Die sowjetische Lateinamerika-Politik hat nie zu den „Modethemen“ ernsthafter Analysen der international politics oder der Lateinamerikanistik gehört. Klischees, etwa das der allgegenwärtigen „Hand Moskaus“, waren hingegen stets griffbereit. Allein manch treuer Freund der Sowjetunion in Lateinamerika hätte diese „Hand“ wohl oft allzu gern ergriffen, doch nur selten „streckte“ sie sich ihm entgegen. Und das vielzitierte Gleichgewicht der Supermächte – in Lateinamerika, dem „Hinterhof„ der USA, konnte man es beim besten Willen nicht finden. So ist es denn auch klar, daß US-amerikanische Autoren, wollten sie nicht der blinden Feindseligkeit gegenüber dem imaginären „Reich des Bösen“ frönen, ihre Ernsthaftigkeit lieber mit dem Umgehen dieses Themas unter Beweis stellten. Die sowjetische Literatur zu diesem Problemkreis ist noch knapper bemessen bzw. selbst im Rahmen der für sowjetische „Schreibart“ typischen „grobkörnigen“ Diktion außerordentlich plakativ und bestenfalls deskriptiv. Und natürlich, jede sowjetische Ausstellung, jeder Besuch eines sowjetischen Politikers (zumeist ohnehin niederer Chargen) auf dem Subkontinent, jede Veröffentlichung eines sowjetischen Romanes dort selbst – all dies war selbstverständlich immer ein Zeichen für die „enorme“ Ausstrahlungs – oder Anziehungskraft des sowjetischen Sozialismus in der westlichen Welt.
Doch dort, wo die sowjetischen Ideen tatsächlich Widerhall fanden, ergaben sich für die Sowjetunion „ surprising gifts“, die im Kreml „ mixed emotions “ hervorriefen – so Sergo Mikoyan, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift Latinskaja Amerika, im Rückblick. Die sich auf dieser Grundlage entwickelnden zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen den neuen, revolutionären Regierungen und dem „hermano mayor“ waren eben alles andere als unkompliziert, was natürlich nicht oder nur verklausuliert in die sowjetischen Manuale Eingang fand. Sucht man in dieser analytischen „Wüste“ nun nach dem Jahr 1968, wird man logischerweise noch weniger fündig. Aus den nur verstreut auffindbaren Bruchstücken läßt sich höchstens ein Puzzle zusammensetzen, welches am Ende aber die erstaunliche Erkenntnis gestattet, daß der vom illusionslosen Leser möglicherweise erwartete dröge Gleichlauf der sowjetisch-lateinamerikanischen Beziehungen durchaus vom „Schaltjahr“ 1968 (siehe Einleitungsartikel von Peter Gärtner)unterbrochen wurde. Doch ehe wir zur „spannenden“ Zäsur kommen, sei uns der übliche, aber nötige weltpolitische „Draufblick“ gestattet.
Lateinamerika in der sowjetischen Außenpolitik
Lateinamerika besaß für die Sowjetunion seit jeher eine äußerst geringe außenpolitische und strategische Bedeutung und nie eine Priorität. Der Subkontinent galt der Sowjetunion als „ the worid least important“ (Albrighi) und wurde außenpolitisch ignoriert bzw. ausschließlich pragmatisch betrachtet. National Security Interests der Sowjetunion sind – im völligen Gegensatz zu denen der USA – i.d.R. nicht über Lateinamerika definiert worden. Mit der Ausnahme der Installation von Mittelstreckenraketen auf Kuba und der 1962 nachfolgenden Raketenkrise hat die Sowjetunion die Zugehörigkeit Lateinamerikas zur westlichen Hemisphäre und zum primären außenpolitischen Interessenbereich der USA im Sinne der Monroe-Doktrin auch nie in Frage gestellt. Alternierten hinsichtlich Lateinamerika im US-amerikanischen Fall die kompromißlose Verfechtung von National Security Interests mit Versuchen demokratischer „Missionierung“, so ging im sowjetischen Fall ideologische „Missionierung“ mit außenpolitischem Pragmatismus einher. Die Strategie der Sowjetunion beruhte in der Regel auf dem Bestreben, die USA in Lateinamerika zu isolieren, auf deren Fehler zu warten, jedoch – mit der o.g. Ausnahme – ohne deren National-Security-Toleranzgrenze zu überschreiten und eine militärische Konfrontation zu riskieren. Dies wäre schon aus geostrategischen Gründen ausgesprochen unklug gewesen.
