Das vorliegende Buch entführt uns mit seinem Forschungsbericht in die wunderbare, fremdartige Lebens- und Geisteswelt der „Kogi“ – Nachkommen der Tairona, die hoch oben im Urwald der unzugänglichen Sierra Nevada de Santa Marta (Kolumbien) leben. Seit vierhundert Jahren meiden sie den Kontakt zur „Außenwelt“ und haben sich so die urtümliche altamerikanische Kultur bewahren können. Sie bezeichnen sich selbst seit alters her als „die Älteren Brüder“ der Menschheitsfamilie und sind seit der Eroberung Amerikas durch die „Jüngeren Brüder“ (die Europäer) überzeugt, dass deren Torheit und Habgier in wenigen Jahren alles Leben auf der Erde vernichten werden, wenn nicht sie, die Erstgeborenen, für die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung sorgen.
Der britische Historiker und vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilmer Alan Ereira erfuhr in den siebziger Jahren von sehr alten meisterlich gefertigten Goldschmiedearbeiten, die von den Tairona stammen sollten. Mit der Frage: Wer waren die Tairona? macht er sich auf die abenteuerliche Suche nach den in spanischen Chroniken des 16. Jahrhunderts erwähnten Kultstätten und findet mit Hilfe von Grabräubern die Ruinen einer solchen untergegangenen Tempelanlage. Dabei erfährt er auch von dem Dasein der Kogi und versucht mit Erfolg, was kaum einem anderen vor ihm gelungen ist: Er nimmt Kontakt zu den kleinwüchsigen Indianervolk auf, gewinnt nach 2 jähriger Prüfungszeit ihr Vertrauen und kann sie überzeugen, gemeinsam mit ihm einen Film über ihr Leben zu drehen. Sie vertrauen Ereira ihre Botschaft an, damit er sie in die Welt der „Jüngeren Brüder“ tragen kann.
Der Autor nennt das Buch selbst „ein Protokoll der Entstehung eines Fernsehfilms“ für den BBC. Für mich bildete die Protokollform eher den Rahmen, indem alle rund ums Projekt entstandenen Aufregungen, Tücken, Überraschungen und Alltäglichkeiten geschildert werden.
Die ersten, viel zu langatmig gehaltenen vier Kapitel sollen dem Leser die Problematik der Vorbereitungsarbeit nahe bringen. Der muntere bis saloppe Plauderton wirkt kontrastierend zu den dramatisch geschilderten Behördenvorgängen und der Eindruck der Überzogenheit entsteht dabei leicht. Durch die teilweise ganz spontan eingeflochtenen Abhandlungen zu geschichtlichen Ereignissen, Problemfragen, Angaben zu Klima, Fauna, Flora und allen möglichen landschaftlichen Besonderheiten erfährt der Leser dann aber doch eine ganze Menge.
So richtig interessant und auch spannend wird es erst in der zweiten Hälfte des Buches, wenn Ereira bei den Kogi lebt und diese selbst zu Wort kommen. In teilweise gegliederten Abschnitten oder aber auch so nebenbei werden das Familienleben, das Verhältnis von Mann und Frau, die Einstellung zu Kindern, zur Sexualität, die Geschichte und die Rituale des Webens, Töpferns und der Herstellung der Goldfiguren behandelt. Außergewöhnlich wirken die wörtlichen Zitate der in einer Art Gedichtform gehaltenen Aussagen der Kogi zu ihrer Geschichte von der Entstehung der Welt, ihrer Philosophie und ihre Botschaft an die „Jüngeren Brüder“. Diese Übersetzungen dürften für Kurt Neff, der die Übertragung des Buches ins Deutsche realisierte, die schwierigste Aufgabe gewesen sein. So lernt der Leser die eigenwillige Ansicht der kleinen Indianer kennen, die nicht schwer nachzuvollziehen ist und trotzdem zum Um- und Nachdenken anregt. Es wird deutlich, dass die Kogi eine hohe Form der Naturreligion praktizieren, sie über geistige und sinnliche Gaben verfügen, die dem modernen Menschen abhanden gekommen sind. Sie haben Vorzeichen über das sichere, baldige Ende einer Welt wahrgenommen, die Unreife, Habgier und stupide Verblendung ins Verderben stürzen. Ihre Zusammenfassungen entsprechen mit verblüffender Genauigkeit denjenigen, die moderne Wissenschaftler aufgestellt haben.
„Wir sind die Älteren Brüder. Wir haben die alten Sitten nicht vergessen. … Wir wissen über starkem Regen Einhalt zu gebieten. Wir rufen den Sommer herbei. Wir wissen den Segen über die Welt zu sprechen und sie zum Erblühen zu bringen. Aber heute töten sie die Mutter (die Erde -D. H.). Der Jüngere Bruder, er denkt einzig ans Ausplündern. Die Mutter sorgt auch für ihn, aber er, er denkt nicht…. Er reißt ihr das Herz aus. Er tötet das Herz der Welt. Wenn die letzte Nacht anbricht, wird es mit allem aus sein…. Wenn sie alle Älteren Brüder umbringen, wird es auch mit ihnen aus und vorbei sein. Aus und vorbei sein wird es mit uns allen.“
Der Autor verlässt die Sierra als ein im Denken gewandelter Mensch, der eine geraume Zeit brauchen wird, um die westliche Zivilisation nicht mehr nur mit den Augen der Kogi zu sehen. Das Buch appelliert auch an unser ökologisches Bewusstsein, aber nicht in der tagtäglich auf uns einstürzenden Form, sondern in einer anders (begreifbareren Art. Am Ende waren es dann nicht mehr nur die zahlreichen im Buch abgebildeten Fotos, die mich neugierig auf den dazugehörenden Film gemacht haben.
Alan Ereira: Die großen Brüder – Die Botschaft der Hüter des Lebens. Rowohlt Taschenbuch, 1995