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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Lebensbedingungen und Gesundheit junger Indigener in Lateinamerika

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Lateinamerika: Indigene SchülerInnen - Foto: Quetzal_Redaktion_alDie Briten Richard Wilkinson und Kate Picket untersuchten in ihrem 2009 erschienenen Buch „The Spirit Level“ (die deutsche Ausgabe erschien 2010 unter dem Titel „Gleichheit ist Glück“) den Zusammenhang von wirtschaftlicher Ungleichheit und Lebensqualität. Ihre Analyse umfangreichen statistischen Materials kam zu eben dem Schluss, den der (m.E. eher schlichte) deutsche Titel auf eine einfache Formel bringt: Gleichheit ist Glück. Oder anders gesagt: Je größer die Einkommensunterschiede in einer Gesellschaft sind, desto schlechter ist die Lebensqualität ihrer Mitglieder, und zwar aller ihrer Mitglieder.

Wilkinson und Picket haben entwickelte Industrieländer analysiert, Länder also mit einem grundlegend hohen Lebensstandard. Wie sieht es mit den Auswirkungen gesellschaftlicher  Ungleichheit in weniger entwickelten Ländern aus? Die CEPAL veröffentlichte im Jahr 2011 eine Studie, die sich mit nur einer Gruppe in den lateinamerikanischen Gesellschaften beschäftigt – den jungen Indígenas. Wie lebt diese Gruppe und wo?

Lateinamerika ist die Region in der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit, das Pro-Kopf-Einkommen der reichsten 20 Prozent ist 20 mal höher als das der ärmsten 20 Prozent (in Westeuropa liegt die Relation bei 4 bis 6). Die Ureinwohner Lateinamerikas sind in besonderem Maße von der Ungleichheit betroffen, gehören sie doch zu den Ärmsten unter den Armen. Sie leben häufiger in ländlichen Regionen, sind in höherem Maße arbeitslos, unterbeschäftigt, haben ein niedrigeres Einkommen sowie einen schlechten Ernährungs- und Gesundheitszustand. Ihre Schulbildung ist schlechter, die Analphabetenrate ist höher als in anderen Bevölkerungsgruppen. Kurz: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Merkmalen „indigen“ und „arm“.

Diese Lebensbedingungen finden ihren Niederschlag in einer niedrigeren Lebenserwartung: Sie liegt bei indigenen Völkern Lateinamerikas um 10 bis 20 Jahre unter der der Gesamtbevölkerung.

Die CEPAL kam 2006 bei einer Analyse der Volkszählungen (2000) von sechs lateinamerikanischen Ländern zu dem Schluss, dass indigene Gesellschaften deutlich jünger sind als nichtindigene, wobei das Bild der einzelnen Länder nicht homogen ist. Die Palette reicht von sehr jungen indigenen Gemeinschaften, wie z.B. in Guatemala oder Panama bis zu gealterten Gesellschaften wie in Brasilien und Chile. Beim Vergleich der 14 Staaten, die die vorliegende CEPAL-Untersuchung einbezieht (*), zeigt sich ein ähnliches Bild. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass in Lateinamerika die Zuordnung zu einer ethnischen Gruppe auf Zuschreibung beruht. Bei Kindern erfolgt sie in der Regel auf Entscheidung des Haushaltsvorstands, Jugendliche nehmen diese selbst vor. Es ist also durchaus möglich, dass ein Teil der Jugendlichen, aus welchen Gründen auch immer, sich gegen die Selbstidentifikation als indigen entscheidet.

Lateinamerika: Indigene Schüler - Foto: Quetzal-Redaktion_alEindeutig ist die Situation hinsichtlich des bevorzugten Siedlungsraums. Der Urbanisierungsgrad ist unter den jungen Indigenen deutlich niedriger als unter anderen Gleichaltrigen. Man kann grob feststellen, dass sie mindestens doppelt so häufig im ländlichen Raum zu Hause sind; außer in Argentinien, Bolivien, Chile, Peru und Venezuela leben junge Indigene in allen untersuchten Ländern mehrheitlich auf dem Lande. Allerdings ist mit zunehmendem Alter eine deutliche Tendenz zur Landflucht feststellbar. Ein niedriger Urbanisierungsgrad korrespondiert in der Regel mit schlechteren Lebensbedingungen auf dem Lande, bedingt durch höhere Armut und mangelnde Infrastruktur sowie ein geringeres Bildungsniveau der Landbevölkerung. Die Analphabetenrate ist unter den jungen Indigenen in allen untersuchten Ländern höher als unter Nichtindigenen, die einzige Ausnahme ist Nicaragua mit einem leicht niedrigeren Anteil von Analphabeten unter den Indigenen. Lediglich in Guatemala ist der Analphabetismus auch unter Nichtindigenen sehr hoch. In Ländern wie Costa Rica, Panama, Guatemala, Venezuela und Paraguay können zwischen 15 und 27 Prozent der jungen Indigenen nicht lesen und schreiben.

