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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Freiheit von Hunger und Armut – eine Utopie? Sechs Bemerkungen aus aktuellem Anlass

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Per Beschluss der Vereinten Nationen werden wir jedes Jahr im Oktober daran erinnert, dass zwei grundlegende Menschenrechte – die Freiheit von Hunger und Armut – immer noch nicht verwirklicht worden sind. Am Welternährungstag, der auf den 16. Oktober fällt, wird der Gründung der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO, im Jahr 1945 gedacht. Der darauf folgende Tag ist seit 1993 in jedem guten Kalender als Tag zur Beseitigung der Armut vermerkt. Auch wenn es dem Zufall geschuldet sein mag, dass beide Daten unmittelbar aufeinanderfolgen, so sind doch die beiden Themen, die mit ihnen angesprochen werden, auf verschiedene Weise miteinander verbunden.

Erstens handelt es sich – wie oben bereits festgestellt – um zwei grundlegende Menschenrechte. Anders als die gängigen politischen Menschenrechte wie Rede-, Gewissens- und Glaubensfreiheit oder die Gleichheit vor dem Gesetz sind das Recht auf Nahrung und das Recht auf eine Grundsicherung oberhalb der Armutsgrenze nicht im deutschen Grundgesetz verankert. Auch in der Berichterstattung über Afrika, Asien oder Lateinamerika werden zwar häufig Menschenrechts­verletzungen angeprangert, aber nur selten sind damit auch die Freiheit von Hunger und Armut gemeint. Nur wenige wissen, dass die Freiheit von Not und Mangel sowie die Freiheit von Angst bereits 1941 von US-Präsident Franklin D. Roosevelt in seiner berühmten Rede zur Lage der Nation als zwei der vier grundlegenden Freiheiten für die Menschen „überall auf der Welt“ eingefordert worden waren. Freiheitsrechte umfassen also nicht nur jene politischen Rechte, die uns gemeinhin einfallen, wenn von Menschenrechten die Rede ist. „Von allen Menschenrechten ist das Recht auf Nahrung dasjenige, welches auf unserem Planeten sicherlich am häufigsten, am zynischsten und am brutalsten verletzt wird. Der Hunger ist ein organisiertes Verbrechen.“ (Ziegler, S. 25). Die Forderung nach Freiheit von Hunger und Armut, die sich mit dem 16. und 17. Oktober verbindet, versteht sich somit als doppelte Aufforderung: Erstens endlich über das derzeitige, einseitig westlich-liberal geprägte Verständnis von Menschenrechten hinauszugehen und zweitens die Ursachen von Hunger und Armut nicht nur zu benennen, sondern auch ernsthaft zu bekämpfen.

Zweitens gefährden Hunger und Armut das Leben und die Unversehrtheit von Millionen Menschen. Die Zahl der unterernährten Menschen ist nach einem Jahrzehnt der Besserung in den letzten Jahren sogar wieder im Steigen begriffen: von 785 Millionen (2015) auf 822 Millionen Menschen (2018). Damit sind 11 Prozent der Weltbevölkerung betroffen. Zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Andere Zahlen gehen von täglich bis zu 100.000 Toten aus – mehr als 30 Millionen jährlich. Trotz Gen-Pflanzen und High-Tech-Landwirtschaft bleibt der Hunger die Todesursache Nummer eins in der Welt. Nach einem Weltbankbericht vom Oktober 2018 leben mehr als 3,4 Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Das sind knapp 50 Prozent der Weltbevölkerung. Gleichzeitig besitzen die 42 reichsten Milliardäre genauso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Die UNO hat sich mit ihren Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, bis 2030 Armut und Hunger zu überwinden. Angesichts der erschreckend großen Zahl der davon Betroffenen stellt sich die Frage, ob und wie dies erreicht werden soll.

