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Der Einsiedler der Uhr

Teresa de la Parra | | Artikel drucken
Lesedauer: 22 Minuten

Kultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler2_Quetzalredaktion_CDEs war einmal ein Kapuzinermönch, der eingesperrt in einer holzgeschnitzten Tischuhr die Stunden zu schlagen hatte. Zwölf Mal am Tag und zwölf Mal in der Nacht öffnete ein klug ausgetüftelter Mechanismus das Tor des gotischen Kapellchens, das die Uhr darstellte, sperrangelweit, so dass man von außen erkennen konnte, wie unser Eremit genauso oft an den Strängen zog wie das im Glockenturm versteckte Schlagwerk sein wachsames Bim Bam ertönen ließ. Sodann schloss sich das Portal wieder mit einem jähen und trockenen Stoß, als solle die Gestalt weggezaubert werden. Der Ordensmann erfreute sich ungeachtet seines Alters und abgeschiedenen Lebens bester Gesundheit. Eine immer frische und gut ausgebürstete, wollene Kutte reichte ihm makellos bis zu seinen bloßen, in Sandalen steckenden Füßen. Anders als die frischen rosigen Wangen sorgte der lange weiße Bart für den nötigen Respekt. Kurz und gut, er besaß all das, was man zum Glücklichsein braucht. Ohne den geringsten Argwohn, dass man ihn womöglich nasführen könnte und die Uhr einem Mechanismus gehorchte, war er des festen Glaubens, dass er die Glocken läute, wodurch er sich mächtig und bedeutend vorkam.

Nicht um alles in der Welt wäre es ihm eingefallen, sich mit dem Volk gemein zu machen. Er beschränkte sich darauf, ihnen den großen Dienst des Stundenschlagens zu erweisen.

Aus allem Übrigen hielt er sich heraus. Suchte jemand den vom Nimbus der Heiligkeit umgebenen Klausner auf, um ihn in einem schwierigen Fall wie Krankheit oder Ähnlichem zu konsultieren, ließ er sich noch nicht einmal dazu herab, die Tür zu öffnen, sondern gab die Antwort durch das Schlüsselloch, was die dunkle und rätselhafte Aura seiner Orakelsprüche noch erhöhte.

Unzählige Jahre ging Bruder Barnabas (das war sein Name) auf in der ihn fesselnden Tätigkeit des Glöckners, die seinem Leben den Sinn stiftete. Um das zu verdeutlichen, möge man kurz bedenken, dass alle Augen der Gemeinschaft des Esszimmers auf die Kapelle gerichtet waren, ja dass es für die Dörfler keine größere Zerstreuung gab als den Auftritt des Kuttenträgers mit seinem Glockengeläut. Zu den Anwohnern zählte eine Kompottschale, die das allertraurigste Dasein der Welt fristete. Dank der Schusseligkeit eines Dienstmädchens war sie gleich zu Anfang in zwei Teile zerbrochen, den Sprung hatte man daraufhin mit Eisenhaken zusammengeflickt.

Seitdem wurde sie jedes einzige Mal von den Früchten, mit denen man sie füllte, bevor der Nachtisch aufgetragen wurde, mit Häme behandelt, erachteten diese sie nämlich als Behältnis für weit unter ihrem Niveau.

Die Schüssel, in deren Wunde des verletzten Stolzes immer wieder Salz gestreut wurde, fand ihren Trost im Anblick des emsigen Mönchs.

Schaut euch nur jenen Mann im braunen Habit an“, richtete sie sich an das gehässige Obst und kostete mit diebischer Freude ihren ganz persönlichen Rachefeldzug bereits im Vorhinein gehörig aus. „Bald schon läutet er die Stunde ein, zu der man euch sämtlich verspeisen wird!“ Jedoch ohne auch nur eins ihrer Worte ernst zu nehmen, erwiderten die Angesprochenen: „Du missgestaltete Neiderin! Als ob das Verhängnis mit solch kristallhellem und sanftem Klang einherginge!“

Nicht nur die Früchte zählten zu des Kapuziners Verehrern, auch einige alte Zeitungen, die unter einer Konsole ihr Leben damit zubrachten, ständig Ereignisse, die zwei Jahrzehnte zurücklagen, wiederzukäuen sowie die Tabaksdose, die Zuckerzange, die Wandgemälde und die Likörflaschen – ihrer aller Blicke ruhten auf der Uhr und jedes Öffnen der Eichentür begrüßten sie mit ehrlicher und herzlicher Begeisterung.