Frühe Schwangerschaften, also von unter 20-jährigen Mädchen, sind im Allgemeinen ein Indikator für Armut und Rückständigkeit, sind sie doch vor allem dort verbreitet, wo der Bildungsgrad niedrig ist. Einerseits sind sie die Folge ungünstiger sozialer Voraussetzungen, andererseits bedingen sie diese auch. Frühe Mutterschaft macht weitere Bildung oft unmöglich und setzt damit die Armutsspirale fort. Junge Indigene, die vornehmlich im ländlichen Raum und in ärmeren Familien leben sowie ein im Durchschnitt niedrigeres Bildungsniveau haben, erfüllen somit quasi jedes ‚Klischee‘. Und doch sollte man sich hüten, einfach europäische/ westliche Maßstäbe anzulegen.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass junge Mädchen in indigenen Gemeinschaften häufig ein geringeres Wissen über Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung haben als Geleichaltrige und unter ihnen der Anteil jugendlicher Mütter höher ist. Der enge Zusammenhang zwischen mangelnder Bildung und Teenagerschwangerschaften wird hier sehr deutlich. Sowohl bei Indigenen als auch bei Nichtindigenen ist der Anteil von jungen Müttern unter Mädchen mit Bildungsdefiziten höher, wobei sich frühe Mutterschaft unter Indigenen generell auf einem höhern Niveau bewegt.

Es gibt jedoch einen auffallenden Unterschied: In indigenen Gemeinschaften, so stellt die CEPAL-Studie fest, sind junge Frauen mit Kind(ern) häufiger bereits verheiratet. Sie sind in der Regel nicht isoliert, erfahren soziale Unterstützung und ihre Mutterschaft wird nicht als „Unfall“ oder Dummheit empfunden. Die (im westlichen Verständnis) frühen Schwangerschaften müssen also nicht zwingend zu einem Abbruch von Bildung und zu sozialem Abstieg führen.

Als Vergleich könnte hier die DDR herangezogen werden, wo das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden noch in den 1980er Jahren bei 22 Jahren lag. 18-, 19-jährige Mütter waren keine Seltenheit. Doch in der Mehrzahl der Fälle bedeutete die Mutterschaft für die jungen Frauen keine Einbuße ihrer beruflichen Entwicklung. Das soziale Umfeld war ein anderes, die Gesellschaft bot Unterstützung an, die die (relativ) frühe Schwangerschaft bei allen zusätzlichen Belastungen, die sie mit sich brachte, nicht zum unüberwindbaren Handicap werden ließ.

Das Problem in indigenen Gemeinschaften scheinen weniger die frühen Schwangerschaften zu sein, sondern eher die Tatsache, dass Mädchen und junge Frauen generell schlechtere Entwicklungsmöglichkeiten haben, da die traditionelle Rolle ihnen klare Aufgaben vor allem in Familie und Gemeinschaft zuweist. Bildung ist kein Bestandteil dieser Rolle. Und so gehen indigene Mädchen seltener und kürzer zur Schule, und der Anteil an Analphabeten ist bei ihnen höher als bei männlichen Indigenen. Indigene Mädchen und Frauen sind die Gruppe mit der niedrigsten Schulbildung und der höchsten Analphabetenrate in Lateinamerika. In den meisten der untersuchten Länder dauert der Schulbesuch junger Indigenas gerade einmal vier bis sechs Jahre. Mit mehr als acht Jahren durchschnittlicher Schulausbildung sind Bolivien, Argentinien, Chile und Peru die Ausnahmen.

Schlechtere Schulbildung bedeutet aber schlechtere Jobs und dementsprechend niedrigen Verdienst. Die CEPAL-Studie ermittelte, dass in den 14 untersuchten Ländern junge Angehörige der indigenen Bevölkerung seltener in den Arbeitsmarkt integriert sind als Gleichaltrige aus anderen Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig kann aber festgestellt werden, dass sie früher arbeiten als andere. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Die Mehrzahl der jungen Indigenen lebt im ländlichen Raum, wo sie vornehmlich in die traditionellen bäuerlichen Strukturen eingebunden sind. Damit verbundene Tätigkeiten werden bei Bevölkerungsbefragungen im Allgemeinen nicht erfasst, ihre Arbeit in der Familie und in der traditionellen Landwirtschaft als formale Berufstätigkeit kaum anerkannt. Mit Blick auf die kürzere Schullaufbahn der meisten Indigenen überrascht der frühere Eintritt ins Erwerbsleben nicht.