Innerhalb des Ost-West-Konfliktes spielte Lateinamerika folglich eine untergeordnete Rolle. Es wäre also grundsätzlich falsch, Lateinamerika als Prüfstein für den Konflikt zwischen den Supermächten anzusehen, wiewohl es durchaus auch dessen Schauplatz war. Für die nichtrevolutionären lateinamerikanischen Regierungen ihrerseits besaß das Verhältnis zur Sowjetunion bestenfalls eine „Ventilfunktion“, die es insbesondere in Krisenzeiten erlaubte, auf die traditionellen Partner (USA oder auch Großbritannien) einen gewissen „erpresserischen“ Druck auszuüben.
Selbst als mit Nikita Chrustschev das Interesse der Sowjetunion an der Dritten Welt stieg, weil letztere nunmehr als die Hauptarena für die Austragung des Ost-West-Konfliktes angesehen wurde, nahm Lateinamerika in der Reihenfolge der Prioritäten innerhalb des Trikonts nach Asien, dem Mittleren Osten und Afrika lediglich den letzten Platz ein, denn Positionsgewinne im Sinne der Durchsetzung sowjetischer Interessen, wie sie sich aus Dekolonisation und „nichtkapitalistischen“ Hoffnungen im sonstigen Trikont ergaben, waren in Lateinamerika, dessen Wirtschaftsstruktur von den sowjetischen Lateinamerikanisten dem „abhängigen Kapitalismus“ zugeordnet wurden, nicht zu erwarten. So wurde dann auch die kubanische Revolution zur – von der Sowjetunion theoretisch und praktisch letztlich nie „bewältigten“ – Überraschung schlechthin. Kuba wiederum zeigte sich auch in den besten „Beziehungszeiten“ enttäuscht angesichts der nur begrenzten ökonomischen Unterstützung durch die Sowjetunion. Der kubanische Fall einschließlich der für den Weltfrieden über alle Maßen begrüßenswerten Lösung der Raketenkrise durch den Kompromiß zwischen Chrustschev und Kennedy war es schließlich auch insonderheit, wo jene Ambivalenz sowjetischer Lateinamerika-Politik in außerordentlicher Weise außenpolitisch relevant wurde, die im Dilemma von Solidarität mit antiimperialistischen/sozialistischen/kommunistischen Kräften einerseits und einer pragmatischen, auf Risikovermeidung konzentrierten Politik gegenüber dem „offiziellen“ Lateinamerika andererseits bestand.
War die Sowjetunion von jeher dem Dilemma ausgesetzt, kommunistische Anti-Regierungskräfte in Ländern zu unterstützen, zu deren Regierungen sie zur gleichen Zeit gute diplomatische Beziehungen anstrebte, so könnte man eigentlich meinen, daß für Kuba ab 1959 dieses Problem verschwunden wäre, doch weit gefehlt: Jene Balance, die zuvor mit der gleichgewichtigen Aufmerksamkeit jeweils für Regierungs- und Anti-Regierungs-Kräfte versucht wurde, war nun auch – auf neuartige Weise – im kubanischen Fall wieder gefordert, wo sich ehemalige Anti-Regierungskräfte als Regierung institutionalisiert hatten und nun ihrerseits zum Adressaten der Dichotomie von „linker“ Solidarität und außenpolitischem Pragmatismus wurden.