Gegen zehn vor zwölf fanden sich die Kinder ein, setzten sich dem Kamin gegenüber im Kreise hin und warteten geduldig auf die Mittagsstunde. Das war ein feierlicher Moment für alle, weil der Klosterbruder sich nach getaner Arbeit nicht so wie um eins oder um zwei mit Diebesgeschwindigkeit davonstahl, (so dass einem fast schon Zweifel kamen, ihn überhaupt gesehen zu haben), sondern sich nun ausgiebiger zeigte, will sagen, genau so lange, wie es eben braucht, um die Glocke zwölf Mal zu schlagen. Aber auch weil er sich seiner Bewunderer bewusst war, ging er es ruhiger an. Mit gespielter Gleichgültigkeit machte er sich artig ans Werk und zog das Seil, während er mit einem verstohlenen Seitenblick die Wirkung prüfte, die seine Gegenwart hervorrief. Die Kinder krakeelten aufgeregt durcheinander: Kultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler1_Quetzalredaktion_CD

Guckt mal, wie dick er geworden ist.“

Nein, er ist ganz der Alte.“ 

Nicht doch, er ist viel jünger.“

Das ist nicht der von früher, es ist sein Sohn.“, und so weiter und so weiter.

Die Essgabeln des Bestecks, mit dem der Tisch bereits gedeckt war, zeigten lachend ihre Zinken. Die Sonne ließ fröhlich das Gold der Bilderrahmen und die leuchtenden Farben der Leinwände erglänzen, die Familienmitglieder der Ahnengalerie zwinkerten sich zu, als wollten sie sagen: „So so, den Frater gibt es also auch immer noch! In unseren Kindertagen hatten wir gleichermaßen viel Spaß mit ihm.“

Was für ein Triumph!

Punkt 12 erschienen die Erwachsenen, alle setzten sich zu Tisch und beseelt von jener größten Zufriedenheit, die der Pflichterfüllung folgt, zog sich Bruder Barnabas in seine Klause zurück.

Aber ach! Es nahte der Tag, an dem ihm besagtes Gefühl nicht mehr genügte. Schließlich war er es leid, ständig die Glocken zu läuten, und noch mehr wurmte es ihn, niemals nach draußen zu dürfen. Unbestritten ist das Amt des Glöckners ein weithin hochgeschätzter Dienst am Gemeinwohl. Aber wie viel Zeit nimmt es in Anspruch? Vielleicht gerade mal eine von sechzig Minuten. Und was fängt man mit dem Rest an? Tja, in der engen Zelle seine Runden drehen, den Rosenkranz beten, meditieren, schlafen, unter der Tür hinweg oder durch die filigranen Aussparungen im Schnitzwerk des Glockenturms einen mehr als vagen Strahl des Sonnen- oder Mondlichts erspähen – allesamt waren das keine spannenden Aktivitäten. Bruder Barnabas ließ sich die Zeit lang werden.

