Die letzten Jahrzehnte in Lateinamerika sind vor allem vom Übergangsprozeß von diktatorischen Systemen zur formalen Demokratie geprägt. Für die Qualität dieser Prozesse ist in verschiedener Hinsicht die Reform der Justiz und mit ihr der wichtigsten Gesetzestexte ein Indikator. Anders formuliert, die Reform des Gerichtswesens ist Teil des demokratischen „Pakets“. In den Ländern, in denen die Demokratisierung mit Friedensprozessen einherging (El Salvador, Guatemala), ist dies besonders sichtbar, da die Justizreform in die Friedensverträge eingeschlossen ist. In vielen Ländern wie Chile, Bolivien, Costa Rica, Ecuador und anderen geht dieser Prozeß jedoch fast „verdeckt“ von spektakuläreren Ereignissen und Entwicklungen im politischen, sozialen und ökonomischen Bereich vor sich. Auch hatte der Übergang zur Demokratie für den Justizbereich in den wenigsten Ländern schwerwiegende Konsequenzen, da die demokratischen Bewegungen ihr Augenmerk ohnehin vor allem auf die politischen Reformen und Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit richteten. Dies zu Unrecht, da die Justizreform nicht nur als ein Begleitumstand politischer Veränderungen gesehen werden darf, sondern diese auf lange Sicht garantiert. Darüber hinaus ist der kriminologische Hintergrund der Justizreformen entscheidend für die staatliche Politik der öffentlichen Sicherheit und diese wiederum für die Vertiefung der demokratischen Prozesse, da sie in Übereinstimmung mit den Verfassungsgarantien und Menschenrechten gebracht werden muß. In Lateinamerika ist dies deshalb von grundlegender Bedeutung, weil das Justizsystem traditionell und insbesondere in den Diktaturen von der positivistischen Kriminologie geprägt war, was sich in der Strafgesetzgebung, in den Theorien der „peligrosidad social“ sowie der Diskriminierung der Armen, politisch Andersdenkenden und Minderheiten niederschlug. Der Übergang von den sogenannten „inquisitorischen Strafsystemen“ (sistema penal inquisitivo) zu Systemen, welche Verfahrensgrundrechte garantieren, sowie von Systemen, die die Person des Täters in den Vordergrund rücken, hin zu Systemen, die auf der Beleuchtung des Tatbestandes beruhen, ist ein wesentliches Element des Demokratisierungsprozesses.
Bei der Bewertung der derzeitigen Situation ist die systembedingte Langsamkeit und Konservativität der Justiz als „innerer“ Umstand zu berücksichtigen. Das in den Haushaltsplänen chronisch vernachlässigte Gerichtswesen nimmt in der Regel keine avantgardistische Position zu Neuerungen im Management und der Technologie ein, weshalb es im Vergleich zu anderen Institutionen des öffentlichen Bereichs weniger entwickelt ist. Der „handwerkliche“ Ansatz in der Arbeit der Richter, die sich schwer auf neue Methoden und Vorgehensweisen der Verwaltung einstellen, führt nur in unzureichendem Maße und kaum sichtbar zur Erhöhung der Effektivität und Effizienz. Die personelle Erneuerungsrate ist auf Grund der unmäßig langen Ausbildungszeiten und der administrativen Hindernisse zur Eingliederung in das System niedrig, wodurch sowohl die doktrinäre Entwicklung der Rechtsprechung als auch die Akzeptanz von Modernisierungsprozessen unter den Richtern hinter anderen, ebenfalls in der Entwicklung befindlichen Bereichen des demokratischen Systems zurückbleiben. Ein viel zitiertes Beispiel ist die Nichtberücksichtigung ratifizierter internationaler Rechtsinstrumente in der nationalen Rechtsprechung, was sich subjektiv aus der Unkenntnis und aus ideologischen Vorurteilen ergibt und objektiv in der inhaltlichen Diskrepanz zwischen Verfassung und Sekundärgesetzgebung begründet ist. Eine grundlegende Herausforderung für die Justizreform ist daher die Durchsetzung des Kelsenschen Prinzips der Su-periorität der Verfassung und der Ableitung des Sekundärrechts aus ihren Prinzipien als eine Basis der Rechtsstaatlichkeit. Im allgemeinen entsprechen die letzten Verfassungsreformen in den lateinamerikanischen Ländern hinsichtlich staatlicher Garantien der Menschenrechte internationalen Standards. Die Verfassung gerät jedoch zur reinen Deklaration, da sie in der Praxis der Rechtsprechung kein entscheidender Referenzpunkt ist, ja oftmals völlig unberücksichtigt bleibt und die positivistisch geprägte Strafgesetzgebung den ausschließlichen Rahmen der Rechtsprechung darstellt. Diesen Zustand hat auch die Errichtung von Verfassungsgerichten in den meisten Ländern nicht verändern können.
