Über Masken, Sternbilder und Rotkäppchen – Eine Märchenerzählerin berichtet von ihrer Arbeit
Ana María Caro ist Märchenerzählerin: Die gebürtige Kolumbianerin verfasst kurze Märchen, um sie einem Publikum vorzustellen, das fasziniert ist von den Bildern, die sie mittels der Wörter erschafft. Die 51-Jährige stammt ursprünglich aus Bogotá und wohnt mittlerweile seit 15 Jahren in Madrid, wo sie als Ärztin in einer Praxis für Sexualtherapie arbeitet. Quetzal hat bereits zwei ihrer Märchen veröffentlicht („La flecha de Orión“ und „Fotografía“). Es folgt hier die deutsche Übersetzung des Interviews mit der Autorin, das bereits auf Spanisch bei Quetzal erschien, und in dem sie über die Rolle dieser Märchen in ihrem Leben und in dem vieler Kolumbianer spricht.
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„Ganz eindeutig stamme ich aus dem selben Land wie García Márquez”
Wie kam es zu deiner Karriere als Märchenerzählerin?
In meiner Familie lernte ich, Märchen wertzuschätzen. Mein Großvater war ein außergewöhnlicher Märchenerzähler, und in der Familie kennen wir alle seine Geschichten auswendig. Wir machen Witze über sie, und sie sind wie ein Teil der Familie. Leider habe ich meinen Großvater nie kennenlernen dürfen, da er schon tot war, bevor ich geboren wurde. Jedoch hinterließ er uns ein dickes Band voller Märchen. Für mich sind diese Märchen ein künstlerischer Schatz in Versform. Ich glaube, dass ich deshalb Märchen so gerne mag. Später wollte ich immer selbst Märchen erzählen, da ich schon immer gerne auf der Bühne stand; so führte eins zum anderen.
Wie betrachtest du die Rolle von Märchen in Kolumbien?
In Kolumbien gibt es eine lange Tradition des Märchens in Schriftform, wie sie García Márquez oder Jairo Aníbal Niño verfassten. Die meisten Märchen werden jedoch mündlich weitergegeben. Viele handeln von mythologischen Wesen, die einen Teil der Natur bilden, wie zum Beispiel die „einbeinige Frau“ oder „Mütterchen Berg“. Diese Figuren sorgen dafür, dass keine Person in die Natur eindringt, da sie sehr gefährlich sein kann. Falls man in einem Dorf in der Nähe des Waldes lebt, werden die Menschen immer sagen: „ Geh nicht in den Wald, sonst kommt die eine oder andere Gestalt und nimmt dich mit“. Wenn man bedenkt, dass die Hälfte des kolumbianischen Territoriums mit Wald bedeckt ist, bilden diese Märchen in sehr vielen Orten Teil des alltäglichen Lebens. Aber das geschieht auch in vielen Städten. Wenn sich Leute in den Häusern treffen oder sich Studenten in einer Ecke der Universität versammeln, um zu essen oder Kaffee zu trinken, erzählen sie sich gegenseitig Märchen. Wenn man durch die Altstadt von Bogota läuft, trifft man mit Sicherheit eine Person auf irgendeinem Platz, die Märchen erzählt.
Was sind die Themen deiner Märchen?
Der Großteil meiner Erzählungen ist magisch. Ich stamme ganz eindeutig aus dem Land von García Márquez. In diesem Land geschehen seltsame Dinge. Und genau so geschieht es auch in meinen Märchen: Ich schätze, dass im Großteil meiner Erzählungen die Hauptfiguren nicht menschlich sind. Es ist eher ungewöhnlich, dass ich etwas schreibe, was sich mit der Gegenwart befasst. Nichtsdestotrotz bin ich mir sicher, dass sich die Gegenwart in meinen Märchen wiederspiegelt.
Wie ist der Entstehungsprozess deiner Märchen?
Ich brauche fast immer ein Reizwort, um mit dem Schreiben anfangen zu können. Ich nehme, zum Beispiel, mit vielen meiner Freunde an zahlreichen Veranstaltungen teil, um Märchen zu kreieren. Die Idee hinter diesen Treffen ist, dass jemand ein Reizwort vorgibt, das der Rest dann verwenden muss, um ein Märchen zu schreiben. So ruft uns eine Freundin meinerseits einmal monatlich zusammen und stellt uns irgendeinen Satz aus irgendeinem Buch vor, wie „Heute früh schien die Sonne“. Beginnend mit diesem Satz, schreibt jeder von uns ein Märchen mit einer bestimmten Wortzahlgrenze. Wenn ich diese Ursprungssätze lese, erscheinen Bilder vor meinem inneren Auge, und so entsteht ein Märchen.