So verfiel er eines Tages auf die Idee zu fliehen – von der er aber sogleich wieder abließ, nachdem er die im Innern der Kapelle angeschlagene Dienstanweisung noch einmal gründlich durchgelesen hatte und ihn der mit der Versuchung einhergehende Schreck des schlechten Gewissens durchzuckte. Hier hieß es unmissverständlich: ‚Für Bruder Barnabas besteht absolutes Ausgeh-Verbot. Er darf die Uhren-Kapelle unter keinen Umständen Kultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler3_Quetzalredaktion_CDverlassen, muss er doch rund um die Uhr verfügbar sein, um die Stunden tags wie nachts zu schlagen.‘ Daran gab es nichts zu deuteln. Der Einsiedler beugte sich, doch wie schwer fiel ihm diese Unterwerfung! Als er eines Nachts die Tür öffnete, um in aller Herrgottsfrühe die dritte Stunde einzuläuten, wie verblüfft war er, als er von Angesicht zu Angesicht einem Elefanten gegenüberstand, der ihn geradewegs und ruhig mit bösen Äuglein anblitzte. Selbstverständlich erkannte Frater Barnabas ihn sogleich. Es war jener Dickhäuter aus Ebenholz, der in der vis-à-vis gelegenen Seite des Esszimmers auf dem obersten Bord der Anrichte lebte und den er nie woanders erblickt und daher stets als mit dem Möbelstück verwachsen, aus dem selben Holz geschnitzt betrachtet hatte. Die Überraschung, ihm hier direkt ins Auge zu sehen, ließ den Bruder wie angewurzelt stehen bleiben, so dass er ganz vergaß die Türen zu schließen, als er mit den Stundenschlägen fertig war.

Na, sieh mal einer an“, sagte das Rüsseltier, „meine Visite scheint ja recht wirkungsvoll zu sein. Mache ich Ihnen etwa Angst?“

Nein, nein, dem ist nicht so“, stammelte der Eremit, „aber – zugegeben – dass …! Kommen Sie etwa, um mich zu besuchen?“

Ja, präzis. Sie haben allen hier so viel Freude bereitet, dass es nur recht und billig ist, dass sich jemand dazu aufrafft, Ihnen etwas Gutes zu tun. Zudem weiß ich, wie unglücklich Ihr Leben ist. Ich komme, um Ihnen Trost zu spenden.“

Woher wissen Sie, dass … ? Wie kommen Sie zu der Vermutung? Ich habe doch mit niemandem darüber geredet. Sind Sie etwa der Teufel?“

Immer mit der Ruhe“, antwortete der ebenhölzerne Dickhäuter mit einem Lächeln, „mit dieser prominenten Person habe ich nichts zu tun. Ich bin nur ein Elefant … wenn auch ein besonderer, nämlich der der Königin von Saba. Zu ihren Lebzeiten trug ich diese große afrikanische Herrscherin auf ihren Reisen. Ich bin des Königs Salomo ansichtig geworden. Er trug viel kostbarere Gewänder als Sie, dafür aber keinen so schönen Bart. Wie ich darauf kam, dass Sie unglücklich sind, dürfte ja nicht so schwer zu erraten sein! Einer solchen Existenz kann man doch nur über sein!“

Mir ist es nicht gestattet, mich von hier zu entfernen“, bestätigte der Frater mit Nachdruck.

Ja, aber das ist noch lange kein Grund in einem öden Dasein zu verharren.“

Diese Replik und der inquisitorische Blick des Rüsslers setzten dem Eremiten zu. Er erwiderte nichts, dazu fehlte ihm der Mut, aber: Es traf schon zu. Er hatte sich zu Tode gelangweilt. Demgegenüber war da sein klarumrissener Auftrag, seine ausdrückliche und unbestreitbare Anweisung, sich immer in dem Kapellchen aufzuhalten und die Glocke zu ziehen.

Wie jemand, der selbst dem kleinsten Gedankenfetzen seines Gegenübers das Recht auf Entfaltung gönnte, bedachte der Dickhäuter das Gesagte einige Zeit in Stille, bevor er in aller Unschuld den Faden mit der Frage wieder aufnahm: „Aber wieso dürfen Sie sich von hier denn nicht wegbewegen?“

So habe ich es einst meinem Spiritus Rector und Beichtvater geschworen, als er mich dazu bestimmte, diese Kapellenuhr zu übernehmen.“

Ach – und wie lange ist das jetzt her?“

So um die fünfzig Jahre“, entgegnete Bruder Barnabas, nachdem er die Zeit kurz überschlagen hatte.

