WER HAT EUROPA ENTDECKT?
Die Spanier waren nicht die ersten im heutigen Amerika: vor ihnen kamen die Wikinger und vor ihnen Völker, die Amerika vermutlich über die Beringstraße erreichten. Deshalb ist es problematisch, von der »Entdeckung« durch die Spanier zu sprechen, denn was entdeckt wurde, war im Prinzip schon entdeckt. Dennoch spricht man üblicherweise von der Entdeckung Amerikas, denn die Mitteilung darüber, daß etwas entdeckt wurde, von dessen Existenz andere nicht wissen, bedeutet für diese Gesellschaft eine Entdeckung. Auf diese Weise wurde Christoph Kolumbus die Entdeckung Amerikas zugeschrieben, obwohl er verkündete, einen neuen Seeweg nach Ostindien gefunden zu haben, eigentlich der Weg zu einem Kontinent, den die Europäer in dieser Zeit nicht kannten. Aus dieser Perspektive frage ich mich: Wer war der erste Bewohner Amerikas, der Europa entdeckte?
ES IST MEHR ALS NUR FOLKLORE.
Heute gibt es in Amerika Organisationen der Indianer, die sich der Verbesserung der politischen, ökonomischen, sozialen und Ökologischen Situation der indianischen Gemeinden widmen. Solche Organisationen sind z.B. der „Rat zur Wiederherstellung der Rechte der Indianischen Völker“ (COREP), die „Kommission für die Geschichte der Kirche in Lateinamerika“, der „Regionale Koordinierungsrat der Indianischen Völker“ (CORPI), um einige zu nennen. Ähnliche Ziele vertreten der „Indianerrat Südamerikas“ und der „Weltrat der Indianischen Völker“ mit Sitz in Argentinien. Diese und andere Organisationen, die teils von Indianern, teils von der nichtindianischen Bevölkerung gebildet werden, teilen den Anlaß der 500 Jahresfeier der Entdeckung Amerikas nicht. Gerade eine der beiden Welten, die indianische, – die Welt mit einer anderen Version der Geschichte -hat auch einen anderen Anlaß. Für sie besitzt der 12. Oktober 1492 eine ganz andere Bedeutung.
In Mexiko z.B. gab es am 12. Oktober zwei Feierlichkeiten. Eine wurde von den offiziellen Institutionen durchgeführt und erinnerte an das Ereignis. Im Rahmen der offiziellen Gerechtigkeit gestanden die politischen Institutionen den Indianern einige Konzessionen zu. Die Gegenfeier wurde hauptsächlich von Indianerorganisationen und Gruppierungen mit verwandten Zielen getragen. Leider war die Teilnahme von Indianern an diesen Veranstaltungen sehr gering, da sie keine Zeit zum Feiern hatten. Für sie ist ein Tag, wo nicht gearbeitet wird, ein Tag, an dem nichts gegessen werden kann. Außerdem ist zu vermuten, daß die Indianer nach 500 Jahren Eroberung und Ausbeutung kein Vertrauen in Organisationen haben, die nicht zur indianischen Welt gehören. Anders gesagt, die Indianer sind Fremde in ihrer Heimat.
Sie gedenken weder Kolumbus‘ noch dessen, was er symbolisiert. In Mexiko ist der 12. Oktober als „Dia de Raza“ (Tag der indianischen Rasse) bekannt, und man ehrt Cuauhtémoc, der die Würde des Indianers in Mexiko und die Verteidigung gegen die Eroberer verkörpert. Die Spanier verbrannten ihm die Füße, um zu erfahren, wo sich die Reichtümer der Azteken befanden, und da er schwieg, folterten sie ihn zu Tode.
Die Entdeckung Amerikas steht für die Indianer noch heute für den Kampf der Guarani und Mapuches, Caribes und Cakchiqueles. Dieses Datum erinnert an Tupac Amani in Peru, an Lautaro in Chile, an Canek in Yucatan.
Der Tag, den die Europäer als die Entdeckung einer neuen Welt feiern, bedeutet für die Indianer Invasion und Zerstörung ihrer Kultur. Er macht sie zu Fremden im eigenen Land. Die Indianer waren nicht die einzigen, die die Folgen der Eroberung, der Kolonisation und Neokolonisation trugen; auch Millionen von Afrikanern wurden aus ihren Heimatländern gerissen und nach Amerika geschleppt. Die Entdeckung Amerikas ist der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit, der die indianische Bevölkerung innerhalb weniger Jahre auf 10% ihrer Gesamtzahl reduzierte.
