Wie jedes Jahr im Herbst fand auch 2007 wieder das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm statt. Doch in diesem Jahr war es ein ganz besonderes, da das Festival bereits die fünfzigste Auflage feierte. Das Festival wurde 1955 als „Gesamtdeutsche Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm“ durch den Club der Filmschaffenden der DDR ins Leben gerufen.
Seit den 1970er Jahren rückten auch verstärkt Dokumentarfilme aus Lateinamerika in den Fokus des Festivals, so z.B. Filme im Freiheitskampf der Völker: 1972 mit dem Thema Lateinamerika und 1983 Chile. Im Jahr 1974 stand der kubanische Dokumentarfilm im Mittelpunkt des Festivals.
Auch das diesjährige Festival hatte im Rahmen der Programmreihe Retrospektive wieder einige Filmraritäten und Perlen des lateinamerikanischen Dok-Films zu bieten. Darunter Filme des „Cine de la base“ und „Cine militante“, darunter Werke die sowohl zu den Anfängen als auch den Höhepunkten des lateinamerikanischen (sozialpolitischen) Dokumentarfilms zählen. Das Filmmaterial ist stark gekennzeichnet durch die Thematik des Freiheitskampfes der lateinamerikanische Völker und steht ganz im Sinne der lateinamerikanischen Variante der sozialistischen Idee, geprägt vor allem durch die kubanische Revolution.
Dass Filmschaffende trotz quasi ideologiefreier Zeiten immer noch mit den Unwägbarkeiten politischer und juristischer Einflussnahme zu kämpfen haben, zeigt das Beispiel des nicaraguanischen Films „Rompiendo el Silencio“ (Iván Argüello, 1984), welcher am Tag seiner ersten Aufführung noch vom Zoll in Mexiko festgehalten wurde. Die Gründe hierfür sind unbekannt.
Ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals war die Anwesenheit des chilenischen Regisseurs Patricio Guzmán, weltweit bekannt durch seine Dokumentationen, in welchen er sich mit der Geschichte Chiles unter Allende und den Zeiten der Diktatur auseinandersetzt und vor allem gegen die Gleichgültigkeit und das Vergessen des unter Pinochet begangenen Unrechts ankämpft. Zu seinen filmischen Werken zählen unter anderem „La Batalla de Chile“, „El Caso Pinochet“ und „Salvador Allende“.
Gesehene Filme:
La tierra quema / Los Hieleros de Chimborazo / Remitente Nicaragua: Carta al Mundo / Nacer de Nuevo / Chile / Venceremos / Hitlerpinochet / La Batalla de Chile: El Golpe de Estado / A Promise to the Death / Cocalero / The Hills of Disorder
Programmreihe Retrospektive „Spurensuche“: Kontinent in Flammen – Lateinamerika
La tierra quema (Raymundo Gleyzer, Argentinien 1965, 13 min.)
In Brasilien, dem zweitgrößten Land des amerikanischen Kontinentes, besitzen 2 % der Bevölkerung 80% des kultivierbaren Landes. Im Nordosten der Region, der „tierra seca“, beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 27 Jahre. Juan Amaro und seine Frau haben bereits vier ihrer sieben Kinder aufgrund extremer Armut verloren. Nach einer sechsmonatigen Trockenperiode beschließen sie, zu Fuß in die Stadt zu gehen – mit der Hoffnung zu überleben.
Los Hieleros de Chimborazo (Gustavo und Igor Guayasamín, Ecuador 1981, 22 min.)
Gedreht zwischen 1977 und 1980, zeigt die Doku die harte Arbeit der ecuado- rianischen Hieleros von Chimborazo, welche in über 5.000 Metern Eis abbauen, um es auf die Märkte der umliegenden Städte zu transportieren, wo es u.a. für Erfrischungen verwendet wird. Der Film ist aber ebenso Zeugnis darüber, dass sich für die Indigenen Ecuadors, trotz ihrer Unterstützung im Kampf für die Unabhängigkeit von Spanien, seit 184 Jahren nichts an ihrer sozialen Lage geändert hat und wie im Film erwähnt wird „Ihre Geschichte in den Kolonien geblieben ist“. Prädikat beeindruckend!
Remitente Nicaragua: Carta al Mundo (Fernando Birri, Italien/ Nicaragua 1984, 15 min.)
Eine poetische Reflexion über den historischen Kampf des nicaraguanischen Volkes; ein Wandbild der täglichen Revolution in einer neuen Gesellschaft.
Nacer de Nuevo (Marta Rodríguez de Silva, Kolumbien 1987, 30 min.)