Und in diesen fünf Dekaden – haben Sie da jemals wieder etwas von Ihrem Mentor gehört?“

Nein, nimmermehr.“

Und wie alt war er damals?“

Er ging so auf die Achtzig zu.“ Kultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler4_Quetzalredaktion_CD

Womit er heute – wenn mich nicht alles täuscht – Hundertdreißig wäre. Aber mein lieber Freund,“ – und an dieser Stelle ließ der Elefant ein ohrenbetäubendes, sardonisches Lachen erschallen – „das heißt doch, dass er Sie total vergessen haben dürfte, es sei denn, er hat Sie reinlegen wollen. Wie auch immer, von Ihrer Übereinkunft sind Sie wohl allemal entbunden.“

Aber“, wandte der Fra ein, „die Ordensregel …“

Welche Ordensregel?“

Also – die Anweisung“, sagte er und zeigte auf den Anschlag im Innern der Mönchszelle. Das Rüsseltier las ihn aufmerksam durch und sprach: „Möchten Sie meine ehrliche Meinung hören? Der erste Teil dieses Dokuments dient nur dem Zweck, Sie einzuschüchtern. Die einzige relevante Aussage ist … jede Stunde sowohl zur Tages- als auch zur Nachtzeit schlagen … das allein ist Ihre Schuldigkeit. Daher reicht es, wenn Sie zu den geforderten Zeiten auf Ihrem Posten sind. Alle weiteren stehen Ihnen nach Belieben zur freien Verfügung.“

Aber was soll ich mit all der Muße?“

Folgendes“, entgegnete der ebenhölzerne Dickhäuter und schlug auf einmal einen anderen, nämlich klaren, gebieterischen und energischen Ton an. „Du wirst auf meinen Rücken steigen und ich werde dich durch wunderbare, dir unbekannte Länder bis ans Ende der Welt tragen. Weißt du, dass in jenem geheimen Schrank, den sie so gut wie nie öffnen, Schätze von unendlichem Wert liegen, von denen du dir keine Vorstellung machst? Tabaksdosen, in die Napoleon geniest hat; Goldmedaillen mit den Büsten römischer Cäsaren; Jadefische, die alles über das Leben am Meeresboden wissen; ein alter, leerer, aber immer noch stark duftender Ingwer-Topf, der einem, nachdem man sich bereits im Vorübergehen fast daran berauscht hat, am Ende fantastische Träume beschert.

Das Allerschönste jedoch ist die Suppenschüssel, die fabelhafte Terrine aus chinesischem Porzellan, die als einziges Teil eines großartigen und äußerst seltenen Services erhalten geblieben ist. Sie ist mit Blumen und am Boden – kaum zu glauben – mit der Königin von Saba höchstselbst bemalt, die mit ihrem Papagei, dem Propheten, auf dem Arm unter einem farbenprächtigen Sonnenschirm steht.

Ach, wenn du nur erahnen könntest, wie wunderschön, allerliebst und einfach nur zum Anbeten sie doch ist! Und sie erwartet dich! Als treuergebener Diener folge ich ihr nun schon dreitausend Jahre. Heute äußerte sie den Wunsch: Bring den Einsiedler aus der Uhr zu mir. Ich bin sicher, er verzehrt sich danach, mir einen Besuch abzustatten.“

Die Königin von Saba!“, brummelte der vor Aufregung zitternde Barnabas in seinen Bart. „Das kann ich unmöglich ausschlagen. Da werde ich hingehen müssen.“ Und laut sprach er: „Natürlich möchte ich zu ihr. Aber die volle Stunde, die volle Stunde! Denk doch mal nach, Elefant, wir haben nur noch fünfzehn Minuten … “.

