Bitte keine alten Steine mehr! Und schon gar keine Pyramiden!“ Nach Teotihuacán, Cholula, Mitla, Palenque, Xlapak, Chichén Itzá und und und … war wohl ein gewisser Sättigungsgrad erreicht. In Mérida hatte ich schon den Besuch des Archäologischen Museums verweigert, und jetzt sollte das weitergehen! Nicki, unser in Mexiko lebender deutscher Freund, der das Land vermutlich besser kannte als so mancher Mexikaner, war unerbittlich. Als hätte Tenayuca nicht gereicht, jetzt also auch noch dieses Cuicuilco. Vielleicht ist wegen dieser leichten Aversion gegen eine weitere Besichtigungstour meine Erinnerung so gespalten: Ich habe Cuicuilco nicht vergessen, kann mich aber trotzdem kaum an den Besuch dort erinnern. Ein grüner Hügel, eine runde Pyramide – die älteste bekannte in Mexiko. Ein paar Artefakte, Skelette, Erläuterungen zur Besiedlung der Region. Ich weiß nicht einmal genau, ob das in einem kleinen Museum zu sehen war oder nur auf Schautafeln. Ich erinnere mich an einen seltsamen Altar. Und es ist durchaus möglich, dass die merkwürdigen, weiß gekleideten Gestalten damals gar nicht dort waren und meine Erinnerung sich mit anderen Bildern vermischt. Als ich jetzt für diesen Beitrag zu recherchieren begann, brachte die Suche schon einige Überraschungen zutage: So sah das also aus! Ich hatte genaugenommen nur noch einen grünen Hügel im Kopf; ganz so reduziert erscheint die Anlage dann doch nicht.
Cuicuilco ist wohl tatsächlich keine normale Pyramide. Außer uns gab es damals relativ wenige Besucher. In einschlägigen Reiseführern, ich habe das noch einmal überprüft, wird diese archäologische Stätte bestenfalls erwähnt. Meist nicht einmal das. Es gibt keine Bilder, keine Hinweise, dass man diese Pyramide gesehen haben muss. Verglichen mit der Sonnenpyramide in Teotihuacán oder den Resten des Templo Mayor, die sich ja ebenfalls in oder bei der mexikanischen Hauptstadt befinden, ist die Pyramide von Cuicuilco wahrlich unspektakulär. Ein nicht allzu großer Hügel, gesäumt von mehreren Rampen. Teile der Anlage wurden rekonstruiert. Das hat sie vermutlich verschlimmbessert, denn es handelte sich sichtlich mehr um eine Interpretation als Rekonstruktion. Etwas Besonderes ist das allerdings auch nicht, man sehe sich nur den Tempel des Quetzalcóatl in Teotihuacán an. Cuicuilco genießt heute den zweifelhaften Ruf, die am stärksten rekonstruierte archäologische Stätte in Mexiko zu sein (Schávelzon). Da man nicht viel wusste über Aussehen und genaue Bedeutung der Pyramide und sich die Forscher zudem höchst uneinig waren (und sind), musste die Fantasie herhalten. Der Altar zum Beispiel, laut Schávelzon „irrig“ rekonstruiert, sieht auch für Laien äußerst merkwürdig aus.
Doch das Schattendasein dieser archäologischen Stätte ist durchaus unverdient. Cuicuilco hat einiges – durchaus Spektakuläres – zu bieten, auch wenn man das dem Hügel nicht ansieht. Die Entdeckung der Anlage brachte erste Erkenntnisse darüber, dass es im Hochtal von Zentralmexiko bereits vor Teotihuacán eine entwickelte Kultur gegeben haben muss, die die Entwicklung des Zentrums im Norden womöglich sogar beeinflusst hatte.
Aber gehen wir der Reihe nach. Die Entdeckung von Cuicuilco fiel in eine fruchtbare und sehr wichtige Zeit in der mexikanischen Archäologie. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts begann die systematische wissenschaftliche Erforschung der Frühgeschichte der Region; nicht Abenteurer, sondern Wissenschaftler bestimmten fortan das Geschehen. Der Anthropologe Manuel Gamió hatte die Reste der Pyramide von Cuicuilco irgendwann vor 1920 entdeckt. Das gehört durchaus zu den „Normalitäten“ von Cuicuilco: Vieles aus der Geschichte dieses Ortes bleibt bis heute im Dunkeln. Selbst die Anfänge der systematischen Archäologie waren nicht notwendigerweise von systematischen Aufzeichnungen begleitet. Und Gamió hinterließ nichts darüber, wann und unter welchen Umständen er diese Stätte entdeckte. Man weiß lediglich, dass er 1917 mit seinen Forschungen in den Lavafeldern südlich der mexikanischen Hauptstadt begann. Und dort, in dieser unwirtlichen Steinwüste, stieß er schließlich auf Reste von Mauern, vergraben unter einer meterdicken Lavaschicht. Oder besser, er glaubte, auf Mauerreste gestoßen zu sein – ganz so sicher war man sich zunächst nicht, ob es sich tatsächlich um einen künstlich angelegten Hügel handelte. Sehr schnell gab es Gewissheit darüber, dass die freigelegten Mauern und Böschungen von Menschenhand geschaffen wurden.
