brasilianische Industriepolitik beerdigen und neue Abhängigkeiten schaffen könnte.

Die Folgen solcher Freihandelsabkommen mit der EU und nachfolgend mit den USA, Japan und China bringen nach Pinheiro Guimaraes nicht die erhofften Gewinne für die südamerikanischen Exporteure, sind aber „äußerst schädlich für die Ziele der industriellen Entwicklung Brasiliens und Argentiniens, aber auch für Uruguay und Paraguay“[11].

Andere Kritiker sind noch deutlicher. Für den schon zitierten J. Carlos de Assis ist die  Freihandelspolitik mit den USA und der EU „ vom ökonomischen Standpunkt aus einfach Selbstmord… Unsere Industrie hat keine Voraussetzungen, um mit amerikanischen und europäischen Unternehmen zu konkurrieren… Wir haben schon ein riesiges Handelsdefizit mit den USA und Europa. Die USA und Europa sind vor allem bestrebt, ihre Exporte zu steigern und nicht Importe zu erhöhen. Das ist das Wesen ihrer Strategie des Wiederaufschwungs. Unsere Märkte für sie in einem Freihandelsabkommen zu öffnen, würde unsere Industrie, besonders die Kapitalgüterindustrie, zum Tode verurteilen“[12].

Roberto Amaral, Politologe, Ex-Minister für Wissenschaft und Technologie und Ex-Präsident der Brasilianischen Sozialistischen Partei, sieht den neuen Außenminister Serra „unermüdlich im Dienst, den Mercosur (der 80 Prozent unserer Industrieprodukte absorbiert) zu spalten und zu zerstören, den Weg zu einer tatsächlichen ALCA zu öffnen“ und Brasilien in „eine neue Phase der Dependenz“ zu führen. Fundiert und kenntnisreich entwickelt Amaral die seit Mitte des 20. Jahrhunderts historisch gewachsenen Hauptlinien der brasilianischen Außenpolitik Abhängigkeit versus Unabhängigkeit. Für ihn unterbrechen die Interimsregierung und die Nominierung von Serra nach 12 Jahren PT-Regierung die längste Phase der Bestrebungen einer unabhängigen Außenpolitik. Temer und Serra wollen in der Wirtschafts- und Außenpolitik „ein ultraradikales neoliberales Regime zur Geltung bringen, das notwendigerweise durch die Wiederaufnahme bedingungsloser Unterordnung unserer Diplomatie unter die geostrategischen Interessen der USA gestützt wird… Mit anderen Worten, letztlich geht es um den Verzicht auf das Projekt einer unabhängigen Nation“[13].

Die Rückführung der brasilianischen Außenpolitik in „ihr natürliches Bett“ ist für Marcelo Zero, Berater der PT für Außenpolitik im Senat, nichts anderes als der Weg „in den strategischen Einflußbereich der traditionellen Mächte“ zurück. Es handelt sich nicht nur darum, die Außenpolitik der PT-Regierungen zu dekonstruieren, sondern „dauerhafte und solide Bedingungen für die angestrebte Restaurierung des späten Neoliberalismus in Brasilien zu schaffen“. Zu diesen Bedingungen zählt er „das Ende der Zollunion des Mercosur, die Reduzierung der Relevanz der regionalen Integration und Süd-Süd-Kooperation sowie politisch eine Verringerung der Beteiligung Brasiliens an BRICS“. Diese Außenpolitik wird nach Zero dazu beitragen, „Brasilien wieder zu einem peripheren Land zu machen, ewig eingezwängt in das Prokrustusbett neoliberaler Politiken, die – dem Weltkapital freundlich gesinnt – schwer umkehrbare Mechanismen der Dependenz schaffen,  sobald sie einmal in internationalen Verträgen Niederschlag gefunden haben“[14].