Es wird schon niemandem auffallen, wenn Sie bereits jetzt die vierte Stunde einläuten. Und somit bleiben Ihnen eine ganze und eine Viertelstunde bis zum nächsten Schlag – genug Zeit, um Ihrer Majestät die Aufwartung zu machen.“

Und indem der Klosterbruder alles hinter sich ließ und mit einer Vergangenheit von fünfzig Jahren geprägt von äußerster Akribie und selbstloser Hingabe brach, zog er hastig viermal an dem Glockenstrang, bevor er auf den Rücken des Tiers sprang. Das trug ihn durch den Raum und in wenigen Sekunden vor den Schrank, dessen Tür sich wie von Zauberhand auftat, nachdem der Dickhäuter dreimal mit seinen Stoßzähnen angepocht hatte. Mit wunderlicher Behutsamkeit tauchte er alsdann in einen Wirrwarr aus Tabaksdosen, Medaillen, Fächern, Jadefischen und Skulpturen ein und kam schon bald vor der berühmten Suppenschüssel zum Stehen. Nach weiteren magischen drei Schlägen hob sich der Deckel und endlich konnte unser Mönch die Monarchin von Saba erblicken. Erhaben und mit einem bezaubernden Lächeln stand sie in einer Blumenlandschaft vor einem goldenen und mit Edelsteinen besetzten Thron und trug den Propheten Papagei auf ihrem Arm.

Endlich, mein schöner Eremit“, hieß sie ihn willkommen. „Ach, wie mich Ihr Besuch erfreut. Ich muss gestehen, dass ich ihn zutiefst herbeigesehnt habe; bei jedem Uhrenschlag, den ich vernahm, sagte ich mir: Was für ein süßer und kristallheller Klang. Was für eine himmlische Musik. Den Glöckner möchte ich gern kennen lernen. Das muss ein Mann von großer Gewandtheit sein. Treten Sie näher, mein schöner Eremit.“

Bruder Barnabas tat wie geheißen, strahlend vor Glück, in einer für ihn gänzlich überirdischen Welt … Was war davon zu halten? Eine Hoheit plauderte ganz ungezwungen mit ihm, eine Herrscherin hatte nach ihm geschickt!

Und sie fuhr fort:

Hier, nimm diese Rose zur Erinnerung an mich. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich hier ennuyiere. Ich habe versucht, mich mit meiner Entourage zu vergnügen. Irgendwie haben sie mir alle mehr oder minder den Hof gemacht, aber schließlich war ich ihrer satt. Der Tabaksdose mangelt es nicht an Witz; ihre Kriegsgeschichten oder Räuberpistolen fand ich ganz amüsant, ihren Gestank hingegen einfach nur abstoßend. Der Ingwertopf besitzt Anmut und einen gewissen Charme, aber ich kann mich in seiner Nähe nicht aufhalten, ohne von unüberwindbarer Schläfrigkeit übermannt zu werden. Die Fische verfügen über allumfassende Kenntnisse, bleiben jedoch stumm. Richtig auf andere Gedanken gebracht hat mich nur der Cäsar auf der Goldmedaille, dessen Hochmut ich am Ende jedoch schier unerträglich fand. Unternahm er nicht unter dem Vorwand, ich sei eine Barbarenkönigin, sogar den Versuch, mich in Gefangenschaft zu nehmen! Deshalb entschied ich, ihm mitsamt seinem Lorbeerkranz und seiner großen angeberischen Nase den Laufpass zu geben und so kam es, dass ich alleine blieb und in meiner Einsamkeit nur an Sie – den fernen Glöckner – dachte, der mir in den Nächten so liebliche WeiKultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler5_Quetzalredaktion_CDsen darbot. Also sprach ich zu meinem Elefanten: Geh und hol ihn her. Wir werden uns gegenseitig ablenken. Ich werde ihm meine Abenteuer schildern, er mir die seinen. – „Möchten Sie, hübscher Einsiedler, nun meine Lebensgeschichte vernehmen?“

