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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Braucht Lateinamerika sein #MeToo?

Gabi Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Das Hashtag #MeToo ist dieser Tage ein Jahr alt geworden. Für die Medien war und ist das ein willkommener Anlass, Bilanz zu ziehen. Wir müssen an dieser Stelle nicht die Geschichte der Kampagne wiederholen, die ist weithin bekannt. In den USA angestoßen, ist #MeToo zu einer weltweiten Bewegung geworden, die ganz Enthusiastische auch schon einmal als „eine der großen Revolutionen des Jahrzehnts“ (Stavans) bezeichnen. Nachfolger des Hashtags gibt es inzwischen auf allen Kontinenten, von Kanada über Israel, Vietnam, Italien, Arabien bis Indien.

Auf allen Kontinenten? Nein, es scheint da eine Enklave zu geben: Lateinamerika. Irgendwie konnte der Subkontinent von dem Hashtag nicht erobert werden, eine große Kampagne namens #YoTambién gibt es dort nicht. Und so fühlte sich der mexikanische Schriftsteller Ilan Stavans im Januar in seinem Beitrag „América Latina necesita su #MeToo“ veranlasst zu fragen, warum es in Lateinamerika keine Beschwerdewelle über sexuelle Belästigung gibt, wie sie mit #MeToo in den USA, Frankreich oder Israel zu finden sei. Anlass gäbe es genug. Zumal sich bereits ab 2015 Kampagnen gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf dem Kontinent entwickelt haben – von Ni Una Menos in Argentinien bis zu Ni Una Más in Mexiko. Warum also, so Stavans‘ Frage, ist der Einfluss von #YoTambién auf dem Subkontinent bisher vergleichsweise gering geblieben? Folgerichtig fordert der in den USA lebende Mexikaner, Lateinamerika müsse Teil der #MeToo-Revolution werden. Und, so Stavans weiter, diese Veränderung muss bei den Männern beginnen. (vgl. Stavans) Die Antwort aus Lateinamerika auf den in der New York Times erschienenen Artikel blieb nicht lange aus. Und sie war eindeutig, wenn auch für Stavans vielleicht etwas unerwartet: Wir brauchen dein Hashtag nicht. (vgl. Cholakian)

Femizide_Bild_ Quetzal-Redaktion_sole biasattiAber sehen wir erst einmal bei den Fakten an. Laut UN Women liegen von den 25 Ländern mit den weltweit höchsten Raten an Frauenmorden 14 in Lateinamerika. Jedes Jahr sterben auf dem Kontinent 60.000 Frauen infolge männlicher Gewalt, allein in Mexiko werden täglich sieben Frauen ermordet. Lateinamerika gilt allgemein als die Heimatregion des machismo (obwohl dieser zweifelsohne ein spanisches Erbe ist). Die Frauen des Kontinents haben es mit einer tiefverwurzelten Einstellung zu tun, wonach Männer eine quasi natürliche Verfügungsgewalt über Frauen und ihre Körper haben. Und diese Einstellung kann sich auf fest gefügte gesellschaftliche Strukturen stützen. Es ist daher nicht überraschend, dass die Täter oft genug straffrei bleiben, sofern die (überlebenden) Opfer überhaupt wagen, sie anzuzeigen.

Doch andererseits haben alle lateinamerikanischen Länder die UN-Konvention über die Gleichbehandlung der Frauen unterschrieben, in 14 Ländern ist Femizid heute ein schweres Verbrechen. Und in fünf Ländern wird inzwischen bei den Kandidatenlisten für das Parlament Geschlechterparität verlangt (wovon man hierzulande wirklich nur träumen kann). Das alles sind zweifelsohne nicht zuletzt Erfolge der Frauenbewegung. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich langsam, Gesetze sind das eine – die Realität sieht nach wie vor anders aus. Und ebenso wie hierzulande sehen sich Frauen in Lateinamerika in ihrem Kampf um Gleichbehandlung einem erbitterten Widerstand gegenüber, der stärker zu werden scheint. Es geht schließlich um nicht weniger als um Macht, um „die Verteidigung des Modells der heteropatriarchalischen Familie durch rechte Regierungen überall auf der Welt, neoliberale Kürzungspolitiken, Angriffe auf sexuelle und reproduktive Rechte und schließlich direkte körperliche Gewalt gegen Frauen“. (Mason-Deese)

Frauen in Lateinamerika dazu aufzufordern, #MeToo intensiver zu nutzen und Vergewaltiger und Belästiger öffentlich anzuprangern, greift daher zu kurz. Ganz davon abgesehen, dass sie genau das bereits tun, und es schon vor #MeToo taten. Bevor Harvey Weinstein wegen seiner sexuellen Übergriffe zu Fall kam, musste in Brasilien ein Seifenopern-Mogul seinen Posten aus dem gleichen Grund räumen. In Argentinien sehen sich derzeit mehrere Rockmusiker mit schwerwiegenden Belästigungsvorwürfen konfrontiert; diese haben bereits Karrieren beendet, Prozesse stehen bevor. Man könnte die Liste fortsetzen, sie wird täglich länger.

