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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Paco Ignacio Taibo II

Mario Casasús | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten
Interview mit Ignacio Taibo (109 Downloads )

„Ein Geschichtsbuch ist nichts Starres, es ist lebendig.“

Ignacio Taibo: Los Tigres de la Malasia (Ed. Planeta)Mexiko-Stadt – Paco Ignacio Taibo II (*1949) berichtet im Interview mit Clarín.cl von seinen Buchprojekten, die er auf der Internationalen Buchmesse in Santiago de Chile vorstellen wird. Außerdem sprachen wir mit dem mexikanischen Schriftsteller und Historiker über das 200-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit von Spanien (El Bicentenario), seinen neuen Abenteuerroman El regreso de los tigres de la Malasia (1) und die Neuauflage seiner Che-Biographie Ernesto Guevara (2). Als hätte er nicht schon genug Arbeit, bereitet Paco Taibo momentan noch die Gesammelten Werke von Belascuarán Shayne vor. Der Band wird auch einen mit Sub Marcos „vierhändig“ geschriebenen Roman enthalten, während dessen Entstehen Paco Taibo einen Briefwechsel mit dem Subcomandante der EZLN führte. Das Interview führte Mario Casasús.

Paco, du bist zur Buchmesse in Santiago de Chile eingeladen. Wie viele Bücher wirst du auf deiner Südamerika-Tour dabeihaben?

Ich werde El regreso de los tigres de la Malasia mitnehmen, und im November wird der Sammelband Belascuarán Shayne fertig sein. Er enthält auch den Roman Muertos incómodos (3), den ich zusammen mit Subcomandante Marcos geschrieben habe. Bald wird auch in ganz Lateinamerika die überarbeitete und erweiterte Neuauflage von Ernesto Guevara, también conocido como el Che erscheinen. Ich habe den gesamten Text durchgesehen, um 100 Seiten ergänzt und 400 Fotografien hinzugefügt.

Im Dezember 2007 haben wir über die in El Cuaderno verde del Che (4) enthaltenen Gedichte von Neruda, Vallejo, Guillén und León Felipe gesprochen. Welche Überraschungen erwarten uns in der neu aufgelegten Biographie von Ernesto Guevara?

Ich habe einige unbekannte Sachen entdeckt, zum Beispiel eine Erzählung, die Che in Afrika geschrieben hatte oder neue Dokumente, die gerade in Kuba öffentlich gemacht wurden. Damit habe ich mich an der Debatte um Ches Rolle als Ankläger im Festungsgefängnis La Cabaña beteiligt, die ihm bei der extremen Rechten den Beinamen El Carnicero (dt.: der Schlachter) eingebracht hat. Ich habe die Fakten zusammengetragen und geprüft, was es mit den Anschuldigungen auf sich hat. Die gesamte Biographie ist reichhaltiger geworden. Ein Geschichtsbuch ist nichts Starres, es ist kein Roman, den man schreibt und abschließt. Ein Geschichtsbuch wird diskutiert, kritisiert und um neue Erkenntnisse bereichert. Ich fühle mich verpflichtet, es regelmäßig zu überarbeiten und es auf Fehler und umstrittene Aspekte zu prüfen. Mit meiner Che-Biographie habe ich zur Polemisierung der Debatte beigetragen, und es hat mich überrascht, auf eine sehr aufgebauschte Version der Ereignisse zu stoßen. Sie geht vor allem auf vier eher „armselige“ und schlecht recherchierte Publikationen von Álvaro Vargas Llosa und drittklassigen Historikern, hauptsächlich Gringos, zurück. Da am Ende der Recherche 500 neue Quellen zusammengekommen sind, umfasst die Neuauflage 100 zusätzliche Seiten. Natürlich werde ich auch die ganze Geschichte um das grüne Notizbuch von Che erzählen. Meine Quelle muss ich jetzt nicht mehr schützen; der bolivianische Offizier, der das Buch von der CIA gestohlen hatte, ist bereits tot und begraben.