Oh ja, wie herrlich“, seufzte Bruder Barnabas schwärmerisch. Und die Königin von Saba begann, sich der großartigen Abenteuer zu erinnern, die sie seit jener Nacht erlebt, in der sie von Salomo Abschied genommen bis zu dem noch nicht so lange zurückliegenden Tag, an dem Sie sich in Begleitung ihrer Sklaven samt ihrem Sonnenschirm, ihrem Thron und ihren Vögeln in der Suppenterrine häuslich eingerichtet hatte. Sie verfügte über Stoff für mehrere Bücher und selbst damit war noch nicht alles erfasst. Sie schwelgte in ihren Erinnerungen, wie sie ihr gerade in den Kopf kamen. Afrika, Asien und die Inseln beider Ozeane hatte sie bereist. Ein chinesischer Prinz, Reiter auf einem Delfin aus Jade, hatte um ihre Hand angehalten, von ihr aber einen Korb bekommen, weil sie schon in Begleitung eines jungen, auf einem Fächer abgebildeten Kavaliers eine Reise nach Peru plante. Dieser hatte, im Begriff sich nach Kythera einzuschiffen, kehrt gemacht, nachdem er im Vorbeifahren einen Blick auf sie erhascht hatte.

In Arabien hatte sie an einem Hof von Magiern gelebt, die zu ihrer Unterhaltung vor ihren Augen Zaubervögel aufsteigen ließen. Sodann erhoben sich die Schwarzkünstler, ergriffen von heftigen, von ihnen selbst entfesselten Stürmen, auf den Schwingen ihrer Gewänder in die Lüfte. Sie brachten unter dem Sand begrabene Statuen zum Singen, schickten Karawanen in die Irre und gaukelten mittels Luftspiegelungen Gärten, Paläste und Springbrunnen vor.

Ihr außergewöhnlichstes Abenteuer hatte sie mit dem Cäsar der Goldmedaille. Zwar betonte sie immer wieder, sein Hochmut habe sie gekränkt, gleichzeitig aber platzte sie fast vor Stolz, da er eine hoch angesehene Persönlichkeit war. Ab und an, mitten in einer Erzählung, wagte der arme Kuttenträger sie schüchtern zu unterbrechen. „Ich denke, es ist an der Zeit, mich zu verabschieden, um die Stunde zu schlagen. Bitte gestatten Sie mir, mich zu entfernen.“ Worauf die Monarchin ihm mit der Hand zärtlich über den schönen Bart strich und lachend konterte: „Wie unartig von dir, mein schöner Barnabas! Da denkst du an die Glocke, während eine afrikanische Regentin dich ins Vertrauen zieht. Nebenbei: Noch ist es Nacht. Niemand wird dein Ausbleiben bemerken.“

Und sie spann ihr fantastisches Garn weiter. Als sie geendet hatte, richtete sie sich an ihren Gast und forderte ihn mit der bezauberndsten Miene auf: „Und nun, mein schöner Barnabas, sind Sie dran, habe ich Ihnen aus meinem Leben doch nichts vorenthalten. Jetzt sind Sie am Zug!“

Und nachdem sie den total überwältigten, armen Frater an ihrer Seite auf ihrem Thron hatte Platz nehmen lassen, warf sie wie in Erwartung von etwas Exquisitem in genießerischer Geste ihren Kopf nach hinten.

Da hob der Unglückselige an, Episoden aus seinem Leben zu erzählen. Er schilderte, wie sein Prior Pater Anselm ihn eines Tages zur Uhren-Kapelle brachte, wie ihm der Posten übertragen wurde und wie er sich in den Anfangszeiten als Glöckner gefühlt hatte. Er beschrieb seine Zelle, zitierte den vollen Wortlaut der Dienstanweisung, die er dort vorgefunden hatte. Er erwähnte, dass die einzige Bank, auf die er sich setzen konnte, wackelte und dass das Schlimmste an seiner Arbeit war, nie mehr als eine Dreiviertelstunde Schlaf zu bekommen, immer in Angst, den Moment zu verpassen, an dem er wieder den Strang zu ziehen hatte.

