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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Aussterbende Sprachen in Lateinamerika

Stefanie Hülsmann | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Bolivien: Indigene - Foto: Quetzal-Redaktion, wdWeltweit gibt es ca. 6.000 – 6.500 Sprachen in 400 Sprachfamilien. Viele sind vom Aussterben bedroht. Im Jahr 2100 wird sich die Anzahl der Sprachen um die Hälfte reduziert haben, d.h. aktuell verschwindet alle zehn Tage eine Sprache. Lateinamerika ist durch ethnische Heterogenität geprägt. Allein hier werden über 660 Sprachen gesprochen, wobei eine genaue Erfassung nicht möglich ist.

Die nativen Sprachen werden gewöhnlich nur im Kreis der Familie genutzt. Wenn eine Sprache lediglich im Privaten oder bei rituellen Zeremonien gesprochen wird, gilt sie als sterbend. Eine Sprache ohne Menschen die sie verbalisieren, verliert ihre Funktionsfähigkeit und kann im schlimmsten Fall in Vergessenheit geraten. Naturkatastrophen, (eingeschleppte) Krankheiten oder Emigration führen zu Bevölkerungsverlust sowie zum Niedergang der Kultur. Existiert keine Dokumentation, auch linguistischer Art, bleibt die Rekonstruktion unmöglich.

In Lateinamerika wurde das Sprachensterben seit der Ankunft von Christoph Kolumbus 1492 und der darauffolgenden kolonialen Expansion massiv beschleunigt. Die Taino waren eine der ersten Gruppen, die mit den Spaniern in Kontakt traten. Im 16. Jahrhundert war die gesamte Kultur bereits erloschen. Bei den Eroberungsfeldzügen starben durch Zwangsarbeit und von den Europäern eingeführte, bis dato in Amerika unbekannte Krankheiten, schon innerhalb einer Periode von zehn Jahren ganze Stämme aus. Selbst wenn indigene Gruppen nie mit einen Weißen in Kontakt kamen, infizierten sie sich mit den unbekannten Krankheiten, und dies führte zum Massensterben. Kolonialisierung impliziert die Umgestaltung der Kommunikation und deren Bedingungen. Die kulturelle Assimilierung und linguistische Homogenisierung nativer Gruppen sollte erzwungen werden, später auch unter der Zielsetzung des Nationalstaatenkonzepts und der Erschaffung einheitlicher Staaten.

Das bildungspolitische ‚Erziehungskonzept‘ verfolgte hierbei eine aggressive Sprachpolitik. Wenn Kinder die eigene Sprache in der Schule verwendeten, wurde dies meist mit körperlicher Züchtigung oder öffentlicher Demütigung geahndet. Eltern mussten empfindliche Geldstrafen zahlen, wenn das Kind dabei ‚erwischt‘ wurde. So achteten die Einheimischen bereits im Privaten darauf (worauf die neue Herrschaft zunächst wenig Einfluss hatte), dass die Kinder die vorgeschriebene Sprache lernten.

Diese negativen Erfahrungen verwurzelten sich tief in das Bewusstsein der Menschen und bestanden selbst nach der Unabhängigkeit bis ins 20. Jahrhundert fort. Die systemische und systematische Abwertung einer einheimischen Sprache und die negativen Konsequenzen bei deren Verwendung in der Öffentlichkeit können schließlich zum Aussterben der Sprache führen.

Die nativen Sprachen sollten durch die Einführung der neuen (kolonialen) Sprache vom gesellschaftlichen Diskurs ausgegrenzt werden. Die Abwertung der bisherigen Artikulationsform geht einher mit der Aufwertung der neuen; diese wird die alleinige Möglichkeit für die Kommunikation im öffentlichen Raum. Die neue Sprache impliziert nun Fortschritt, ökonomischen Aufstieg und Sozialprestige.

Kinder sind unter diesem Aspekt der Spiegel einer Gemeinschaft. Sie kopieren das Verhalten der Erwachsenen. Die schlechte Stellung der elterlichen Sprache macht sie besonders empfänglich, sich davon abzugrenzen. Oft entscheiden aber schon die Eltern den Wechsel, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Heute gelten die gängigen Verkehrssprachen als attraktivere Alternative zur meist schwer erlernbaren indigenen Sprache, die oft nicht mal mehr die Eltern beherrschen. Nach der Unabhängigkeit war die ausschließliche Beherrschung nativer Sprachen hinderlich für die politische Partizipation. Indigene wurden von der politischen Willensbildung ausgeschlossen, da Alphabetisierung (und die Beherrschung der kolonialen Sprache) für die Wahlberechtigung als Voraussetzung galt.

Dem bewussten Sprachenwechsel steht der unbewusste gegenüber, der als schleichender Prozess abläuft und vom Menschen kaum wahrgenommen wird. Die neue Sprache wird Stück für Stück in tiefere Domänen des Alltags integriert und substituiert die bisherige. Der Wortschatz gerät in Vergessenheit und ist meist nur noch als verkümmerter Rest zu erkennen. Gefördert wird dieser Prozess durch Urbanisierung, die Verbesserung der Infrastruktur und neuen Kommunikationstechnologien; aber auch durch Heiratsbeziehungen nach deren Regeln nur außerhalb des eigenen Verbandes geheiratet werden darf.

