In der Kordillere, welche die fruchtbaren Böden der Täler von Aragua vom Karibischen Meer trennt, liegt ein kleines Dorf, das in Venezuela einzigartig ist. Häuser im Stil des europäischen Mittelalters, Holzschilder mit gotischen Lettern, blonde Menschen, die an Obstständen bedienen. Würde sich jemand an diesen Ort verirren, würde er wohl kaum vermuten, dass er sich noch auf venezolanischem Staatsgebiet befindet.
Das besagte Dorf heißt Colonia Tovar und seine Gründung war ein einmaliges Projekt. Die Idee bestand darin, im 19. Jahrhundert Regionen in Venezuela mit Einwanderern zu besiedeln, die bereit waren, sich niederzulassen und Brachland zu bewirtschaften. Colonia Tovar war ein ehrenwerter Versuch der Regierung, das Problem der Entvölkerung, verursacht durch den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien und durch Jahrzehnte interner Kriege, welche tausende Tote, zerstörte Familien, verlassene Ländereien und eine fast zerstörte Wirtschaft zum Ergebnis hatten, zu lösen.
Es war im Jahr 1840, als der damalige Präsident Venezuelas, José Antonio Páez, altgedienter General des Unabhängigkeitskriegs, ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedete, in dem Europäern fruchtbares Land, welches bis dahin ungenutzt war, mit günstigem Klima zur Verfügung gestellt wurde (Páez 333, 1869). Man bemühte sich, die Lebensbedingungen der neuen Kolonisten so attraktiv wie möglich zu gestalten. Nach dem Gesetz waren die neuen Kolonisten für 15 Jahre vom Zivil- oder Militärdienst befreit, zu dem die übrigen Venezolaner verpflichtet waren. Nach dieser Zeit waren sie den allgemeinen gesetzlichen Regelungen der Republik unterworfen, konnten aber weiterhin ihre Hochzeiten und religiösen Bräuche gemäß ihrer Herkunft feiern. Das Gesetz garantierte den Einwanderern das Eigentum über die Böden, die sie bearbeiteten, aber selbst so konnte man die Europäer nicht überzeugen, in Scharen nach Venezuela, das damals noch wild und fast vollkommen unerschlossen war, zu kommen. 1869 schrieb Páez in seinen Memoiren, dass selbst, wenn man das Gesetz damals in seinem Ziel für gescheitert hielt, Venezuela diese „so rettende Idee” niemals aufgeben sollte (Páez 334, 1869), angesichts der Ergebnisse, die ähnliche Initiativen im reichen Amerika, dem des Nordens, wo José Antonio Páez seine letzten Jahre verbrachte, erzielt hatten.
Colonia Tovar war ein Pilotprojekt, das durch die Vorstellungskraft von Agustín Codazzi (Universidad de Chile 302, 1864), ein weiterer Militärheld, außerdem herausragender Kartograf und berühmter Venezolaner, dessen sterbliche Überreste neben denen Bolívars im Panteón Nacional von Venezuela liegen, vorangetrieben wurde. Codazzi wurde am 12. Juli 1793 in Lugo, Italien, im damaligen Kirchenstaat, geboren. Er kämpfte in den napoleonischen Kriegen, unter anderem in den Schlachten von Lützen und Leipzig. Angezogen vom Ruhm Bolívars kam er nach Venezuela und bereits 1826 hatte er den Rang des Oberstleutnants der Artillerie inne. Wenn er nicht kämpfte, beschäftigte sich Codazzi damit, die venezolanische Orografie auf dem Papier darzustellen und aus seiner Feder stammt die erste vollständige Kartografie des nationalen Territoriums. Codazzi befand sich inmitten von Feldforschungen, als er auf das Hochland der Küstenkordillere stieß, das er den venezolanischen Behörden in mehreren Berichten als geeignet für die Ansiedlung von Europäern empfahl.
Die venezolanische Regierung nahm 1840 Kontakt mit Agustín Codazzi auf, der sich in Paris befand und mit der Herausgabe und dem Druck seiner Kartografie von Venezuela beschäftigt war, um ihn zu bitten, genau anzugeben, welche Ländereien die geeignetsten für die Ansiedlung europäischer Einwanderer seien. Páez selbst schreibt in seinen Memoiren (Páez 336, 1869), dass Codazzi sich das Kolonisierungsvorhaben sofort zu Eigen machte. Dabei wurde er durch Alejandro Benitz, einen Deutschen, unterstützt. Dieser kümmerte sich damals darum, die Karten Codazzis in Paris zu gravieren. Außerdem reiste er durch Deutschland und warb Bauern- und Handwerkerfamilien für die Auswanderung an, um sie dann auf der Reise nach Venezuela zu begleiten und am 4. März 1843 an der Küste von La Guaira an Land zu gehen. Codazzi – immer unterstützt durch den Glauben des Venezolaners Martín Tovar, dem zu Ehren die Kolonie benannt wurde – lebte und arbeitete einige Jahre gemeinsam mit den 80 Pionierfamilien der Siedlung. Biografen des Oberst, der 1859 in Kolumbien starb, heben den Wohlstand der Kolonie und ihre Ähnlichkeit mit den Alpendörfern Europas nur 20 Jahre nach ihrer Gründung hervor (Universidad de Chile 315, 1864).