Insgeheim aber bezweifelte er, dass sich auch nur irgendjemand für solche Plattheiten interessieren würde. Doch er hatte sich bereits so weit darauf eingelassen, dass es kein Zurück mehr gab. Er erriet nur zu gut, dass das, was die Majestät von ihm erwartete, kein Bericht über sein wirkliches, im Grunde belangloses Dasein war, sondern ganz im Gegenteil die Schilderung eines schönen Lebens, dessen abwechslungsreiche und rührende Schicksalswendungen er kunstvoll zu extemporieren hatte. Aber ach, absolut fantasielos wie er nun einmal war, hatte er sich notgedrungen auf die banalen Tatsachen beschränkt, will sagen, auf so gut wie auf nichts.

An einer passenden Stelle hob er die Augen, die er bis dahin aus Schüchternheit wie festgenagelt auf den Boden gerichtet hatte, und bemerkte, dass die Sklaven, der Papagei, alle, selbst Ihre Hoheit in tiefem und festem Schlummer lagen. Einzig der Dickhäuter wachte.

Bravo!“, rief dieser. „Jetzt lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass Sie ein erstklassiger Erzähler sind. Da kann selbst der Ingwertopf nicht mithalten.“

Oh mein Gott“, flehte der Frater, „die Herrscherin wird mir doch wohl nicht zürnen?“

Das entzieht sich meiner Kenntnis. Fest steht allerdings, dass wir zurück müssen. Der Tag ist schon angebrochen. Ich habe gerade noch genug Zeit, Sie auf den Rücken zu nehmen und zu der Kapelle zu bringen.“

Gesagt – getan: Blitzschnell durchquerte unser ebenhölzerner Elefant das Esszimmer und gerade als er vor dem Kapellchen ankam, schlug es von der Kathedralenuhr in der Stadt die achte Stunde. Außer Atem hetzte der Kapuziner sich ab, damit auch er seine acht Glockenschläge noch ausführen könnte und völlig am Ende seiner Kräfte fiel er darnach vor lauter Müdigkeit um. Zum Glück hatte seine Abwesenheit keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregt.

Kultur_Teresa-de_la_Parra_Einsiedler6_Quetzalredaktion_CDDen ganzen Tag verbrachte er in fieberhafter Angst. Während er der Arbeit nur noch mechanisch nachging, kreisten seine Gedanken ununterbrochen um die verwunschene Terrine, in der die Regentin lebte und er sagte sich: Mein tägliches Einerlei macht mir gar nichts aus, wenn ich in den Nächten abgeholt und zu ihr gebracht werde. Ach, was für ein herrliches Leben steht mir doch bevor! Mit der Abenddämmerung begann er die Ankunft des Rüsseltiers ungeduldig herbeizusehnen. Aber nichts tat sich! 24 Uhr, ein Uhr, zwei Uhr nachts gingen vorbei, ohne das geringste Zeichen des königlichen Abgesandten. Schließlich hielt der Klosterbruder es nicht mehr länger aus. Er redete sich ein, dass es sich lediglich um ein Versehen handeln könne, und machte sich auf den Weg. Die Reise war lang und beschwerlich. Beim Abstieg vom Kamin fand er Halt an der Verkleidung, da diese aber nicht bis auf den Boden reichte, musste er am Ende aus einer Höhe springen, die das Fünf- bis Sechsfache seiner eigenen Körpergröße betrug. Zu Fuß durchmaß er das große Zimmer, kollidierte in der Dunkelheit mit einem Tischbein, rutschte auf einer Küchenschabe aus und kämpfte am Schluss mit einer wilden Ratte, die ihm gnadenlos ins Bein biss. Alles in allem brauchte er etwa zwei Stunden bis zu dem Schrank. Indem er das Vorgehen des Rüsseltiers aufs Genaueste wiederholte, konnte er sowohl die Tür, als auch den Deckel der Suppenschüssel problemlos öffnen. Vor Aufregung und Freude zitternd stand er endlich vor der Monarchin, die sich äußerst überrascht zeigte. „Was gibt’s?“, erkundigte sie sich, „was ist Ihr Begehr, Pater Kapuziner?“