Damit ist schon viel gesagt über die Neuausrichtung der brasilianischen Außenpolitik, mögliche Folgen und die ihr zugrunde liegenden Interessen. Auf die Frage nach dem Cui bono meint der erfahrene Außenpolitiker, ehemalige Außen- und Verteidigungsminister Celso Amorim: „Es gibt Sektoren der USA, die sehr zufrieden sein dürften, weil wir keine Bedrohung ihrer Hegemonie in der Region mehr sind.“ Er relativiert und präzisiert zugleich: „Es ist schwierig zu sagen, wer gewinnt. Ich kann sagen, wer verlieren wird: die südamerikanische Integration, die friedliche Lösung von Streitfragen in Südamerika, die Möglichkeit besserer Beziehungen zwischen Südamerika und Afrika, eine bessere Balance der Macht in der Welt“[15].

Der Griff nach Erdöl, Petrobras und Brasiliens Naturreichtümern

Brasilien: Raffinerie von Petrobras - Foto: Agencia Brasil, Ricardo StuckertIm Blick globaler Interessen ist Brasiliens Rohstoff-und Energiereichtum, besonders die zweitgrößten Erdöl- und Erdgaslagerstätten der Welt (das Pre-Sal) und der halbstaatliche  Ölkonzern Petrobras. In seinen besten Zeiten erwirtschaftete Petrobras 10 Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsproduktes und stieg nach seinem Marktwert zum viertgrößten Unternehmen der Welt auf. Das impeachment, erklärte A. Cardoso von der  Staatsuniversität von Rio de Janeiro, interessiert die Kräfte, die Veränderungen bei der Petrobras, speziell ihrer exklusiven Rolle bei der Ölförderung wollen: „Die großen Ölgesellschaften, internationale Akteure, die mit dem Rückzug von Petrobras von der Ausbeutung des Erdöls profitieren. Teile dieser Akteure wollen Dilma weg haben“[16].

Diese Annahmen sieht der Senator Roberto Requiao, ein ehemaliger Führer der Partei PMDB, mit der Übernahme der Regierung durch Michel Temer bestätigt. Sie habe „einen Versuch eingeleitet, mit fundamentaler ausländischer Unterstützung und orchestriert von den großen Kommunikationsmedien ein Projekt durchzusetzen, das die Interessen der Unternehmen schützt, die seit Jahren danach streben, die Ölreserven des Pre-Sal die Hände zu bekommen. Selbstverständlich geht das Projekt noch weiter und öffnet den Weg auch für eine mögliche künftige Übergabe der Reichtümer Amazoniens. Die geopolitischen Faktoren wirken wie ein Deus ex-machina, sie beeinflussen, konspirieren, liefern Informationen. Sie haben einen mächtigen Verbündeten, den Außenminister José Serra, ein Ergebener, der sich den BRICS widersetzt“[17]. Bereits 2008, kurz nach der Entdeckung der großen Erdölreserven im brasilianischen Kontinentalschelf, hatte sich der damalige Staatspräsident Lula sehr  besorgt über die Reaktivierung der 4. US-Flotte und die Wiederaufnahme ihrer Aktivitäten im Südatlantik gezeigt und Befürchtungen hinsichtlich der Interessen der USA an diesem Kontinentalschelf geäußert.

Brasiliens Staatsbetriebe als Objekte internationaler Kapitalexpansion

Der argentinische Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel hat Recht, wenn er meint: „Was in Brasilien passiert, hat zu tun mit einem Projekt der Rekolonisierung Lateinamerikas… es trägt strategische Züge: die Kontrolle unserer Naturressourcen und… die Privatisierung der Staatsunternehmen. Das ist das Ziel des Staatsstreiches. Ja, es ist eine Politik der USA, die ihr Ziel, Lateinamerika als ihren Hinterhof zu haben, nie aufgegeben haben“[18].