Knapp fünf Prozent der Jugendlichen in den untersuchten Ländern leben mit Behinderungen, unter Indigenen ist diese Zahl leicht höher. Auch hier vermitteln die Länder ein heterogenes Bild. Grundlegend lässt sich feststellen, dass männliche Jugendliche stärker betroffen sind als weibliche. Allerdings kann anhand der Daten nicht festgestellt werden, um welche Behinderungen es sich handelt und welche Ursachen diese haben. Für Lateinamerika kann festgehalten werden, dass Behinderungen im ländlichen Raum häufiger auftreten als in Städten. Es liegt also nahe, Armut, ungünstige Lebensbedingungen und schlechte medizinische Versorgung als Ursachen mit in Betracht zu ziehen.

Im Zusammenhang mit der geistigen Gesundheit der jungen Indigenen weisen die Autoren darauf hin, dass Depressionen, Alkoholismus, Gewalt und Selbsttötungen in indigenen Gemeinschaften ein großes Problem darstellen. Untersuchungen in Chile deckten auf, dass die Mortalität unter jungen Indigenen die ihrer nichtindigenen Gleichaltrigen um 150 Prozent übersteigt. Dabei spielen Aggressionen und Gewalt eine große Rolle. 70 Prozent der Todesfälle männlicher Jugendlicher sind auf gewaltätige Einwirkungen zurückzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, ist für junge Indígenas deutlich höher als für andere. Dabei gehen die Autoren davon aus, dass Gewalt ebenso wie Autoaggressionen nicht zuletzt auf den sozialen Stress zurückzuführen sind, dem die Jugendlichen infolge von Marginalisierung, Diskriminierung und radikalen Veränderungen ihrer Lebensbedingungenen ausgesetzt sind.

Die wohl dramatischste Reaktion auf soziale Belastung ist der Suizid. In Ländern wie Australien, Kanada und den USA ist die Suizidrate unter Indigenen bis zu fünfmal höher als in anderen Teilen der Bevölkerung. Für Lateinamerika liegen kaum vergleichbare Untersuchungen vor, doch auch hier muss festgestellt werden, dass der Freitod als Todesursache bei Kindern und Jugendlichen höher ist als in anderen ethnischen Gruppen. Insbesondere in Argentinien, Chile, Kolumbien, Nicaragua, Paraguay und Venezuela ist seit Jahren ein Anstieg der Zahl der Suizide festzustellen. Dabei zeigen sich Differenzen nicht nur zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch zwischen den verschiedenen indigenen Völkern. In den Jahren 2004 bis 2006 wurden verschiedene Gesundheitsdienste in Chile anlaysiert, die indigene Völker versorgen – so in den Regionen Bío Bío, Arauco, Valdivia, Magellanes, Iquique und Arica. Dabei zeigte sich, dass die Suizidrate in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen unter den Aimara der Region Arica und den Pewenche um Bío Bío nicht nur deutlich höher ist als in anderen ethnischen Gruppen, sondern auch höher als unter Gleichaltrigen anderer indigener Völker. Bei den Suizidanten handelt es sich zumeist um junge Männer, die in urbane Regionen abgewandert sind und dort gezwungen waren, sich schnell an die neuen Bedingungen anzupassen – ohne soziale Kontrolle und Unterstützung.

Hier zeigt sich deutlich die überragende Rolle, die Familie und Gemeinschaft als Orientierungssysteme und sozialer Rückhalt haben können. Es verwundert daher nicht, dass die Autoren der CEPAL-Studie empfehlen, ein Hauptaugenmerk auch auf die familiären und gemeinschaftlichen Strukturen der indigenen Völker als wesentlichen Faktor für die körperliche und geistige Gesundheit junger Indigener zu legen.

(*) Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Venezuela.

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Literatur:

CEPAL/ Organización Panamericana de Salud: Salud de la población jovén indígena en América Latina. Un panorama general. Santiago de Chile 2011.

Heising, Klas/ Reinhardt, Sylvia: Indigene Völker und Gesundheit. In: Deutsche Gesellschaft für Entwicklungszusammenarbeit (Hrsg.): Indigene Völker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn 2004. S.134-145.

Mayer, Sabine: Lateinamerikas gespaltene Gesellschaften. Sozialer Wandel durch linke Regierungen? Eine Zwischenbilanz. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010.

Wilkinson, R./ Pickett, K.: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins. Berlin 2010.

Bildquellen: [1], [2] Quetzal-Redaktion, al

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