Haben Sie mich etwa schon vergessen?“, erwiderte er mit großer Bestürzung. „Ich bin’s … der Einsiedler der Uhr … der letzte Nacht hier war.“

Ach – der Mönch von gestern? Also, wenn ich Ihnen einen ehrlichen Rat geben darf: Am besten kehren Sie niemals mehr hierher zurück. Ihre Geschichten sind einfach zu fad!“

Da dem Armen der Mut fehlte, sich seinem Schicksal zu stellen, wagte er sich nicht zu rühren. „Hätten Sie die Güte, sich zu entfernen“, kreischte der Prophet Papagei, stürzte sich auf den Frater und versah ihn mit Schnabelhieben. „Zum allerletzten Mal, Sie sind hier unerwünscht. Los! Verziehen Sie sich, aber ein bisschen plötzlich!“

Mit tödlich getroffener Seele trat Bruder Barnabas den Rückzug an. Im Gehen sprach er zu sich: Das konnte alles nur geschehen, weil ich meinen Dienst vernachlässigt habe! Das lag doch auf der Hand, dass das eine Versuchung des Satans war, der mich meiner Meriten hat berauben wollen, die ich mit einem Leben in Einsamkeit und Buße gesammelt habe. Als ob ein elender, in grobes Wolltuch gehüllter Klausner mit den Erinnerungen konkurrieren könnte, die eine Hoheit an einen römischen Kaiser im Herzen trägt! Aber ach, wie schön, wie wunderschön sie doch war … Ich muss sie mir schleunigst aus dem Kopf schlagen. Von heute an zählt nur noch meine Arbeit, ich werde an nichts anderes mehr denken, als die Glocke erschallen zu lassen und das mit Freuden, bis dass der Tod mich im hohen Alter überrascht.

Gebe Gott, dass meine Flucht unbemerkt geblieben ist! Wenn ich nur zeitig ankomme! Es ist sieben Uhr dreißig! Falls ich nicht um Punkt acht Uhr dort eintreffe, bin ich geliefert! Das ist nämlich der Moment, zu dem im Haus das Leben erwacht.“

Und er rannte weiter, obwohl ihm die Kraft aus seinen Beinen schwand. Beim Erklimmen des Kamins, wobei er sich am Simswerk hochhangeln musste, schien ihm das ganze Blut seines Körpers in den Ohren zu pulsieren. Halbtot schaffte er es bis nach oben.

Doch alle Anstrengung hatte nichts genützt … zu spät … die achte Stunde wurde bereits eingeläutet. Ja, genau so war es: Es schlug acht und das von selber, ganz ohne sein Zutun. Die Tür der Uhr hatte sich sperrangelweit geöffnet, wie von Geisterhand gezogen bewegte der Strang sich auf und nieder und acht helle Töne erklangen …

Wie vom Donner gerührt stand er da und langsam begann es ihm zu dämmern: Er hatte an dem Mechanismus nicht den geringsten Anteil, der Glockenturm funktionierte ohne seine Einbringung. Mit all seiner Emsigkeit und täglichen Aufopferung hatte er sich lächerlich, ja um ein Haar zum Gespött der Leute gemacht. Die Glückseligkeit, die er sich von der Monarchin versprochen, aber auch die gehorsame Erledigung zukünftiger Aufgaben in seiner Zelle, die nun zwecklos erschienen – das Ganze brach wie ein Kartenhaus über ihm zusammen. Die absolute, schwarze und größtmögliche Verzweiflung nahm von ihm Besitz. Sein geduldig ertragenes Leben entbehrte unter solchen Bedingungen jeglichen Sinns.

Also zerpflückte er die Rose, das Geschenk der Königin, zerriss die Regel an der Zellenwand, ergriff das äußerste Ende des Glockenstrangs, der wie gewöhnlich unter der Decke zum Vorschein kam, legte sich ihn, den er so viele Male freudig in der Hand gehalten hatte, um den Hals und mit einem Sprung ins Leere hängte er sich auf.

 

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquellen: Quetzal-Redaktion_CD

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