Im Zusammenhang mit der Stagnation in der Eurozone und in Japan und der schwachen Erholung in den USA sowie der dort fehlenden Perspektiven für Investitionen benennt Joao Carlos de Assis eine entscheidende Ursache für expansive und aggressive globale Strategien der Zentren, die auch die Vorgänge in Brasilien betreffen: Einen zunehmenden Zwang unter den herrschenden Klassen der Zentren, nach neuen Möglichkeiten der Expansion für relativ überschüssiges Kapital zu suchen. Und in unverkennbarer Nähe zu Rosa Luxemburg spricht er von der Notwendigkeit, bestehende Schranken „… durch das Eindringen in die Welt der Schwellenländer und Entwicklungsländer, in noch vom staatlichen Kapital beherrschte Räume zu erweitern.“ Und hier komme Brasilien auf den Plan. „Wir haben noch relativ jungfräulichen Raum für den Zufluss ausländischen Kapitals auf der Suche nach Verwertung: den Sektor des Erdöls, den Sektor der Elektrizität, den Sektor des Wassers, den staatlichen Bankensektor… Petrobras, Eletrobras, BNDES, Caixa Economica, Banco do Brasil. Alle stehen auf der Abschussliste… Das geoökonomische Spiel der zentralen Länder besteht darin, in diese Zone einzudringen, die sich noch unter nationaler und staatlicher Kontrolle befindet“[19]. Die Regierungen der PT und deren Politik der Autonomie standen dem im Weg.

Bereits kurz nach Amtsantritt seiner Regierung schlug Interimspräsident Temer die Privatisierung von 125 Staatsbetrieben mit einem Wert von knapp 1 Billion Euro vor. Zugleich kündigte er massive Kürzungen bei den Sozialprogrammen wie dem Familienzuschuß Bolsa Familia, dem Wohnungsbauprogramm Minha casa, minha vida u.a. an.

„Wenn die Armen wüssten, was man gegen sie zusammenbraut“, so warnt Leonardo Boff, „würden die Straßen Brasiliens nicht ausreichen, um all die Menschen aufzunehmen, die gegen diesen Coup protestierten.“ Nachdem was sich in Argentinien und Brasilien ereignete, fehlt noch die Zerschlagung der bolivarischen Revolution in Venezuela, um das geopolitische Panorama zu verändern. Dann wäre der Weg frei, befürchtet der Journalist Luis M. Arce in der kubanischen Granma, „um Lateinamerika zum Weideplatz eines schrecklichen Neoliberalismus zu machen. Die Freihandelsabkommen und Pakte wie die Transpazifische Allianz werden sich unserer Ökonomien bemächtigen und jegliche Struktur der Integration, die mit so viel Mühe geschaffen wurde, wird unter der Herrschaft des IWF und der Weltbank zusammenbrechen“[20]. Nicht nur Brasilien droht ein Rollback.

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Quellen:

[1] Leonardo Boff in: Jornal do Brasil, 20. April 2016

[2] Joao Carlos de Assis in: Carta Maior, 12. Februar 2015

[3] Interview mit Luiz Alberto Moniz Bandeira in: Carta Maior, 27. April 2016

[4] Interview mit Luiz Alberto Moniz Bandeira in: Brasil 247, 31. Mai 2016

[5] Noam Chomsky in: Carta Maior, 18. Mai 2016

[6] Immanuel Wallerstein in: Carta Maior, 17. Mai 2016

[7] Sergio Martín – Carrillo in: amerika21, 29. April 2016

[8] Juan Manuel Karg in: RT, 12. Mai 2016

[9] Gleisi Hoffmann und Marcelo Zero in: Brasil 247, 28. Juni 2016

[10] Interview mit Samuel Pnheiro Guimaraes in: Carta Maior, 06. September 2014

[11] Interview mit Samuel Pinheiro Guimaraes in: Brasil 247, 31. Mai 2016

[12] Joao Carlos de Assis in: Carta Maior, 12. Mai 2015

[13] Roberto Amaral in: CartaCapital, 08. Juli 2016

[14] Marcelo Zero in: Brasil Debate, 18. Mai 2016

[15] Interview mit Celso Amorim in: Viomundo, 10. Juli 2016

[16] Folha de Sao Paulo, 26. April 2015

[17] Interview mit Roberto Requiao in: Carta Maior, 11. Juli 2016

[18] Interview mit Pérez Esquivel in: Opera Mundi, 03. Mai 2016

[19] José Carlos de Assis in: Carta Maior, 12. Februar 2015

[20] Luis Manuel Arce in: Granma, 20. Mai 2016

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Bildquelle: [1][4] Agencia Brasil

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