1923 nahm man schließlich die Arbeiten zur Erforschung der Pyramide auf, die Jahre dauerten, nicht kontinuierlich vorangingen und bis heute nicht besonders intensiv waren. Auf der Liste der beteiligten Forscher findet man bedeutende Namen: Gamió, Cummings, Haury, Marquina. Die Ausgrabungen im Süden des zentralmexikanischen Hochtals stellten seinerzeit ein Novum dar: Man hatte keine Erfahrung mit Grabungen in Lavagestein, und vor allen Dingen fehlten die technischen Mittel dazu. Berichten zufolge sprengte man das Gestein einfach weg. Man wagt nicht, sich auszumalen, was dabei eventuell zerstört wurde.
Von Anfang an waren die Archäologen uneins über die Bedeutung der Funde, die Zahl der Interpretationen ist Legion. Allein schon der Grundriss der Pyramide gibt Rätsel auf. Wo sonst findet man noch eine runde Pyramide? Bezüglich der ursprünglichen Größe schwanken die Angaben zwischen 17 und 60 m Höhe bzw. 115 und 135 m Durchmesser. Die Palette kann sicher erweitert werden, ich spare mir das an dieser Stelle. Ebenso abenteuerlich sind die Spekulationen über das Alter der Anlage – manche meinen sogar 7.000 Jahre zurückgehen zu müssen. Selbst Verschwörungstheorien dürfen nicht fehlen: Cuicuilco ist nämlich älter als die ägyptischen Pyramiden – aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf… Glaubt man den Veröffentlichungen im Internet, dann lieben Esoteriker diesen Ort.
Von den Schöpfern der Rundpyramide weiß man kaum etwas. Ihre Kultur, von ihren Entdeckern (die die Radiokarbonmethode zur Alterbestimmung noch nicht kannten) als archaisch und sehr alt bezeichnet, rechnet man heute der vorklassischen Zeit Mesoamerikas zu. Ihren Höhepunkt hatte die Cuicuilco-Kultur in der späten Vorklassik, die von 400 vor bis 200 nach unserer Zeitrechnung dauerte. Kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung setzte ein Ausbruch des Vulkans Xitle dieser frühen Zivilisation jedoch ein abruptes Ende. Die Überlebenden, so glaubt man, verließen die lebensfeindlich gewordene Region und zogen nach Norden, in Richtung Teotihuacán. Jedenfalls gibt es Belege für eine gewisse Kontinuität in der Entwicklung beider Stätten. Mit dem Untergang der einen begann der Aufstieg der anderen Kultur.
Cuicuilco, so heißt es, bedeute „Ort des Gesanges und des Tanzes“, in welcher Sprache auch immer. Es ist ein neuer Name, natürlich, zeigt aber auch die Vorstellung, die man heute von dieser alten Kultur hat. Alljährlich zu den Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden pilgern unzählige weiß gekleidete Menschen nach Cuicuilco (wie zu anderen altmexikanischen Pyramiden auch) und hoffen, dort Kraft und Glück zu finden. Das mag uns seltsam anmuten, aber in Mexiko ist das inzwischen eine Tradition. Und um ehrlich zu sein – dazu passt der irrig rekonstruierte Altar durchaus.
Literatur:
Daniel Schávelzon: La Pirámide de Cuicuilco: arqueología de una polémica. In: Cuicuilco, Revista de la Escuela Nacional de Antropología e Historia, 3(1982)9. S. 13-18.
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, asc
Placido Domingo und das Philharmomische Orchester mit Dirigent Eugen Cohn, und der mexikanische Komponist Armando Manzanero – ein Yucatan Maya. Und der Tempel Chizen Itza. Manzanero singt teil seiner Komposition „Verehrung“ in „seiner“ Sprache, das Maya: Sieh youtube Video: „placido domingo armando manzanero adoro“ . Placido Domingo und Armando Manzerno sind Freunde seit 50 Jahren. Manzanero hat ueber 500 Kompositionen geschoepft (auch gesungen von Elvis und Sinatra).