Die „Schlüsselbeziehungen“ 1968
Obgleich die Konstante einer insgesamt geringen Bedeutung Lateinamerikas in der sowjetischen Außenpolitik auch im Jahr 1968 nicht völlig durchbrochen wurde, so markiert dieses weltpolitisch signifikante und geschichtsträchtige Jahr jedoch durchaus eine Zäsur innerhalb der sowjetisch-lateinamerikanischen Beziehungen. Das Besondere und z.T. Paradoxe dieser Zäsur besteht einerseits darin, daß die Sowjetunion gerade zur Zeit ihrer für ihre internationale Anerkennung verheerenden militärischen Einmischung in den „Prager Frühling“ den diplomatischen Durchbruch in Lateinamerika schaffte, da sie diplomatische Beziehungen mit Kolumbien (1968), Peru (1969), Ecuador (1969), Bolivien (1969), Venezuela, Guayana und Costa Rica (alle1970) knüpfte bzw. wiederherstellte, und sie andererseits in ihrer Lateinamerika-Politik erstmalig die Ambivalenz von „linker“ Verbundenheit und pragmatisch-egoistischer Risikovermeidung vergleichsweise eindeutig zugunsten letzterer auflöste, was sich mit der Brezhnev-Doktrin aufs engste verband. Leonid Brezhnev demonstrierte zwar mehr Interesse an Lateinamerika als seine Amtsvorgänger – er war auch der einzige KPdSU-Generalsekretär, der Lateinamerika besucht hatte -jedoch stets unter der besonders strikten Prämisse, einseitige Kosten für die Sowjetunion zu vermeiden und deshalb auch mit „Freunden“ statt Solidarität eher eine besonders „kostengünstige“ Reziprozität in den Beziehungen anzustreben. Gleichzeitig „fand“ er im Unterschied zu Chrustschev die „Dritte Welt“ auch in den Führungsetagen der nichtrevolutionären Staaten des „Südens“, also dort, wo beispielsweise Kuba in erster Linie „Feinde“ vermutete. Brezhnevs Doktrin implizierte zwar eine Abkühlung bzw. Vermeidung von Beziehungen zu den „militanten“, bewaffneten Linken, jedoch nicht die Aufgabe des antiimperialistischen „Terrains“ in Lateinamerika an sich, denn mit Salvador Allende in Chile und Juan Velasco Alvarado in Peru hatten zu diesem Zeitpunkt in zwei strategisch wichtigen lateinamerikanischen Staaten solche Politiker die Präsidentenfunktion inne, die in der sowjetischen Perzeption den Anschein erweckten, daß sich mit ihnen „Risikovermeidung“ und „Solidarität“ verbinden ließe. Alles in allem, im Kontext des Jahres 1968 lassen sich für das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und Lateinamerika hypothetisch die drei folgenden Tendenzen postulieren: Erstens, die Sowjetunion sah sich mit einer zweifachen Umorientierung kubanisch-sowjetischer Außenpolitik von freundschaftlicher „Wärme“ zu einer „Abkühlung“ und dann zu einer erneuten „Erwärmung“ innerhalb nur weniger Monate konfrontiert. Zweitens, in der sowjetischen Lateinamerika-Politik setzte sich eine Tendenz zur Mißachtung bzw. Vermeidung von Verpflichtungen gegenüber der bewaffneten Linken, also der Guerrilla, durch. Und drittens, die Sowjetunion lancierte in dieser Zeit eine erfolgreiche diplomatische Offensive auf dem Subkontinent bei einer Schwerpunktsetzung zugunsten der radikal-reformerischen Regierungen in Peru und Chile, und zwar in dieser zeitlichen und inhaltlichen Reihenfolge.
a) Kuba
Daß die Lösung der Raketenkrise zwischen Kennedy und Chrustschev ohne die Konsultation der kubanischen Führung ausgehandelt worden war, hat Kuba stets übelgenommen. Seither hatten sich die Beziehungen zwischen Moskau und Havanna stetig verschlechtert, und sie erreichten 1967/68 ihren Tiefpunkt. Der Sowjetunion war mit der Raketenkrise endgültig klargeworden, daß bei einem eventuellen US-amerikanischen Angriff Kuba von der Sowjetunion nicht zu verteidigen sein würde; Kuba „konnte“ folglich kein militärischer Alliierter werden und „mußte“ daher auch dem Warschauer Vertrag fernbleiben. Brezhnevs Doktrin der friedlichen Koexistenz widersprach klar den in dieser Zeit prädominierenden kubanischen Ambitionen, vornehmlich die bewaffnete und nichtorthodoxe (d.h. die Moskau-kritische) Linke zu unterstützen. Ernesto Che Guevara, der in dieser Zeit von neuem sein Schicksal gerade mit diesen Kräften verbunden hatte, entzog sich mit seinem Weggang von Kuba und dem Ausscheiden aus seinen kubanischen Staatsämtern 1965 möglichen späteren Gewissenskonflikten – während seines Aufenthaltes in Prag erlebte er den herannahenden „Frühling“ und nicht dessen Niederschlagung.