Lateinamerika - Übersicht über die in Lateinamerika vorhandene Verteilung der Sprachen - Graphik: Quetzal-Redaktion,shDie Kinder der meist aus verschiedenen Regionen stammenden Eltern werden bilingual erzogen. Gegenseitige Entlehnungen von Vokabular und Redewendungen lassen wiederum neue Elemente in der Sprache entstehen. Manchmal geht Verweigerung oder Verwerfung von Sprache einher mit Überlebensstrategien, die aus ethnischen Konflikten oder politischer Instabilität resultieren. In El Salvador machten beispielsweise die Todesschwadronen der Regierung in den 1930er Jahren Jagd auf Indigene, die sich offen zu ihrer Kultur bekannten. Selbst nachdem die Gewalt wieder friedlichen Zeiten gewichen war, saß die Furcht tief im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung, was die Rückkehr zu den indigenen Wurzeln erschwerte.

Warum sind Sprachen nun schützenswert? Der Tod von Sprachen ist immer verbunden mit dem Verlust von menschlichen Ideen und Wissen über Ökologie, Ökonomie sowie den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Dieses Wissen ist das Produkt langwierig erworbener Erfahrung. Geht eine Sprache verloren, sterben mit ihr wertvolle Erkenntnisse über Pflanzen, Tiere oder Heilpraktiken. Dieses Wissen ist in Liedern, Mythen, Kindermärchen oder Sprüchen codiert und fußt auf jahrhundertelanger Beobachtung der Umwelt. Menschlicher Erfindungsgeist, Kreativität sowie Kognition wird durch Sprache möglich und gleichzeitig limitiert. Weltweit arbeiten Linguisten an der Dokumentation und Erhalt der kleinen Sprachen für die Nachwelt, aber selbst bei Übersetzungen kann viel verloren gehen. Stirbt eine Sprache, stirbt meist auch die Geschichte der jeweiligen Menschen, die mit ihr verbunden sind.

Ich möchte zuletzt Regionen Lateinamerikas vorstellen, in denen der Umgang mit nativen Sprachen unterschiedlicher nicht sein kann: Brasilien, den Andenraum (Bolivien, Peru) und Paraguay.

In Brasilien leben auf einer Fläche von ca. 8,5 Mio. km² ca. 192 Mio. Menschen, davon rund 735.000 Indigene. Es werden insgesamt ca. 190 Sprachen gesprochen, die sich meistens auf wenige Sprecher verteilen. Historisch regierte das Kolonialland – auch was die offizielle Sprache anbelangt – mit strengen Vorschriften, wie dem Verbot von allen einheimischen Sprachen und der Erhebung des Portugiesischen als alleiniger Verkehrssprache. Die Ureinwohner sind durch ihre zahlenmäßige Unterlegenheit einem hohen Assimilationsdruck ausgesetzt. Die Zerstörung ihrer Heimat, der Raubbau in ihren Gebieten und die Gewalt, die damit von außen kommt, schwächen ihre Gemeinschaften zusätzlich. Der brasilianischen Justiz wurde des Öfteren Gleichgültigkeit vorgeworfen, da sie gewaltsame Übergriffe auf Indigene wenig verfolgte.

Bolivien: Landwirtschaft, Bauer - Foto: Quetzal-Redaktion, wdEinen Gegensatz zu Brasilien bildet der Andenraum. Die Mehrzahl der Menschen, die hier leben, sind Indigene. Aymará mit ca. 2Mio. Sprecher/innen und Quechua mit ca. 10 Mio. Sprechern sind die größten indigenen Sprachen im Gebiet der Sierra. Die Relation der beiden zueinander lässt vermuten, dass hier weniger eine europäische Sprache zur Verdrängung führen kann, sondern die Größere die Kleineren bedroht. Seit den 1970er Jahren ist Quechua neben Spanisch offizielle Amtssprache in Peru und mit seinen zahlreichen Dialekten in die Verfassung aufgenommen. Das Aymará und andere Sprachen von andinen Kulturen müssen sich also nicht nur gegen das Spanisch behaupten, sondern auch gegen das stärker anerkannte Quechua.

Als drittes Beispiel möchte ich Paraguay nennen. Die größte hier vertretene indigene Sprache ist das Guaraní. Es wird mehrheitlich von Mestizen oder Menschen mit europäischer Abstammung gesprochen, der indigene Anteil ist verschwindend gering. Ca. 3 Mio. der 6,3 Mio. Einwohner sprechen das guaraní paraguayo. Seit den 1990er Jahren ist es neben dem Spanischen eine offizielle Amtssprache und wurde vollständig in Alltag, Kultur und Politik des Landes integriert.

Quellen:
Wohlgemuth, Jan; Dirksmeyer, Tyko 2005 Bedrohte Vielfalt. Aspekte des Sprachentods. Berlin: Weißensee-Verlag.

Harrison, K. David 2007 When Languages Die. The Extinction of the World`s Languages and the Erosion of Human Knowledge. Oxford: Universitiy Press.

Cichon, Peter (Hrg.) 1996 Das sprachliche Erbe des Kolonialismus in Afrika und Lateinamerika. Bestandsaufnahmen und Perspektiven aus romanistischer Sicht. Wien: Verlag Edition Praesens.

http://www.uni-leipzig.de/~muellerg/su/haspelmath.pdf (11.09.2012)
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/Brasilien_node.html (12.09.12)
http://www.lai.fu-berlin.de/e-learning/projekte/indigen_sprachen/sprachfamilien/index.html (12.09.12)
http://www.unesco.org/culture/languages-atlas/ (12.09.12)

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Bildquelle: [1], [3] Quetzal-Redaktion, wd, [2] Quetzal-Redaktion,sh

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