Allerdings wurde die „doktrinäre“ Unbeweglichkeit der Justizsysteme in Lateinamerika zumindest ansatzweise durch von außerhalb des Systems geäußerte Kritik abgeschwächt. Verschiedene unabhängige sozial-, rechts- und politikwissenschaftliche Forschungseinrichtungen, in- und ausländische Stiftungen, spezialisierte Nicht-Regierungsorganisationen und demokratische Bewegungen gegen die Straflosigkeit der Verbrechen unter den diktatorischen Regimen haben entscheidende Punkte der notwendigen Reform aufgezeigt und einen sozialen Druck geschaffen, der den Weg zur Veränderung geebnet hat. So ist es keineswegs die Ausnahme, daß sich die neuen Tendenzen der Rechtsentwicklung in Lateinamerika außerhalb des Gerichtswesens in nichtstaatlichen Institutionen vollziehen, die in den letzten Jahren von der Kritik zu progressiven Vorschlägen übergingen und zu Akteuren wurden. Der Schritt von der Kritik und Opposition hin zur Mitwirkung in den Umgestaltungsprozessen ist nicht nur die Garantie dafür, letztlich nicht auf dem Abstellgleis steriler Theorieentwicklung zu enden, sondern stellt auch eine qualitative Fortentwicklung zivilgesellschaftlicher Organisation innerhalb des Demokratisierungsprozesses dar.
Insofern darf man den Reformprozeß des Gerichtswesens als keineswegs abgeschlossen betrachten, sondern sollte ihn angesichts der zahllosen fortexistierenden Probleme als Beginn eines Weges sehen, dessen Erfolg in direkter Beziehung zur demokratischen und sozialökonomischen Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften steht. Die dazu notwendigen Modernisierungsprozesse basieren nicht zuletzt auf der Entwicklung des Bildungssystems, der technischen Kapazität und der Investition in die Infrastruktur.
Trotz der nationalen und regionalen Unterschiede der Reformen im Justizsektor Lateinamerikas gibt es eindeutige Parallelen und definitorische Ähnlichkeiten hinsichtlich der makropolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen:
- die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Mechanismen der Regierung und die Herstellung des Legalitätsprinzips, die unter den Militärdiktaturen zur Bedeutungslosigkeit verurteilt waren;
- die Herstellung von Bedingungen für die Unabhängigkeit der Justizorgane und ihre Professionalisierung;
- Verfassungs- und Gesetzesreformen zur Festigung und Modernisierung des demokratischen Staatssystems;
- die Reform des Strafrechtssystems für mehr Effizienz und Effektivität;
- die Forderung nach der Überwindung der Straflosigkeit (impunidad) von Verbrechen, insbesondere hinsichtlich der schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen;
- die Reform der öffentlichen Sicherheit (Polizei und „Untersuchungsorgane für Delikte“) und die Integration der staatlichen Institutionen zur Verbrechensbekämpfung, gerichtet auf die Senkung der hohen und steigenden Kriminalitätsraten und die Effizienz der Präventiv- und Korrektivmaßnahmen.