Damit sind wir drittens bei den Ursachen von Hunger und Armut. Der Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der am 16. Dezember 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde, definiert das Recht auf Nahrung wie folgt: „Das Recht auf Nahrung ist das Recht, unmittelbar und durch finanzielle Mittel einen regelmäßigen, dauerhaften und freien Zugang zu einer qualitativ und quantitativ ausreichenden Nahrung zu haben, die den kulturellen Traditionen des Volkes entspricht, dem der Verbraucher angehört, und die ein physisches und psychisches, individuelles und kollektives, befriedigendes und menschenwürdiges Leben, das frei ist von Angst.“ (ebenda)

Der Hinweis auf finanzielle Mittel stellt einen – kausalen – Zusammenhang zu Armut her. Nach Angaben der FAO produziert die Erde mehr als zweimal so viele Nahrungsmittel, wie von sieben Milliarden Menschen benötigt werden. Jean Ziegler, Schweizer Soziologieprofessor und von 2000 bis 2008 erster UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nennt die Zahl von 12 Milliarden, die derzeit ernährt werden können. Er sieht die Hauptursache für den Hunger in der Armut. Andere Zahlen belegen, dass 80 Prozent der Menschen, die unter Hunger leiden, in und von der Landwirtschaft leben, davon 50 Prozent Kleinbauern, 20 Prozent Landlose und 10 Prozent Nomaden, Fischer und Indigene. Die restlichen 20 Prozent gehören zur verarmten städtischen Bevölkerung. Besonders paradox mutet der Fakt an, dass die Kleinbauern, zu denen die Hälfte der Hungernden gehört, weltweit 70 Prozent der Nahrungsmittel produzieren. Des Rätsels Lösung besteht schlicht und einfach darin, dass ihnen entweder das nötige Land oder die erforderlichen finanziellen Mittel fehlen, um sich ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgeErnährungssouveranität_Bild_Quetzal-Redaktion_solebiasattin zu können. Verschärft wird das Hungerproblem durch Spekulationen mit Land und Nahrungsmitteln, Land Grabbing, militärische Konflikte, politische Instabilität, schnelles Bevölkerungswachstum und die Folgen des Klimawandels.

Viertens ist der Kampf gegen den Hunger aufs Engste mit der Überwindung von Armut verbunden – und umgekehrt. Damit rücken zwei miteinander zusammenhängende Fragen in den Vordergrund: Was oder wer treibt die ländliche Bevölkerung derart in die Armut, dass sie Hunger leiden muss? Und wie kann sie sich dagegen wehren? Aus historischer Perspektive sind zunächst feudale, später für den kapitalistischen Binnen- bzw. Weltmarkt produzierende Großgrundbesitzer die Hauptverantwortlichen dafür, dass kleinbäuerliche Familien bzw. Gemeinschaften nicht genügend Land für ihre Subsistenz zur Verfügung haben. Sie nutzen ihre ökonomische und politische Macht, um sich das Land und die Arbeitskraft der ländlichen Bevölkerung anzueignen bzw. auszubeuten. Im Zuge der neoliberalen Globalisierung sind weitere Faktoren hinzugekommen, die den Trend des Landraubs, der Ausbeutung, der Ressourcenplünderung und der Umweltzerstörung verstärkt haben: die zunehmende Kommerzialisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, die rasch wachsende Marktmacht der großen Agrarkonzerne im Ergebnis von Konzentrations- und Monopolisierungsprozessen, die Dominanz des Finanzsektors und die damit verbundenen Spekulationsblasen, Biopiraterie und Privatisierung von gemeinschaftlichem Wissen über die Natur (Patentierung von Pflanzen, Saaten etc.), rasch wachsender Ressourcenverbrauch sowie der über neoliberale Strukturanpassungsprogramme vermittelte Zwang zur Umstellung der Landwirtschaft auf Landwirtschaftsexporte zu Lasten der lokalen Nahrungsmittelproduktion.

