Teresa, eine Chicana aus Palo Alto, Kalifornien, zeigte uns das Buch Das Fest des Ziegenbocks von Mario Vargas Llosa, in dem noch die Notizen ihrer Großmutter mütterlicherseits geschrieben standen. Die Großmutter, Ehefrau eines mexikanischen Diplomaten, lebte einige Jahre in der Dominikanischen Republik zur Zeit des Generals Trujillo (1891-1961), einer der Hauptfiguren in Das Fest des Ziegenbocks. Teresa erzählte, dass die Großmutter starb, bevor sie das Buch zu Ende lesen konnte, das sie deshalb besonders interessierte, weil sie einige seiner Protagonisten persönlich kannte. Das gleiche Interesse hatten auch viele Dominikaner, vor allem diejenigen, die zur Zeit der Diktatur Trujillos (1930-1961) lebten, und ihre Nachkommen – manche lasen das Buch als historisches Werk und sprachen daher von Geschichtsfälschung.
An jenem kühlen Februar-Abend in Kalifornien würde Mario Vargas Llosa einen Vortrag über Literatur in einem der Hörsäle der Universität Stanford halten. Wir gingen natürlich hin, lauschten dem Vortrag und der anschließenden Diskussion. Am Ende ließ sich Teresa nicht die Gelegenheit entgehen, zu dem produktiven südamerikanischen Autor mit spanischer Staatsbürgerschaft zu gehen und ihn um ein Autogramm für ihre von der mexikanischen Großmutter geerbte Ausgabe von Das Fest des Ziegenbocks zu bitten. Sie bekam das Autogramm und erzählte Vargas Llosa die Geschichte, die ich bereits von ihr gehört hatte. Er blätterte in dem Buch, las einige der Anmerkungen und gab es höflich lächelnd zurück. »Wie interessant!«, rief er und wiederholte, was er in den Teilen der Diskussion, die über das Buch handelten, gesagt hatte. Kurz gesagt: Der Roman sei ein fiktives Werk, d.h. »eine Version der Realität, in der die Imagination gegenüber der Erinnerung den Vorrang hat.«
Dieses Werk von Vargas Llosa gesellt sich zu den zahlreichen lateinamerikanischen Romanen, in deren Zentrum die groteske Figur des Diktators steht – unter anderen Der Herr Präsident von Miguel Angel Asturias; Ich, der Allmächtige von Augusto Roa Bastos; und Der Herbst des Patriarchen von Gabriel Garcia Marquez. Außerdem nimmt Vargas Llosa ein Thema wieder auf, das er bereits in seinem Werk Gespräch in der Kathedrale (1969) behandelt hatte, welches mehr oder weniger ein historisches und soziopolitisches Panorama Perus in den Jahren von General Manuel A. Odria zeichnet.
Das Fest des Ziegenbocks umfasst drei Erzählebenen, die einander in den 24 Kapiteln abwechseln und sich gegenseitig ergänzen. Die Hauptfigur der ersten Ebene ist Urania Cabral, eine alleinstehende 49 Jahre alte Frau, die in Manhattan lebt. Sie kehrt zurück auf die Insel, die sie mit 14 Jahren verlassen hatte und auf die sie nie wieder zurückzukommen geschworen hatte. Sie besucht ihren alten kranken Vater, einen Invaliden, der Exminister, Exsenator und Expräsident der Dominikanischen Partei war – Agustin Cabrales, bekannt als »Köpfchen« – und rekapituliert die Vergangenheit. Die Kapitel des Buches, die ihr gewidmet sind, beantworten die Frage nach dem Grund für ihre Rückkehr nach fünfunddreißig Jahren. Der Chef, der Generalissimus, der Wohltäter, der Vater des Neuen Vaterlandes, seine Exzellenz Dr. Rafael Leonidas Trujillo Molina ist die Hauptfigur der zweiten Erzählebene. Die Kapitel II, V, VIII, XI, XIV und XV geben ein Bild des letzten Tages im Leben des Diktators, über den Joaquin Balaguer (1906-2002), sein Nachfolger und siebenmalige Präsident des Landes, schrieb: »Seine Machtergreifung grenzt an ein Wunder, bei dem die Jungfrau Maria die Hände im Spiel gehabt haben muss.« An jenem Tag erwachte der Diktator, den man aufgrund seines Rufs als sexbesessener Lebemann den Ziegenbock nannte, »gelähmt vom Gefühl einer Katastrophe.« Er, der in dem Ruf stand, nie zu schwitzen, stellte fest, dass seine Gesundheit und seine Manneskraft ihn im Stich zu lassen begannen. Was tat und dachte er, bevor sein Leben durch die Projektile aus den Waffen der Verschwörer endete? Die Hauptfiguren der dritten Erzählebene schließlich sind die Verschwörer. Sie unterhalten sich oder denken nach, und der Leser erfährt die persönlichen Gründe, die jeden einzelnen zur Beteiligung an diesem Attentat führten, das zwar erfolgreich war, aber einige von ihnen das Leben kosten würde. Auf allen drei Erzählebenen von Das Fest des Ziegenbocks setzt Mario Vargas Llosa brillant alle Erzähltechniken seiner bisherigen Romane von Die Stadt und die Hunde (1962) bis Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto (1996) ein. Die Meinungen über Das Fest des Ziegenbocks sind geteilt. Manche halten es für das beste Werk des Autors. Andere sind der Auffassung, dass dieser Roman über einen totalitären Diktator nicht an andere Werke heranreiche wie zum Beispiel Das Grüne Haus (1966) oder Gespräch in der Kathedrale, die bei den Kritikern Lobeshymnen hervorriefen, und dass er sehr mühsam zu lesen sei. Ich bin der Meinung, dass das Buch sehr gut gelungen ist – obwohl ich es nicht für sein bestes halte – und das es auf jeden Fall eine Lektüre lohnt.
Nach dem Vortrag standen wir noch vor dem Vortragssaal der Universität Stanford und unterhielten uns, und so hatten wir noch einmal die Gelegenheit, Mario Vargas Llosa vor uns zu sehen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Seine Frau, die ihn begleitete, sagte scherzhaft zu ihm: »Sicherlich war das Kind« -sie meinte meine einjährige Tochter – »die einzige, die sich während Deines Vertrags nicht gelangweilt hat.« Ich jedenfalls war nach dieser Begegnung mit Vargas Llosa nicht enttäuscht, wie es der Autor selbst war, nachdem er als noch unbekannter junger peruanischer Schriftsteller meinen Landsmann Ernesto Cardenal erlebte, dessen Gedichte er damals liebte und bewunderte. Mir erschien Vargas Llosa als aufgeschlossene und interessante Person.
Mario Vargas Llosa:
Das Fest des Ziegenbocks
Suhrkamp
2001