Innerhalb dieses Programms schaffen die folgenden Punkte die notwendigen Bedingungen dafür, daß dieses auf mittlere Sicht erfolgreich sein kann, weshalb diese mit unterschiedlicher Priorität in den meisten Reformprozessen enthalten sind:
- Haushalts- und Gehaltserhöhungen;
- die Gründung eigener richterlicher Verwaltungsinstitutionen (Beispiel: Consejos de la Magistratura o Judicatura);
- die Rationalisierung der Gerichtsbarkeit, insbesondere hinsichtlich der Einteilung der Gerichtsbezirke;
- die Ausbildung von Juristen speziell für das Richteramt sowie die Gründung von Weiterbildungseinrichtungen sowohl für Richter als auch für im Gerichtswesen tätige Angestellte,
- die Einführung neuer personeller Kategorien im richterlichen und Angestelltenbereich;
- die Revision der Ernennungs- oder Berufungssysteme;
- die Einführung oder/und Anerkennung alternativer Konfliktlösungssysteme (z.B. traditionelle, auf Gewohnheitsrecht beruhende Systeme der indigenen Bevölkerung);
- die Einführung von Kriterien zur Evaluierung des Personals, von Kontrollmechanismen und Disziplinarsystemen, auch und vor allem zur Bekämpfung der Korruption;
- die Erneuerung und Erweiterung der Infrastruktur;
- die Verstärkung der Präsenz des Gerichtswesens in ländlichen und unterentwickelten Gebieten. Allgemeine Schwachstellen, die durch die Reform des Gerichtswesens in Lateinamerika ausgeräumt werden sollen, sind vor allem im Prozeßrecht zu finden. In diesem Zusammenhang geht es vor allem um den noch fehlenden gleichberechtigten Zugang zur Gerichtsbarkeit für alle Bevölkerungsschichten. Darüber hinaus muß eine klare staatliche Kriminalpolitik formuliert werden, die sich auf neue Formen der Kriminalität einzustellen vermag.
Eine besondere Herausforderung an die neuen Demokratien und das Gerichtswesen vieler lateinamerikanischer Länder stellt die Bestrafung der unter den Militärdiktaturen begangenen Menschenrechtsverletzungen dar (z.B. Argentinien, Chile, El Salvador, Guatemala). Nationale und internationale Kommissionen zur Untersuchung von Folter, Mord, Verschwindenlassen, Exilierung und unrechtmäßigen Inhaftierungen von Regimegegnern sowie von Massakern an der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten stellen in ihren Berichten die Unfähigkeit insbesondere des Gerichtwesens bloß, sich dieser Verbrechen anzunehmen, obwohl diese in der Regel bereits in den nationalen Strafgesetzbüchern als Straftatbestände formuliert sind. Das durch die Straflosigkeit der schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen des Staates und anderer Akteure entstandene Gerechtigkeitsdefizit ist ein unübersehbares und gravierendes Hindernis für den nationalen Versöhnungsprozeß und den demokratischen Fortschritt in Chile und Argentinien genauso wie in Guatemala und El Salvador. Die Souveränität des Staates und seiner Gerichtsbarkeit in Sachen Menschenrechte wird durch internationale Anklagen wie im Fall Pinochet (Chile) oder neuerdings durch die Initiative von Rigoberta Menchu (Guatemala) hinsichtlich seiner rechtsstaatlichen Aktion und Anerkennung von internationalen Rechtsprinzipien in der Praxis auf die Probe gestellt. Der Grad der Demilitarisierung des Staates, die Stärkung seiner zivilen Institutionen sowie die Entwicklung der Demokratiemechanismen erweisen sich als bestimmende innere Bedingungen für die Möglichkeit, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, zu verfolgen und zu bestrafen. Insgesamt ist das Aufgreifen dieses Themas das vielleicht wichtigste Resultat in der Entwicklung des Rechts und der Gerechtigkeit.