Bist du auf den Abenteuerroman zurückgekommen, um der Strenge eines historischen Textes zu entgehen?

Das war wie Urlaub! Nach der Lektüre der mexikanischen Zeitungen, mit 40 Morden am Tag, braucht man frische Luft. Mein Vorhaben war es, einen anti-imperialistischen Roman zu schreiben, der aber im 19. Jahrhundert und von malaysischen Piraten handelt. Dabei werde ich die Helden meiner Kindheit aufgreifen und sie zurückholen. Was ich sagen will, ist: Der Abenteuerroman ist noch am Leben! Denn die Tugenden, von denen wir mit acht oder zehn Jahren gelesen haben, die Ehre, die Brüderlichkeit, der Wert eines Versprechens, die sollten wir den Jugendlichen und Erwachsenen von heute wiederbringen, in dieser schäbigen, korrupten Welt, in der die Bürger der Gewalt des Staatsapparates ausgesetzt sind und der IWF über unser Schicksal entscheidet.

Werden wir die Helden von heute bei ihren gemeinsamen Abenteuern mit denen des 19. Jahrhunderts wiedererkennen?

Es ist ein Cocktail, ich habe einige Figuren bei Emilio Salgari entliehen, aus der Saga von den Tigern von Malaysia. Darüber hinaus habe ich nach Lust und Laune Figuren zusammengesucht, den Dr. Moriarty, das figürliche Böse des Imperialismus, eine Heldin der Pariser Kommune, die sich ins Meer stürzt und von den Tigern von Malaysia nackt und tot gefunden wird. Ich habe die ganze Palette meiner Kindheitsliteratur verwandt und mich an meine Idee vom Wesen eines Abenteuerromans gehalten, und ich habe sie voll und ganz genossen.

Werden auch die Schurken wieder ihr Fett abbekommen? Ich erinnere mich noch daran, wie du Diktator Díaz Ordaz durch den Kakao gezogen hast.

Nun gut, das ist eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert. Die Schurken des neoliberalen Mexiko sind also weit weg.

In dem Historienroman Hidalgo unseres gemeinsamen Freundes Eugenio Aguirre taucht ein gewisser Paco Ignacio Taibo II auf. Ich fand diese Figur fantastisch, weil ich zuvor dein Buch El cura Hidalgo y sus amigos gelesen hatte. Welche Personen hast du in deinem neuen Buch mit Namen eingeflochten?

So etwas geschieht mit einem Augenzwinkern. In meinem Roman taucht auch ein Freund auf, als Maschinist der Mentirosa, dem Schiff der Tiger von Malaysia. Sie kreuzen mit ihrem Segelschiff, das eigentlich ein als Segelschiff getarntes Dampfkanonenboot ist, unter mexikanischer Flagge, denn den Schiffsbrief haben sie von einem korrupten Konsul gekauft, durch den Indischen Ozean und ihr Maschinist ist ein Jesuit aus Portugiesisch-Indien namens Eduardo Monteverde. Ich kann mir dieses Augenzwinkern meinen Freunden gegenüber nicht verkneifen, und sie sich offensichtlich auch nicht.

Was erwartest du dir von den Ereignissen rund um das Bicentenario?

Es wird viel passieren, das gibt gutes Material, denn die Intellektuellen hier sind sehr kritisch. Auf der anderen Seite steht der ganze Flitter und der Mist der offiziellen Feier, das heißt die totale Inhaltslosigkeit, denn diese Leute können sich kein bisschen mit der Unabhängigkeit oder der Revolution identifizieren. Deswegen werden wir am 16. September eine überflüssige Parade und die Einweihungen von Statuen erleben. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft eine Debatte darüber, was uns die Unabhängigkeit gebracht hat und welchen Sinn die Revolution hatte. Es ist ungemein wichtig, dass die Ursprünge und Perspektiven gesellschaftlich diskutiert werden.