Fünftens geht der Kampf gegen Hunger und Armut uns alle an! Diese Forderung lässt sich am Beispiel des brennenden Amazonas erläutern. Dass die Waldbrände in diesem Jahr besonders heftig ausfielen, hat mit zwei Push-Faktoren zu tun. Zum einen trat mit Jair Messias Bolsonaro am 1. Januar 2019 in Brasilien ein Präsident sein Amt an, der nicht nur für seine rassistischen, militaristischen und menschenverachtenden Positionen bekannt ist, sondern auch eng mit den Großagrariern seines Landes verbandelt ist. In der kurzen Zeit seiner Regierung ist die Abholzung des Regenwaldes geradezu explodiert. Im August wurden 222 Prozent mehr Urwald zerstört als im selben Monat des Vorjahres (Spiegel online vom 29. September 2019). Der zweite treibende Faktor ist das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mercosur. Für das brasilianische (wie auch das argentinische, paraguayische und bolivianische) Agrobusiness sind besonders die in Aussicht gestellten Steigerungen der Sojaexporte interessant. Die damit verbundene Flächenexpansion geht vor allem zu Lasten der Viehzüchter, die ihrerseits die Verluste durch die Abholzung des Regenwaldes und die Vertreibung indigener Völker und Kleinbauern ausgleichen. Zudem zwingt das Ausbleiben einer Agrarreform viele Kleinbauern und Landlose, die Agrargrenze immer tiefer in den Amazonas hinein zu treiben. Das Abbrennen der Tropenwälder, die große Teile des Kohlendioxids binden, forciert wiederum den Klimawandel, der die Ärmsten am härtesten trifft. Mit unserer „imperialen Lebensweise“ sind wir ein entscheidender Motor dieses Teufelskreises aus Extraktivismus, Klimawandel und Rechtsextremismus, der immer mehr Menschen in Armut und Hunger treibt. Nutznießer sind vor allem die transnationalen Agrarkonzerne und die großen einheimischen Agrarproduzenten und -exporteure.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, bedarf es sechstens des gemeinsamen Widerstandes. Hier hat das 1992 gegründete weltweite Bündnis La Vía Campesina, eine Art „Internationale“ von Kleinbauern, Landarbeitern, Fischern, Landlosen und indigenen Völkern aus mehr als 80 Ländern, Maßstäbe gesetzt. Auf dem Welternährungsgipfel der FAO 1996 hat die Bauernorganisation ihr Konzept der „Ernährungssouveränität“ als Alternative zur „Ernährungssicherheit“ vorgestellt.

Ernährungssouveränität ist das Recht aller Menschen, über die Art und Weise, wie Essen produziert, verteilt und konsumiert wird, demokratisch zu bestimmen. Inzwischen ist dieses Recht auch in der „Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten“ verankert (siehe besonders Artikel 15), die am 17. Dezember 2018 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet wurde. 121 Staaten votierten dafür, acht (darunter Australien, Ungarn, Israel, Neuseeland, Schweden, Großbritannien und die USA) dagegen und 54 enthielten sich, darunter auch Deutschland. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2019 bis 2028 außerdem zur Dekade der bäuerlichen Familienbetriebe erklärt.

Nimmt man die drei Menschheitsprobleme Hunger, Armut und Klimawandel als Maßstab, dann wird offensichtlich, dass die bislang betriebene Industrialisierung der Landwirtschaft und damit auch die Agrarpolitik Deutschlands und der EU in eine Sackgasse geführt haben. Die zahlreichen Lebensmittelskandale der jüngsten Zeit sind hierzulande nur die Spitze des Eisbergs. Eine Agrarwende, die sich konsequent an ökologischen Maßstäben orientiert, ist wie auch der Kampf gegen den Klimawandel nicht nur in Deutschland ein Gebot der Stunde. In den Ländern des Südens, wo mehr als 2,5 Milliarden Menschen in kleinbäuerlichen Strukturen leben, ist eine radikale, an den Lebens- und Produktionsbedingungen der Kleinbauern und der anderen in der Landwirtschaft lebenden Menschen ansetzende Agrarreform eine unabdingbare Notwendigkeit, um bei der Lösung der drei großen Menschheitsprobleme Hunger, Armut und Klimawandel endlich einen Durchbruch zu erzielen. Die Herstellung eines festen Bündnisses mit den Milliarden von Menschen, die davon am meisten betroffen sind, ist Aufgabe und Hoffnung zugleich.

 

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Literatur:

Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten. Resolution der Generalversammlung vom 17. Dezember 2018 (abrufbar unter: https://www.un.org/depts/german/gv-73/band1/ar73165.pdf).

Ernährungssouveränität (abrufbar unter: https://www.degrowth.info/wp-content/uploads/2016/06/DIB_Ernährungssouveränität.pdf).

„Erst kommt das Fressen“. Luxemburg 1/ 2018 (abrufbar unter: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/lux/wp-content/uploads/2018/05/LUX_1801_E-Paper.pdf).

Konzernatlas. Daten und Fakten über die Agrar- und Lebensmittelindustrie. Berlin, September 2017 (3. Auflage; abrufbar unter: https://www.boell.de/de/2017/01/10/konzernatlas).

Welthaus Bielefeld: Ernährungssouveränität geht uns alle an. Bielefeld 2019 (abrufbar unter: https://www.welthaus.de/fileadmin/user_upload/Auslandsprojekte/ES_Broschuere.pdf).

Ziegler, Jean: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. München 2013 (3. Auflage).

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Bildquelle: Quetzal-Redaktion_solebiasatti

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