Doch es geht um weit mehr. Der Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen, gegen Femizid ist auch ein Kampf gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Gewalt hervorbringen. Denn die Tatsache, dass Harvey Weinstein und Konsorten ihre Positionen räumen müssen, ändert nichts an den Machtverhältnissen. Aber genau darum geht es der feministischen Bewegung in Lateinamerika. Und so heißt es bereits 2016 in einer Pressemitteilung von Ni Una Menos: „Mehr als 22 Prozent der Frauen unter 30 haben keine Arbeit. Unsere Leben sind prekär. (…) Frauen werden von ihren Partnern getötet. Sie werden von ihren Eltern misshandelt oder von der Polizei geschlagen. Was wir erleben, ist eine Hetzjagd. Der Neoliberalismus testet seine Stärke an unseren Körpern.“ (zitiert nach: Mason-Deese). Der Widerstand gegen diese Hetzjagd wird täglich breiter und energischer; in Guatemala ebenso wie in Mexiko, Brasilien, Peru, Argentinien oder Chile.Streik_Nosotrasparamos_Bild_ Quetzal-Redaktion_sole biasatti

Ni Una Menos und Ni Una Más zeigen schon mit ihren Namen, was und wohin sie wollen: Keine Frau soll mehr Opfer werden und keine soll vergessen sein. Akademikerinnen, Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Studentinnen, Künstlerinnen, Indigene – in die Bewegung sollen alle Frauen einbezogen werden. Und so bilden sich mehr und mehr bisher als ungewöhnlich angesehene Allianzen: Aktivistinnen von Ni Una Menos mit Mapuche-Aktivistinnen oder Latinas in den USA mit streikenden Frauen in Argentinien. (vgl. Mason-Deese) Ja, lateinamerikanische Feministinnen organisieren mittlerweile regelmäßig zum 8. März Frauen-Streiks – Generalstreiks (die im Allgemeinen von den traditionellen Gewerkschaften nicht unterstützt werden). Es geht den Frauen um Selbstorganisation und Selbstermächtigung, um die Eroberung neuer sozialer Räume. Und wichtig ist dabei, dass keine Form von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen akzeptiert werden darf, ob nun am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit oder in der Familie. Gewalt gegen Frauen ist ein strukturelles Problem. Das bedeutet, dass nicht nur individuelle Täter, sondern auch die sozialen und politischen Strukturen in den Fokus genommen werden müssen.

Die Lateinamerikanerinnen sind also schon etwas weiter als gemeinhin angenommen. Nein, das heißt jetzt nicht, dass sich die Frauenbewegung (z.B.) in den USA auf das Anprangern sexueller Übergriffe beschränkt. Aber #MeToo tut das weitestgehend. Die Bewegung hat damit zweifellos Türen aufgestoßen, eine große Öffentlichkeit geschaffen und Räume für weitere Aktionen geöffnet. Das ist ihr Verdienst; doch die weitgehende Beschränkung auf Diskriminierung in den Institutionen ist zu wenig. Zudem wird es durchaus als ein Problem gesehen, dass die Öffentlichkeit #MeToo weitgehend als eine Angelegenheit von Prominenten wahrnimmt. Wieso ist das Leid von Nicht-Prominenten für die Medien so uninteressant? Darüber hinaus erscheint das Hashtag offensichtlich auch als eine „zentralistische“ Kampagne der westlichen Welt. (vgl. Cholakian)

Es ist also Liz Mason-Deese zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass #MeToo bei der lateinamerikanischen Frauenbewegung durchaus noch etwas lernen könne. Dafür muss man aber weit mehr Formen von Gewalt und Diskriminierung von Frauen in den Blick nehmen und auch von der Fokussierung auf Frauen mit Promistatus wegkommen. „Nein, New York Times.“, antwortete die argentinische Aktivistin Lucía Cholakian Herrera auf Ilan Stavans Aufruf zu einem lateinamerikanischen #MeToo. „Wir müssen nicht Teil der #MeeToo-Revolution werden. Wir haben unsere eigene und haben vor langer Zeit damit angefangen, auch wenn sie diese nicht im Fernsehen gesehen haben.“

 

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Quellen:

Bouecke, Andreas: Es hat zu viele Tote gegeben. in: neues deutschland. 25./26.11.2017, S. 18-19.

Cholakian Herrera, Lucía: ¿América Latine no tiene su #MeToo? Nosotras no necesitamos tu hashtag (25.10.2018)

Margolis, Mac: Latin America‘s #MeToo-Moment. www.bloomberg.com/view/articles/2017-12-28/latin-america-s-metoo-moment (25.10.2018)

Mason-Deese, Liz: Von #metoo zu #westrike. Eine Politik im Femininum. www.zeitschrift-luxemburg.de/von-metoo-zu-westrike (25.10.2018)

Stavans, Ilan: América Latina nezesita su #MeToo. www.nytimes.com/de/2018/01/05/america-latina-nezesita-su metoo/ (25.10.2018)

 

 

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