Nach einem schweren Erdrutsch in der Nähe des Vulkans Ruiz in Kolumbien im November 1985, zeigt der Dokumentarfilm die schicksalhafte Situation der 71-jährigen María Eugenia Vargas und anderer Bewohner des Ortes. Ohne Obdach und mit wenigen Sachen leben sie in einem durch ein Hilfswerk aufgestellten Zelt. Die Überzeugung, dass Gott ihr vor dem Erreichen des hundertsten Lebensjahres alles Verlorene zurückgibt, kommt in Gestalt einer Henne, welche ihr von Fidel Castro beim Besuch der Region geschenkt wird. Ein Film über die Hoffnung und, nach eigener Aussage der Regisseurin, ein unbedingt lebensbejahender Film in einem seit Jahrzehnten durch Bürgerkrieg geprägten Kolumbien.Berührend!
Programmreihe Retrospektive „Spurensuche“: Unauslöschliche Erinnerungen – Chile
Chile (Jörg Herrmann, DDR 1976, Animation, 1 min.)
Venceremos (Pedro Chaskel, Chile 1970, 15 min.)
Hitlerpinochet (J. Herrmann, Juan Forch, DDR/ Argentinien 1976, Animation, 2:25 min.)
La Batalla de Chile: El Golpe de Estado (Patricio Guzmán, Chile/Kuba/Frankreich 1976, 90 min.)
Gute chronologische Aufarbeitung und Schilderung der Umstände des Scheiterns der Regierung Allende und des Militärputsches im Jahr 1973. Ohne Archivaufnahmen, direkt an den Orten des Geschehens gedreht, zeigt die Doku die damaligen Ereignisse in Schwarz-Weis-Bildern, deren Qualität aufgrund der Mobilität bei der Aufnahme gewalttätiger Straßenszenen nicht immer die beste ist. Ein beeindruckendes historisches Dokument, welches auf Umwegen aus dem Land geschafft wurde und bis heute nicht im chilenischen TV zu sehen war.
Programmreihe Internationales Programm Dokumentarfilm
A Promise to the Dead – The Exile Journey of Ariel Dorfman (Peter Raymond, Kanada 2007, 90 min.)
Bewegendes Portrait des Schriftstellers Ariel Dorfman, dessen Familie seit mehreren Generationen durch die historischen Umstände gezwungen wurde im Exil zu leben. Als Kulturberater der Regierung Allende musste er 1973 in die USA emigrieren. Wanderer zwischen mehreren Welten und mit facettenreicher Identität setzt er sich in seinem Schaffen hauptsächlich mit den unmenschlichen Folgen der Diktatur unter Pinochet auseinander. Die Doku führt an die Orte und zu den Freunden der Allende-Ära zwischen 1970-1973 in Chile zurück.
Cocalero (Alejandro Landes, Bolivien/ Argentinien 2007, 94 min.)
Harmlose aber stellenweise unterhaltsame Dokumentation über den Wahlkampf zur bolivianischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2005. Der Kandidat des MAS, Evo Morales, seines Zeichens Aymara, schickt sich an, trotz aller Hindernisse, der erste indigene Präsident in der Geschichte Boliviens zu werden. Der Film, durch welchen ein sympathisches und mutiges, meist aber recht kritikloses Bild der Person gezeichnet wird, ist aber auch ein Portrait über den Menschen & Kokabauern Evo Morales.
Programmreihe Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm
The Hills of Disorder (Andrea Tonacci, Brasilien 2006, 135 min.)
Ein faszinierender und idiosynkratischer Film, in welchem Fiktion und Dokumentation, Vergangenheit und Gegenwart vermischt werden, um die unglaubliche Geschichte von Carapirú zu erzählen – einem brasilianischen Indigenen, welcher dem Massaker an seiner Familie entkommt und für 10 Jahre alleine durch die Hügel wandert. Letztendlich wurde er „gefangen“ und 2000 Kilometer von seiner Heimat in einem Dorf ansässig gemacht. Dort wird er zum interessanten Objekt für Medien und Wissenschaftler bevor ihn eine überraschende Wendung wieder zu seinem Stamm zurückführt.
Weitere lateinamerikanische Filme im Programm
Behave (M. A. Ramos, Brasilien 2006, 80 min.)
Der zweite Blick – Social Club Buena Vista (Carsten Möller, D/ Kuba 2007, 85 min.)
Por primera vez (Octavio Cortázar, Kuba 1967, 10 min.)
Santiago (João Moreira Salles, Brasilien 2007, 80 min.)