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Politik und Kultur in Lateinamerika

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1992 – zwischen Feier und Widerstand

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Ist Europa fähig zur Selbstkritik?

1492 – vor nunmehr 5oo Jahren wurde Europa, um genau zu sein, die atlantischen Anliegerstaaten, zum Zentrum der Welt – durch die Eroberung der Welt. Sie begann mit der Vertreibung der Mauren und Juden aus ihrer spanischen Heimat und der Eroberung des amerikanischen Kontinents. Ein halbes Jahrtausend Weltherrschaft, davon 450 Jahre im exklusiven Klub der Kolonialmächte, prägen. So wundert es nicht, daß die Großtat des Kolumbus nach mehr als zehnjähriger Vorbereitung mit großem Pomp gefeiert wird. 500 Jahre – eine runde Zahl – wer denkt da schon nicht ans Feiern. Für den spanischen König, den Papst, die Regierung in Washington und auch die meisten lateinamerikanischen Präsidenten eine klare Sache. Zwar gab es anfänglich einen kleinen Streit über das Motto der Festlichkeit: aufgrund einer Intervention der mexikanischen Regierung wurde aus der „Entdeckung Amerikas“ die harmonisch klingende „Begegnung zweier Welten“. Über das wesentliche aber ist man sich einig: es war und bleibt „eines der großen Ereignisse in der Geschichte der Menschheit“ (Juan Carlos). Angesichts der 40-70 Millionen Opfer, mit denen die indianische Urbevölkerung für die „Begegnung“ mit den Europäern zahlen mußte, kommen natürlich die Veranstalter und Befürworter der offiziellen Feierlichkeiten nicht umhin anzuerkennen, daß dieses weltgeschichtliche Datum „wie alles in der Geschichte ambivalent erscheint, gemischt aus Leistung, Versagen und Schuld“ (FAZ v. 13.10.92), „doch von Völkermord bei der Eroberung zu reden ist natürlich unsinnig“ (FAZ v. 10.10.92). Schuld seien v.a. die eingeschleppten Krankheiten und die geringe Resistenz der Eingeborenen. Und Europa hat diesen ja schließlich erst einmal gezeigt, was Zivilisation ist. Diese Zivilisation aber erlebten die damit „Beglückten“ als Tod, Entwürdigung, Ausplünderung, Unterdrückung Entwurzelung, Vergewaltigung. Für sie war es – verglichen mit ihren Dasein vor der „Entdeckung“ – die blanke Barbarei. Und nicht zu vergessen: Europa eignete sich die Arbeitskraft, die Reichtümer, die Rohstoffe und den Boden der Unterworfenen an und schuf sich damit eine wesentliche, bis heute sprudelnde Quelle seines Wohlstandes. Wäre dieses geschichtsträchtige Jubiläum nicht Anlaß genug gewesen, endlich die Verantwortung für Vernichtung und Zerstörung einer anderen Zivilisation, für die Leiden und Schmerzen der Unterworfenen, die mit Blut , Schweiß und Elend bis heute für unseren Wohlstand zahlen, zu übernehmen? Aber Verantwortung dafür zu übernehen, hätte auch die Anerkennung eigener Schuld und damit die Pflicht zur Wiedergutmachung eingeschlossen. Und genau davor wollen sich die Mächtigen in Politik und Wirtschaft drücken.