Explizite Reformbestrebungen bestehen vor allem in den Ländern, die auf der Basis von Friedensabkommen Friedens- und Demokratisierungsprozesse eingeleitet haben (El Salvador, Guatemala). In einigen Ländern war die Reform an die Einführung eines neuen Strafverfahrensrechts (Chile, El Salvador, Guatemala, Kolumbien) gebunden und in anderen Ländern an die Administration und Ausbildung (Kolumbien, Costa Rica, Ecuador, Peru). Eine Konstante der Reformen ist die Kombination von Ausbildung, Modernisierung der Administration und die Gründung oder Stärkung der „Räte der nationalen Gerichtsbarkeit“ (Consejos Nacionales de la Judicatura).
In Argentinien ist 1998 ein weitreichender Nationaler Reformplan der Justiz angelaufen, der die Einführung eines Modells vorsah, das auf dem Grundsatz der Unmittelbarkeit beruht sowie Effizienz, Qualität und den Zugang zum Gericht gewährleistet. Der Reformplan geht davon aus, daß die Probleme der argentinischen Justiz auf nationalem und Provinzniveau nicht vorrangig dem Fehlen von Mitteln oder Personal anzulasten sind, sondern der fehlenden Planung und der nicht zielorientierten Nutzung der Mittel. Die Lösung wird daher in der Flexibilisierung der Verwaltungsprozesse und der Strukturen des Systems verortet. Die acht Kapitel des Reformplans zeichnen daher die politischen Richtlinien der Kontrolle des Systems, der Gerichtsbarkeit, der Personalpolitik, des Haushalts, der Einführung der Informatik und des rechtlichen Systems vor. Im Rahmen der Demokratisierungsprozesse wurden auch Verfassungreformen durchgeführt, die nicht nur Einfluß auf die doktrinäre Entwicklung des Rechts haben, sondern auch der Modernisierung und strukturellen Anpassung der staatlichen Organe und Institutionen dienen und die Reformen des Justizsystems weitgehend tragen (Argentinien 1994, El Salvador 1991, Guatemala 1985).
Der Friedensprozeß in Guatemala kulminierte in dem im Dezember 1996 geschlossenen Friedensabkommen zwischen der Regierung Alvaro Arzus und der Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG). Im Abkommen über die Stärkung der Zivilmacht und die Funktion der Streitkräfte in einer demokratischen Gesellschaft sind die Leitlinien der Staatsentwicklung dargelegt, die unter anderem das Justizsystem betreffen.
In Paragraph 8 des Abkommens wird der damalige Zustand des guatemaltekischen Justizsystems folgendermaßen beschrieben: „Eine der wichtigsten Strukturschwächen des guatemaltekischen Staates liegt im Justizsystem, einer der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen. Insbesondere die Überholtheit des Verfahrensrechts, die Langsamkeit der Instanzen, das Fehlen moderner Administration und der Kontrolle über die Beamten und Angestellten begünstigen Korruption, Straflosigkeit und Ineffizienz.“ Paragraph 10 des Abkommens nennt als Hauptziele der Justizreform: den freien Zugang zur Justiz, deren Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit, die richterliche Unabhängigkeit, die moralische Autorität sowie die Modernisierung des Systems.
Zur Erreichung dieser Ziele sieht das Abkommen vier Maßnahmen vor:
- Verfassungsreformen u.a. zur Achtung der multiethnischen, multikulturellen und mehrsprachlichen Zusammensetzung der guatemaltekischen Nation, der Einbeziehung alternativer Lösungen bei sozialen Konflikten, der Garantie kostenloser Verteidigung von mittellosen Angeklagten,
- Gesetzesreformen, die die richterliche Berufslaufbahn und die Ermöglichung der öffentlichen bzw. kostenlosen Strafrechtsverteidigung regeln,
- die Etaterhöhung um 50% im Jahr 2000 im Vergleich zum Jahr 1995, um die Präsenz der Justiz im gesamten Land und dabei vor allem die Mehrsprachigkeit der Gerichte zu garantieren,
- die Schaffung einer Kommission zur Stärkung der Justiz, deren Aufgabe vor allem darin besteht, Maßnahmen zur Modernisierung, für den Zugang zur Justiz, zur Beschleunigung der Verfahren, zur Verbesserung der professionellen Kompetenz der Richter und Staatsanwälte und zur Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure, z.B. hinsichtlich des indigenen Gewohnheitsrechts, in das Justizsystem, vorzuschlagen.