Aber das Experiment, Venezuela mit deutschen Kolonisten wieder zu bevölkern, endete fast im Debakel. Das Dorf hatte eine sehr schwere Anfangszeit und eine Entwicklung voller Hindernisse. Die Höhe von 1800 Metern über dem Meeresspiegel (Miscellaneous Documents 220, 1858) mit Gipfeln, die 2200 Meter erreichen, sorgte dafür, dass die gerade einmal 60 Kilometer, die das Dorf von der Hauptstadt der Republik trennen, viele Jahre lang eine fast unüberwindbare Entfernung darstellten. Die Zugangswege zur Kolonie, die noch heute für ein modernes Fahrzeug schwierig sind, waren vor anderthalb Jahrhunderten mit dem Wagen oder zu Pferd fast unpassierbar. Nach Angaben von Ronald Gutmann, derzeitiger Präsident der Handelskammer von Colonia Tovar und Geschäftsführer des Hotels Selva Negra, sind die Straßen nach Colonia Tovar noch immer „kurvig und wenig vertrauenswürdig” und Grund für den Zusammenbruch des Verkehrs an Feiertagen. Bereits 1856 legte der Innen- und Justizminister Venezuelas dem Nationalkongress dar, dass „die bestehende Isolation wegen miserablen Wegen zu den Nachbardörfern bis jetzt das Hindernis gewesen sei für einen sofortigen Fortschritt” von Colonia Tovar (Exposición al Congreso de Venezuela 36, 1856), eine Situation, die sich fast 170 Jahre später kaum verändert hat.
Alejandro Benitz, 1855 Anführer von Colonia Tovar, schrieb am 31. Oktober jenen Jahres tief betrübt in einem Brief an den Gouverneur der Provinz Aragua: „Die Situation der Siedlung ist hoffnungslos”. Benitz führt das Problem der Straßen an, aber ebenfalls das Fehlen einer Schule und wie frustrierend der Mangel an Unterricht für ihre Kinder für die Kolonisten sei, zusätzlich zum Nichtvorhandensein einer Kirche und eines Geistlichen. Benitz spricht sogar von Entmutigung und der Lust einiger Kolonisten, in ihr Land zurückzukehren. Aber die Geschichte zeigt uns, dass die 504 Personen, welche die Siedlung 1854 zählte (Exposición al Congreso de Venezuela Documento nº 41. 1856), die Schwierigkeiten überwinden konnten. Davon zeugen auch die 15.000 Einwohner, auf die die Bevölkerung von Colonia Tovar heute angewachsen ist (Instituto Nacional de Estadísticas, 2001).
Ein US-amerikanischer Meteorologe, der im 19. Jahrhundert von Colonia Tovar aus Messungen für die Smithsonian Institution durchführte, hinterließ ebenfalls Zeugnis über seine Eindrücke von der noch jungen deutschen Siedlung. A. Fendler berichtet, dass das Gebiet, das die Siedlung 1841 einnahm, sich in „vollkommen wildem Zustand” mit noch intakten Urwäldern befand. Der Meteorologe versichert in einem Bericht vom 5. August 1856, dass die Existenz des Tals selbst seinem Eigentümer und der Nationalregierung 15 Jahre zuvor unbekannt war (Miscellaneous Documents 220, 1858), und zeigte somit die Schwierigkeit des Gebietes auf, in dem sich die ersten Einwanderer niederließen.