Letztlich müßten sie sogar die gesamte heutige Weltwirtschaftsordnung, die auf der Teilung in Arm und Reich beruht, in Frage stellen, und das war wirklich zu viel verlangt. Deshalb werden Europäer, die dies einfordern, als unbelehrbare Linke und weltfremde Intellektuelle diffamiert, die nur ihren Frust loswerden wollen. Man solle doch lieber die Betroffenen selbst, zu Wort kommen lassen. Aber deren Stimme dringt nicht über den Atlantik ins ferne Europa. Wie sollte sie auch. Nachrichten aus Übersee verlieren sich im europäischen Mediendschungel, und wenn es doch mal eine schafft, dann ist bestimmt von Katastrophe, Putsch, Kriminalität, Krieg oder Folklore die Rede. Die erstmalige Verleihung des Friedensnobelpreises an eine Indianerin bildet da sicher die Ausnahme, zur Regel reicht das nicht. Obwohl die europäische Bewegung gegen die offiziellen Feierlichkeiten nur stellvertretend für die Betroffenen sprechen kann, ist dies unter den geschilderten Umständen die einzige Möglichkeit, Schuld und Verantwortung des reichen Europas zu benennen und einzuklagen, zumal die Mediengewaltigen ständig dafür sorgen, daß die Schuldgefühle gegenüber den Opfer von 500 Jahren europäischer Expansion sich nicht zu oft regen.

Abschied von der Geschichte der Sieger

Es ist an der Zeit, auf die Stimme der lateinamerikanischen Völker zu hören und sie ihre Geschichte selbst erzählen zu lassen. Was in der Sprache der europäischen Sieger die Entdeckung eines neuen, von „Wilden“ bewohnten Kontinents war, erlebten die „Entdeckten“ als Untergang und Zerstörung ihrer Zivilisation, als Völkermord, den sie zu recht als den größten der Weltgeschichte brandmarken, als Verschleppung in die Sklaverei, als Invasion und Eroberung. Aber es geht nicht nur um materielle und menschliche Verluste, die die amerikanische Urbevölkerung und ihre Nachfahren erlitten haben. Fast noch schwerer wiegt der Raub der eigenen Geschichte, die von den Siegern umgeschrieben wurde. Aus einer vielgegliederten und zum Teil schon sozial und arbeitsteilig differenzierten Gemeinschaft von Staaten, Völkern und Stämmen wurde die graue Masse von unterwürfigen, feigen und faulen „Indios“. Allein in diesem Begriff zeigt sich deutlich das Gemisch aus Arroganz und Unwissen der Eroberer, die etliche Jahre brauchten, ehe sie begriffen hatten, daß sie nicht Indien, sondern einen bisher gänzlich unbekannten Kontinent betreten hatten. Für die aus einer ethnischen, rassischen und kulturellen Vielfalt geborenen Völkern Lateinarnerikas ist die Rückgewinnung ihrer eigenen Geschichte der Schlüssel für eine selbstbestimmte Zukunft. Das wiedererwachte Selbstbewußtsein, das sie in der Auseindersetzung um die Interpretation der 500 Jahre nach Kolumbus unter Beweis gestellt haben, ist ein wichtiger Schritt zu diesem Ziel. Die Rück- und Neubesinnung auf die eigenen Werte und Traditionen, auf eine Lebensweise , die im Einklang mit der Natur steht und auf dem solidarischen Umgang miteinander fußt, die nicht ungezügeltes Wachstum zu ihrer existentiellen Grundlage macht, kann auch für uns Europäer ein Anstoß sein, unsere bisherige Lebensweise in Frage zu stellen.

Die kritische Stimme des Widerstands

Ebensowenig wie die Eroberung des amerikanischen Kontinents ein einmaliger Akt war – noch heute werden in den Regenwäldern des Amazonas „wilde Indianerstämme“ zwangsweise „zivilisiert“ und der so oft erlittene Zyklus von Entdeckung- Zwangsarbeit -Krankheit – kulturellem und physischem Tod immer wieder in Gang gesetzt – beschränkt sich der Widerstand dagegen auf das Jahr 1992. Die Geschichte des Widerstands ist lang; sie begann, als Kolumbus Amerika betrat, und sie wird erst dann beendet sein, wenn Hautfarbe, Herkunft und Einkommen nicht mehr darüber entscheiden, welche Lebenschancen ein rotes, braunes, schwarzes oder weißes Kind hat. Ein Traum? Sicher. Aber dort, wo Gewalt und Hunger ein tagtäglich erlebter Alptraum sind, bleibt nur dieser Traum, oder besser: der Kampf um die Erfüllung dieses Traums, Dafür demonstrierten um den 12. Oktober im „paro continental“, den kontinentalen Protest- und Widerstandtagen, Lateinamerikaner aller Hautfarben:

– 40.000 in der alten Inka-Hauptstadt Cuzco (Peru)
– 20.000 auf dem Zocalo, dem traditionellen Versammlungsplatz der Azteken, in Mexiko
– zehntausende mit einem Marsch auf die ecuadorianische Hauptstadt Quito
– die indianischen Völker Guatemalas mit einem Monat des Widerstandes
– 80.000 Bauern und zahlreiche Städter in Kolumbien.

Selbst in den USA gab es an vielen Orten Aktionen, die der Unterdrückung und des Widerstandes der indianischen Ureinwohner gedachten und in denen sich zahlreiche Angehörige anderer Minderheiten mit den ersten Amerikanern solidarisierten. So fand vom 2.-4.Oktober in San Francisco ein „Internationales Tribunal der ursprünglichen Völker und unterdrückten Nationen“ statt, das vom American Indian Movement initiiert worden war und von Vertreterinnen puertorikanischer, mexikanischer, schwarzer und fortschrittlicher weißer Bewegungen und Gruppen unterstützt wurde. Davon war bei uns, im „fernen “ Europa kaum etwas zu hören oder zu sehen. Elend und Tod aus Jugoslawien oder Somalia bestimmen z.Z. unser aktuelles Weltbild. Schuldige und Opfer lassen sich dort -nach Meinung der Meinungsfuhrer -fein säuberlich unterscheiden und sind durch Grenzen, die allerdings noch sicherer gemacht werden müssen, von uns getrennt. Eigene Schuld ist im reichen Europa nicht gefragt und wenn ein paar Indios in den Anden oder irgendwo im Urwald an unsere Verantwortung erinnern, zeigt sich das schlechte Gewissen höchstens auf Seite 5 in einer Meldung von einigen mickrigen Zeilen. Oder es wird übertönt durch päpstliche Gebete am neu erbauten „Faro de Colón“, dem Leuchtturm des Kolumbus, in Santo Domingo, und durch die offiziellen Reden über Fortschritt, Demokratie und die „Begegnung zweier Welten“. Nach dem 12. Oktober ist nun auch das wieder vorbei. Die nächsten 500 Jahre werden von den neuen Eroberern des Neoliberalismus ins Visier genommen. Aber 1992 ist nicht 1492. Das läßt hoffen…

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Geschichte wird umgeschrieben – nicht nur in Deutschland

Wie wir aus für gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen erfuhren, gelangte man in Mexiko zu einer neuen Sicht auf die Nationalgeschichte. Zumindest gibt es jetzt neue Lehrbücher für den Geschichtsunterricht in der Schule, in denen mexikanischen Schülern auch eine andere Interpretation der Eroberung des Landes durch die Spanier nahegebracht werden soll. So lautete die ursprüngliche Version: Die Jahre, die der Conquista folgten, waren schrecklich. Krankheiten töteten immens viele Indios. Die Überlebenden wurden gezwungen, für die Spanier in den Goldminen und beim Bau von Häusern und Kirchen zu arbeiten. Die rebellierenden Indios wurden versklavt, die Familien getötet. Der Hunger herrschte und die Epidemien nahmen zu.“ Heute dagegen müssen die Schüler folgendes lernen: Die spanische Conquista unterbrach die Entwicklung der Kulturen des alten Mexiko gewalttätig. Die Kriege und Epidemien verursachten ein großes Sterben. … Nach einem Jahrhundert blieb nur noch eine Million von ursprünglich 20 Millionen Indios übrig, „Was doch so ein Jubiläum alles bewirken kann. Zur Tausend-Jahrfeier erfahren die Schüler dann die ganze Wahrheit. (ides)

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