Wann würdest du von deinem eigenen Märchen behaupten, dass es gut ist?
Ich denke, dass mein Märchen gelungen ist, wenn ich die Zufriedenheit verspüre, mich selbst zum Lachen gebracht zu haben. Ich denke, das ist etwas, was ich einfach fühle. So weiß ich, zum Beispiel, ganz sicher, welche meiner Märchen schlecht sind. Aber es gibt auch einige wenige, die wie meine Lieblingskinder sind. Vielleicht habe ich es deshalb geschafft, einige ursprünglich triviale Themen umzudrehen und sie aus einer anderen Sichtweise zu zeigen. Ich glaube, ein Märchen ist dann gut, wenn es mir gelingt, der Handlung oder dem Thema eine Umkehrung hinzuzufügen, die sowohl für die Leser als auch für mich selbst unvorhersehbar war.
Warum ist es im Vergleich zu einer Theateraufführung oder einer persönlichen Lesung so besonders, einer Gruppe von Menschen ein Märchen zu erzählen?
Unsere Tätigkeit als Geschichtenerzähler unterscheidet sich vom Theater folgendermaßen: So etwas wie die „vierte Wand“, die eine direkte Interaktion zwischen dem Schauspieler und dem Publikum verhindert, gibt es nicht. Das können wir uns nicht leisten, da wir die Gesichter der Zuschauer sehen müssen. Auf der anderen Seite stehen die Texte, wie sie in Büchern oder Magazinen veröffentlicht werden. Unsere Aufgabe als Geschichtenerzähler ist es, den Text durch uns hindurch gehen zu lassen, ihn sozusagen innerlich zu verarbeiten. So erzählen wir ihn jedes Mal auf eine andere Art. Zusammenfassend könnte man sagen, dass die geschriebenen Texte auf der einen Seite sind, und das Theater dort (zeigt mit den Händen eine Entfernung). Wir stehen in der Mitte. Wir interagieren mit den Menschen, wir müssen ihnen ins Gesicht schauen können und uns ihnen nähern können. Auf diese Weise nehmen wir etwas von der Literatur und vom Theater, schaffen jedoch eine völlig andere Sache: Märchen vor Publikum zu erzählen. Anschließend streben wir an, dass sich die Zuhörer die Handlung vorstellen. Unser Ziel ist es, dass die Zuhörer nicht von den Wörtern der Erzähler abhängig sind, sondern, dass sie an den Vorstellungen festhalten. Auf diese Weise machen sich die Zuhörer den Text zu eigen und erfahren das Zuhören als eigenen Schöpfungsprozess. Der Grund dafür ist, dass sie nicht einen fremden Text lesen, sondern selbst Vorstellungen bilden: Das Magische bei Märchen liegt hinter der Vorstellung. Natürlich rege ich diese Vorstellungen an, jedoch musst du selbst den Rest tun. Wenn du nicht da bist, warum also das Ganze?
Sie sind wichtig, da sie universale Symbole als Thema haben, diese jedoch in einer verständlichen Sprache übermitteln. Gute Märchen handeln von Themen, die wichtig für uns sind. Sie formulieren auf eine bestimmte Art diese wichtigen Sachen, ohne sie jedoch direkt auszusprechen. Das Märchen vom Rotkäppchen beispielsweise kann man Kindern erzählen, und sie werden sich daran erinnern, weil es mit einer kindergerechten Sprache vermittelt wird. Wenn man den Kindern einfach direkt sagt „Tu das nicht, weil dir etwas Schlimmes passieren wird, wenn du es tust“, dann hat das meist nicht denselben Effekt, wie wenn sie die Geschichte des Rotkäppchens selbst hören und verstehen. Wenn ein Märchen sich sowohl in weltlichen als auch in landesinternen Symbolen einfindet, ist es gut und hat Bestand. Sie können sogar eine therapeutische Wirkung haben. Deshalb würde ich alle Menschen dazu ermutigen, Märchen zu lesen und es zu wagen, den Jungen und Alten ein Märchen zu erzählen. Meinen eigenen Erfahrungen zufolge, verbindet Märchenerzählen dich mit deinem Innersten. Es ist großartig.
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Die spanische Version des Interviews finden sie hier.
Übersetzung aus dem Spanischen: Bruno Aragón
Bildquellen: [1], [2] Luis Teodoro Sanz