Jetzt und damals hat die Geografie der Ausdehnung der Siedlung entgegengestanden, aber vielleicht ist es genau diese Isolation, die dabei geholfen hat, viele physische und kulturelle Eigenschaften ihrer ersten Bewohner zu bewahren. Mairín Gutt, Geschäftsführerin von Alojamientos Waldhaus, identifiziert sich zweifellos als Venezolanerin. Die Hotelbesitzerin betont, dass, obwohl sie der fünften Generation angehört, ihre deutschen Gesichtszüge noch zu erkennen sind, wenn auch, wie sie eingesteht, Spanisch ihre einzige Sprache ist, was ihre Venezolanität jenseits ihres Aussehens beweist. Tatsächlich gab es bereits seit einer frühen Phase Austausch zwischen den Einwanderern der jungen Siedlung und ihren Nachbardörfern. Einen Beweis liefert der nordamerikanische Meteorologe Fendler, der in einem Bericht von 1858 erstaunt kommentiert, wie merkwürdig es ihm erscheint, die Deutschen zu sehen, die vorzugsweise typisch venezolanische Apparate benutzen, wie beispielsweise einen Waschtrog aus Stein, der verwendet wird, um verschiedene Arten von Getreide zu mahlen, als es in den USA und sogar in Caracas bereits Mühlen aus Stahl gab (Miscellaneous Documents 220, 1858), was vom regen Kontakt der deutschen Kolonie mit anderen Gemeinden der Umgebung zeugt. Trotzdem zeigt ein Blick ins Telefonbuch von Colonia Tovar, dass die Zurückgezogenheit, in der die Kolonie viele Jahre lebte, dazu geführt hat, dass einen Großteil der 15.000 Tovarer familiäre Bande miteinander verbindet. Es kommt nicht selten vor, dass beide Nachnamen deutschen Ursprungs sind.
Die venezolanischen Behörden erkannten die Qualitäten ihrer neuen Kolonisten rasch. Wenige Jahre, nachdem sie sich niedergelassen hatten, waren die Handwerker und Mechaniker der Tovarer berühmt bei den Bauern der Nachbartäler und ständig gefragt, um Maschinen für die Zuckerindustrie zu bauen. Die Landwirtschaftsprodukte der Kolonie gelangten bald auf die nationalen Märkte und verbilligten die Lebensmittelkosten und vergrößerten außerdem das Angebot an im Land verfügbaren Gemüsesorten (Exposición al Congreso de Venezuela 36, 1856). Heutzutage sind die Früchte der Colonia Tovar, wie Erdbeeren und Pfirsiche, noch immer auf den Märkten von Aragua und Caracas präsent, wo sie einen guten Ruf und Anerkennung genießen.
Die Lage von Colonia Tovar hat sich im Vergleich zu den ersten schwierigen Jahren sehr verbessert. Ronald Gutmann zeigt sich stolz darüber, seine Gemeinde als eine der wohlhabendsten in Venezuela und als echten nationalen Tourismusschlager zu präsentieren. Gutmann ist kein Nachfahre jener ersten Deutschen, die aus Endingen, in der Region um den Kaiserstuhl, damals Großherzogtum Baden, durch den unerschrockenen Oberst Codazzi angeworben wurden. Er gehört vielmehr zu jenen, die in den 1950er-Jahren als Teil der nachfolgenden Wellen deutscher Einwanderer ankamen, um sich ebenfalls in der Kolonie niederzulassen. Anders als Herr Gutmann, der fließend Deutsch spricht und in verschiedenen Teilen Europas gelebt und studiert hat, beherrschen die Nachfahren der ersten Tovarer die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr. Jeison Kanzler, Tovarer der fünften Generation, sagt, dass er sich vollständig venezolanisch fühlt und, wie die Mehrheit seiner Landsleute, weder Deutsch spricht noch jemals das Land verlassen hat.
1964 erklärte die Regierung des Präsidenten Rómulo Betancourt Colonia Tovar mittels Präsidentendekret Nr. 1165 zum Gebiet von nationalem touristischen Interesse und brachte damit einen neuen Wirtschaftskreislauf in Gang. Der Tourismussektor macht gemäß dem Vertreter der Tovarer Händler gegenwärtig 70 Prozent der lokalen Wirtschaftsaktivitäten aus. Die übrigen 30 Prozent, so Gutmann, entfallen auf Landwirtschaft und Dienstleistungen. Die Kolonie sieht, was nicht weiter verwunderlich ist, an Wochentagen, wenn nur die Laster und Jeeps der einheimischen Bauern die Straßen hinauf- und hinabfahren, sehr viel anders aus als an Wochenenden, wenn die Gemeinde wie ein Jahrmarkt wirkt. Vor allem an Feiertagen sind fast alle Hotels ausgebucht und der Verkehr auf den Zugangsstraßen kommt durch die Ankunft von Touristen aus allen Landesteilen zum Erliegen. Die Venezolaner, die dieses Dorf mit deutschem Aussehen besuchen, tun dies, um typisch deutsche Gerichte zu kosten, welche die lokalen Restaurants stolz anbieten, sich bei einer durchschnittlichen Jahrestemperatur von 16 Grad zu erfrischen (INE, 2001), Erdbeeren mit Sahne zu essen, ein selbst gebrautes Bier zu kosten, die kühlen Nächte in den Hotels zu genießen oder über die für das Land so untypische Architektur zu staunen.