Bereits 1994 trat in Guatemala ein neues Strafverfahrensrecht in Kraft, das auf dem weitgehenden Ausschluß des Richters von der Kriminaluntersuchung, auf dem Grundsatz der Mündlichkeit (oralidad) des Verfahrens sowie der umfassenden Gültigkeit der Verfahrensgarantien beruht. Auch ansonsten ist dieses Verfahrensrecht von neuen philosophischen und praktischen Leitlinien des Strafrechts in Lateinamerika geprägt. Die Umsetzung dieser Vorhaben erlitt vor allem dadurch einen Rückschlag, daß das Plebiszit über die Verfassungsreformen im Mai 1999 gescheitert ist. Andererseits wurden aber das Gesetz zur Schaffung des Instituts für öffentliche Strafverteidigung sowie das Gesetz über die richterliche Laufbahn verabschiedet und in die Praxis umgesetzt. Der Bericht der Kommission zur Stärkung der Justiz wurde 1998 vorgelegt. Ihre Vorschläge blieben bisher jedoch weitgehend unberücksichtigt, weshalb eine Nachfolgekommission gegründet wurde. Die Akzeptanz des indigenen Gewohnheitsrechtes im Interesse der sozialen Konfliktlösung ist eines der zentralen Anliegen der Arbeit dieser Kommission. Die Kriminalisierung von sozialen Konflikten wie z.B. Landbesetzungen oder Arbeitskonflikten einerseits oder die Abwertung von minderschweren Delikten (der berühmte Hühnerdiebstahl, robo de gallina) zur Bagatelle und ihre Nichtbehandlung durch die Justiz andererseits, hat die staatliche Justiz an eine Wegegabelung gebracht, an der die Neubewertung der Konflikte entsprechend ihres sozialen Gewichts und alternative Konfliktlösungsstrategien erforderlich sind. Diese Neubewertung ist unter Umständen der einzige Ausweg, um der Kultur der Gewalt -zum Teil Erbe des 36-jährigen Bürgerkriegs -, d.h. der Selbst- und Lynchjustiz und der „sozialen Säuberung“ (limpieza social), die Mittel des Gesetzes zur Herstellung von Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Die Koordinierung des Gewohnheitsrechtes mit dem staatlichen Recht als eine Option, das Gewaltpotential in der Gesellschaft abzubauen, ist formal an der Ablehnung der Verfassungsreform gescheitert. Die geplante Einführung des Gewohnheitsrechtes war einer der wichtigsten Gründe dieser Ablehnung. In der Praxis jedoch führt kein Weg an diesem Punkt vorbei und die Einführung der Gemeindefriedensrichter (juzgados comunales de paz), insbesondere in den indigenen Regionen, ist ein schüchterner Versuch, dem Rechnung zu tragen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten liegen vor allem im sprachlichen Bereich – in Guatemala leben 23 ethnische Gruppen – und dem damit verbundenen Zugang zu diesem Recht in der eigenen Sprache. Die Abwesenheit des Justizsystems in weiten Regionen des Landes und seine Unterordnung unter das herrschende Modell der nationalen Sicherheit wurde insbesondere auch von der „Kommission zur Historischen Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges“ beklagt. Die Straflosigkeit der für schwere Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen war einer der wichtigsten Mechanismen zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines Klimas der Angst und des Schreckens.
Demzufolge kann die Justizreform nicht lediglich auf technische und Verfahrensfragen reduziert werden. Die integrale Sicht auf alle Friedensabkommen verlangt es, sie im Kontext der nationalen Versöhnung zu sehen, welche die Herstellung von Gerechtigkeit für die Opfer und die Bestrafung der Täter impliziert. Ein Standpunkt, der in Guatemala keineswegs der vorherrschende ist.
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Dr. Birgit Gerstenberg ist Philosophin und als Verantwortliche für die Akademie der zivilen Nationalpolizei bei MINUGUA in Guatemala tätig.