Ignacio Taibo: El cura Hidalgo y sus amigos (Bolsilla Zeta Historia)Wie sieht der Beitrag von Paloma Sainz und dir zur Geschichtsdebatte rund um das Bicentenario aus?

Wir organisieren jede Woche einen Buch-Tianguis (5) mit Diskussionsrunden auf der Straße. An jedem Ort verschenken wir ein von uns verlegtes Buch und veranstalten eine Konferenz zur mexikanischen Geschichte. Ich finde, das läuft sehr erfolgreich. Außerdem machen wir Veranstaltungen in Suppenküchen und haben eine Kooperation mit der Sección 9 der Gewerkschaft, in deren Rahmen Diskussionen und Büchermärkte stattfinden. In Coyoacán veranstalten wir Lesungen in Parks, bei denen alte Frauen für Kinder und Jugendliche lesen. Mit Hilfe unseres Verlagsprojektes wurden bereits zehn Bücher publiziert und eine Bücherspende organisiert. Wir haben drei öffentliche Bibliotheken auf die Beine gestellt und planen gerade drei weitere.

Jeder versucht sich mit dem Bicentenario in Verbindung zu bringen, ein Fußballturnier, Miss-Universum-Wahlen, das Happy-Meal von McDonald’s etc. Erfährt der Begriff eine Übersättigung?

Interessanterweise gibt es ein starkes Interesse an den Hintergründen. Während das Fernsehen nur einen oberflächlichen Medienrummel veranstaltet, mit der immer gleichen Jubiläums-Leier, fragen die Menschen nach der Essenz. Das ermöglicht eine Diskussion. Wenn man auf Straßen und Plätzen von dem mexikanischen Revolutionär Miguel Hidalgo spricht, schaffen sich die Leute Vergleichssysteme: Warum der Unabhängigkeitskämpfer Morelos und nicht Iturbide? Was bedeutet Unabhängigkeit? Warum war die Abschaffung der Sklaverei für Hidalgo fundamental? Dadurch antworten sie auf die Debatte der reaktionären Historiker, die Hidalgo zum bloßen Unruhestifter herabwürdigen. Andererseits sagen die Leute: „Wir sind die Unruhestifter, die verdammten Aristokratenärsche kapieren gar nichts.“ Die diskursiven Differenzen der Vergangenheit braucht man auch in der Gegenwart.

Du organisierst jedes Jahr die Semana Negra in Guijón. Interessiert man sich in Spanien für das Bicentenario?

In Spanien gibt es diese Debatte nicht, es herrschen andere Prioritäten. Glücklicherweise können wir durch die Semana Negra das Interesse an lateinamerikanischer Literatur wiederbeleben, denn nach dem Boom vor einigen Jahren ist die neue lateinamerikanische Literatur dort in der Versenkung verschwunden. Während des Festivals lesen und diskutieren wir Historien- und Kriminalromane. Voriges Jahr gab es einen argentinisch-mexikanischen Schwerpunkt, und dieses Jahr wird er kolumbianisch-mexikanisch sein.

Wirst du dir die verschiedenen Gedenkfeiern anlässlich des Bicentenario vor Ort anschauen?

Ich werde den Rest des Jahres mit meinem Abenteuerroman in Argentinien, Kolumbien und Chile unterwegs sein, und wahrscheinlich werde ich auch die Möglichkeit haben, noch weitere Länder zu bereisen und der Debatte nachzuspüren. Bei der Semana Negra habe ich ein wundervolles Buch eines spanischen Journalisten gelesen, Los Sueños de un Libertador von Fermín Goñi über Francisco de Miranda. Zu meiner großen Überraschung wusste ich überhaupt nichts über ihn, außer dass er ein Vorreiter der Revolution in Lateinamerika war, aber in Konflikt zu Simón Bolívar stand. Die letzten Monate habe ich genutzt, um mich mehr über die Unabhängigkeit Lateinamerikas zu belesen und einen umfassenderen Eindruck zu bekommen. Ich war sehr der mexikanischen Geschichte verhangen.