Die modernen Tovarer sind bereits vollständig integrierte Venezolaner. Sie fühlen sich so kreolisch, wie alle anderen Landsleute, aber Gutmann berichtet: „Wir lassen uns noch immer von der deutschen Identität des Respekts, der Arbeit und der Ausdauer leiten” – Eigenschaften, die der Händler mit dem Land seiner Eltern in Verbindung bringt. Und es geht nicht nur darum, eine Kultur zu bewahren, die anders ist als die in anderen Regionen Venezuelas. Sich außer als Venezolaner auch als Deutsche zu fühlen, verleiht ihrem touristischen Angebot Authentizität. „Viele Besucher kommen, um zu sehen, wie ursprünglich die Kolonie ist, um ihre Früchte, ihr Handwerk und ihre Bräuche zu genießen” erzählt Gutmann. Der derzeitige Erfolg dieses demografischen Experiments gibt heute Anlass zum Stolz im ganzen Land. Fast 170 Jahre später hat sich Colonia Tovar durch Arbeit einen eigenen Raum und eine eigene Identität inmitten des südamerikanischen Landes geschaffen. Die Tovarer haben in ihrer Mehrheit das Gefühl, dass Venezuela ihre Heimat ist, und dass Deutschland lediglich einen fernen Bezug auf ihre besondere Herkunft darstellt.
Literatur:
1. Autobiografía del General José Antonio Páez. Volumen II. Nueva York. Imprenta de Hallet y Breen, 1869
2. The Miscellaneous Documents. The House of Representatives, Fisrt Session of the Thirty-Fifth Congress. Washinton. James Steedman Printer, 1858.
3. Anales de la Universidad de Chile. Tomo XXV, segundo semestre. Santiago de Chile. Imprenta Nacional, 1864.
4. Exposición al Congreso de Venezuela del Secretario de Interior y Justicia. Caracas. Imprenta y Litografía Republicana de Federico Madriz, 1856.
5. Censo 2001. Instituto Nacional de Estadísticas.
6. Temperatura promedio anual del aire, media , máxima, y mínima según entidad federal, dependecia federal, estación meteorológica y año. Instituto Nacional de Estadística. 1999-2003.
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Übersetzung aus dem Spanischen: Monika Grabow.
Bildquellen: [1] venezuelatuya.com, [2] Exposición al Congreso [3] Miscellaneous Documents
habe eben im TV eine Sendung über diesen Ort gesehen und bin nun beim googeln auf diesen Artikel gestossen, de ich mit Interesse gelesen habe. Stamme selbst aus der Nähe des Kaiserstuhls, lebe aber seit über 20 Jahren im Schwäbischen bei Stuttgart.
Brasilien hat eine ganze Gegend im Staat Santa Catarina – mit der Stadt Blumenau und anderen von Deutschen nach 1850 gegruendeten Staedten. Blumenau hat jedes Jahr nach Muenchen das groesste „Oktoberfest“ in der Welt mit ueber einer Millionen Besucher. Auch das ganze Jahr eine Art „Deutsches Disneyland“ fuer die Brasilianer. Und gerade diese Woche hat eine U.S. Journalist und ich in „Forbes“ etwas hinundher bemerkt ueber die „Blonden Brasilianerinen“ – wie Gisele Buendchen, Xuxa und Vera Fischer – wer die drei Damen sind -sollte man im internet studieren. Gisele und Vera Fischer sind deutschter Abstammung, aber Xuxa stammt von Oestreichern. Und die blonde Gleisi Hoffmann, eine von deutschen Abstammende Rechtsanwaeltin ist heute die Ministerin des Praesidentialamtes – also die „rechte“ Hand der Praesidenting Dilma Rousseff. Gleisi hat den politischen Spitnamen „Der Traktor“ weil sie energisch und systematisch arbeitet. Sie war vorher Senatorin fuer den Staat Parana.
Hallo,
ich schreibe gerade im Zuge eines Seminars an meiner Universität einen Artikel über Deutsche Bräuche zur Weihnachtszeit in Lateinamerika. Ich interessiere mich besonders für solch „deutsche“ Gemeinden bzw. Städte, deren Bewohner deutsche Wurzeln haben. Colonia Tovar ist wohl so eine Stadt. Kennen Sie irgendjemanden an den ich mich wenden könnte, der mir etwas über deutsche Bräuche und Traditionen erzählen könnte, die eventuell in der Stadt weitergeführt wurden?
Ich wäre Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar.
Viele Grüße,
Sabine