DIE NEUEN GÖTZEN
Die Begegnung mit den Europäern brachte den Indianern natürlich Neues. Die indianischen Gemeinden lebten in technologischer Rückständigkeit gegenüber den Spaniern; so kannten sie z.B. keine Metallwerkzeuge. Fernando Benitez beschreibt die Begegnung der Indianer mit diesen neuen Gegenständen: „Die Indianer lebten in der Jungsteinzeit, und sie lernen den Stahl und die Waffen bei ihrem Tod kennen,“ Mit der Eroberung lernten sie aber auch eine andere Religion kennen, die offensichtlich nicht so brutal war und keine Menschenopfer forderte wie die eigene. Aber die Europäer bedienten sich ihres christlichen Gottes, um ihre stolze und eingebildete Überlegenheit in der Welt zu etablieren, und dieser Gott wurde Symbol der Macht und der Unterdrückung.
Indianer, Schwarze, Mestizen, Afroamerikaner wurden als Heiden, Ungläubige, Abergläubische, als Fehlgeleitete verurteilt. Auf diese Weise kam Gott mit den Europäern, und durch die Konvertierung zum Christentum konnten diese nichteuropäischen Rassen den Status von Menschen erlangen. Von Menschen zweiter Klasse allerdings, denn es war ihre Sünde, eine andere Hautfarbe und eine andere Kultur zu besitzen. Das konnte selbst dieser Gott nicht verändern.
Mit dem 12. Oktober 1492 begann der Prozeß funfhundertjähriger Eroberung und Unterdrückung, begannen Kolonialismus und Neokolonialismus. Ein Prozeß, der sich in der Gegenwart in Form eines Überlebenskampfes von Millionen Indianern in extremer Armut äußert. Auf diese Weise haben sich eine Theologie des Todes und ein Geist der Unterdrückung herausgebildet. Bis zum heutigen Tag vermehrt das herrschende System die Götzen, um guten Gewissens und ohne Beschränkung die Unterdrückung fortsetzen zu können.
Die Götzen von heute heißen Geld, Macht, Markt, Konsum, Rassismus und Sexismus. Es sind Götzen, die in subtiler, aber wirksamer Weise das Leben und die Kultur der Indianer ersticken. Indianer und ihre Kultur werden betrachtet, so wie man die Folklore exotischer Länder erlebt. Sie sind Sehenswürdigkeiten, die man besichtigt oder kennenlernen möchte, um zu sehen, wie sie leben und ihre Rituale vollziehen; und vielleicht, mit ein bißchen Glück, kann man etwas von ihrer Handwerkskunst mitbekommen. Diese Gegenstände -je älter desto besserwerden nicht mehr als Teil des kulturellen Erbes der Menschheit angesehen, sondern als „Kunstgegenstände“, die man in internationalen Galerien ausstellt oder Teile besonderer Sammlungen sind. Der Wert, der diesen Dingen beigemessen wird, richtet sich nach der Geldsumme, die man dafür zu zahlen bereit ist.
VERRÜCKT NACH QUETZALFEDERN
Die Indianer selbst werden als etwas „Komisches“ angesehen auf Grund der Dinge, die sie tun: 1987 tanzte der Mexikaner Xoconoxtelt Gomora, Führer einer Gruppe von Indianern, bei kaltem Wetter barfuß in den Straßen von Wien, um damit seiner Forderung Ausdruck zu verleihen, daß der Kopfschmuck des Moctezuma (ein Schmuck aus Quetzalfedern) an Mexiko zurückgegeben wird. Und was soll man schließlich zu jenen Indianern sagen, die Gomora begleiteten und in jenes Museum gingen, in dem sich besagter Kopfschmuck befindet, um ihm dort Ehre zu erweisen.
Es wurde der 500. Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“ oder die „Begegnung zweier Welten“ mit großen Festlichkeiten begangen. Im selben Jahr und zum selben Anlaß wurde des größten Völkermords in der Geschichte der Menschheit gedacht. In den nächsten Jahren werden viele Menschen weiter um ihre Rechte und Identität kämpfen müssen.
Übersetzung: Gabi Pisarz