Ebenso bist du auch der kubanischen Geschichte verhangen. Warum hast du dem Instituto Cubano del Libro das Copyright an deinen Büchern überlassen?

Mein Vertrag mit Planeta gilt für Lateinamerika mit Ausnahme von Kuba, sodass meine Bücher dort keinen Beschränkungen unterliegen. Deshalb habe ich eine Abmachung mit dem Instituto Cubano del Libro, ich schenke ihnen meine Autorenrechte, und sie schenken mir bei der Buchmesse alle Bücher, die ich möchte. Bei der nächsten Internationalen Buchmesse in Havanna werde ich La Bicicleta de Leonardo (6) vorstellen, denn El retorno de los tigres de la Malasia wurde in Kuba noch nicht gedruckt.

Paco, du hast bei History Channel einen Trend ins Laufen gebracht. Nach dem Dokumentarfilm über Francisco Villa gab es reihenweise in Lateinamerika produzierte Formate. Hast du einen neuen Vertrag mit History Channel unterschrieben?

Ich hatte mit History einen Vertrag über einen Dokumentarfilm pro Jahr. Momentan drehen wir La batalla del Álamo, eher nicht Hollywood-tauglich (Gelächter). Sie haben mich gefragt, ob wir den Vertrag nicht auf fünf Produktionen pro Jahr ändern können. Aber wir werden das im Laufe der jetzigen Produktion besprechen, und dann werden wir sehen, ob es mehr werden. Eigentlich versinke ich jetzt schon in Arbeit. Wann komme ich denn mal zum Schreiben? Zwischen Touren, Präsentationen und dem ganzen Rummel! Ich sage immer, Schriftsteller sind Kameraden, die schreiben, und keine Typen, die auf Cocktailpartys gehen. Mario, glaubst du denn wirklich, dieser Rhythmus ist was für anständige Leute? (Gelächter)

Letzte Frage: Ernesto Guevara, Francisco Villa und Tony Guiteras. Von wem würdest du gern noch eine Biographie schreiben?

Ganz klar, von Rodolfo Walsh.

Und von Subcomandante Marcos?

Ich habe den Briefwechsel mit Sub Marcos, aber er soll erst nach meinem Tod publiziert werden. Wir haben einige Briefe gewechselt, während wir an Muertos incómodos geschrieben haben. Jedes Mal, wenn der Sub mein Kapitel in La Jornada gelesen hatte, versuchte er, noch mehr Nebenfiguren einzuführen. Ich habe seine Argumente auseinander genommen, aber er hat die Romane mit Belascuarán Shayne besser zitiert als ich. (Gelächter)

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Originalbeitrag aus El Clarín de Chile vom 15. September 2010. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitung.

Übersetzung aus dem Spanischen: René Steffen

Redaktionelle Anmerkungen:
(1) El regreso de los tigres de la Malasia (Editorial Planeta, 2010)
(2) Ernesto Guevara, también conocido como el Che (Planeta, 1996); Deutsche Ausgabe: Che: die Biographie des Ernesto Guevara (Edition Nautilus, 1997), Übersetzung: Horst Rosenberger und Andreas Löhrer
(3) Muertos incómodos (Joaquín Mortiz, 2004); Deutsche Ausgabe: Unbequeme Tote (Assoziation A, 2005), Übersetzung: Miriam Lang
(4) El Cuaderno verde del Che (Seix Barral)
(5) Tianguis: Bezeichnung für einen traditionellen Markt in Mittelamerika
(6) La Bicicleta de Leonardo (Joaquín Mortiz, 1993); Deutsche Ausgabe: Das Fahrrad des Leonardo da Vinci (Eisbär, 1997), Übersetzung: Jürgen Alberts, Christian Cortés, Gebhard Krämer

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