Auf der „Tricontinental-Konferenz“ 1966 und der Konferenz der OLAS (Organizacion Latinoamericana de Solidaridad) 1967 hatte Fidel Castro die Guerrilla „als einzige Lösung für Lateinamerika“ bezeichnet, die Sowjetunion für deren diplomatische Beziehungen mit „reaktionären“ lateinamerikanischen Regierungen kritisiert, und im Kontext des sino-sowjetischen Konfliktes begonnen, mit China zu kokettieren. China jedoch verhielt sich gegenüber Kuba reserviert und kritisierte sogar den Che. Am Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien 1968 in Budapest, wo die Par-teien auf eine anti-chinesische Linie eingeschworen werden sollten, nahm Kuba nicht teil, nachdem es auch schon zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution statt Präsident Dórticos nur den Gesundheitsminister Ventura nach Moskau entsandt hatte. Kubas Bemühungen, mit Hilfe der OLAS Havanna zum Headquarter der lateinamerikanischen Guerrilla zu machen, konnte Moskau, das sich als das Zentrum der weltrevolutionären Bewegung verstand, natürlich nicht gefallen, zumal ja die meisten Guerrillagruppierungen aus Abspaltungen von den kommunistischen Bruderparteien entstanden waren (Guatemala, Venezuela, Kolumbien, El Salvador u.a.) und nach leninistischer Parteiauffassung als „gefährliche“ Dissidenten gesehen werden „mußten“. Mehr noch, für Moskau bedeuteten die kommunistischen Parteien in Lateinamerika immer, „einen Fuß in der Tür“ zur westlichen Hemisphäre zu haben, der natürlich erst recht nicht von „Nicht-Feinden“ weggestoßen werden sollte. Im Februar 1968 schloß die kubanische Parteiführung dann die dem PSP (Partido Socialista Popular) entstammende und daher als Moskautreu angesehene „Mikrofraktion“ unter Anibal Escalante, der Anfang der 60er Jahre auch einige Zeit in der Sowjetunion gelebt hatte, aus der Partei aus und verhaftete deren Hauptprotagonisten. Abgesehen von diesem Affront ergingen von den Brüdern Castro auch explizit antisowjetische Statements. Die Sowjetunion reagierte auf all dies u.a. mit einer beträchtlichen Kürzung ihrer Öllieferungen.
Jedoch nur wenige Monate später, am 23. August 1968, begrüßte Castro in einer Fernsehansprache den Moskauer Einmarsch in Prag als „bittere Notwendigkeit“. (Zur mexikanischen Studentenkrise und zum „französischen Mai“ hatte sich Kuba damals nicht geäußert.) Allerdings besaß Castros Statement insofern einen kritischen Unterton, als darin auch Zweifel bekundet wurden, obwohl die Sowjetunion „im Fall der Fälle“ in derselben Manier wie der Tschechoslowakei auch Kuba, Nordkorea und Nordvietnam „zu Hilfe eilen“ würde. Paradoxerweise war es also gerade die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, die die Beziehungen zwischen Moskau und Havanna wieder „erwärmte“. Das Jahr 1968 ist demnach als „ watershed“ (Leiken) in den Beziehungen zwischen Kuba und der Sowjetunion zu betrachten. Bereits im Juni 1969 meinte Carlos Rafael Rodriguez schließlich, Kuba würde „unverrückbar an der Seite der Sowjetunion stehen“. Ohne Zweifel war es – neben den extremen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kubas -auch das Scheitern von Chés Guerrilla-Projekt in Bolivien im Oktober 1967, das, weil es den bewaffneten Kampf und die Guerrilla zu „delegitimieren“ schien, eine Wiederannäherung Kubas an die traditionellen kommunistischen Parteien Lateinamerikas und natürlich auch an die KPdSU erleichterte.
b) Peru
Die Annäherung der Positionen Kubas und der Sowjetunion zeigte sich auch in einer ähnlich positiven Einschätzung der peruanischen Militärregierung unter Velasco Alvarado (1968 – 1975). Zwischen der Sowjetunion und Peru hatte bis 1969 kein diplomatischer Kontakt bestanden; Peru hatte nicht einmal – wie es viele andere lateinamerikanische Staaten taten – die Sowjetunion nach dem II. Weltkrieg anerkannt. 1969 wurden nun „mit einem Schlag“ der Status quo der zwischenstaatlichen Beziehungen verändert: Ein Botschafteraustausch fand statt (der erste peruanische Botschafter in Moskau war übrigens der spätere UN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar), und die Sowjetunion konnte in Lima sogar das nach der US-Botschaft größte Botschaftsgebäude ihr eigen nennen. Peru wurde für die Sowjetunion -nach Kuba, Argentinien und Brasilien – der in Lateinamerika wichtigste Handelspartner. Was waren die Gründe für diesen Sinneswandel, der zwischen beiden Ländern eine im lateinamerikanischen Maßstab herausgehobene Beziehung hervorbrachte, welche zudem in den 70er Jahren die – neben Kuba – einzige mit einem Land in der westlichen Hemisphäre werden sollte, die auch Militärhilfe einschloß?
Die Affinität der Sowjetunion zur Militärregierung in Peru entsprang weniger einer ideologischen „Seelenverwandtschaft“, wofür auch die anfängliche Reserviertheit der sowjetischen Regierung gegenüber der Militärregierung von Velasco Alvarado sprach, sondern vielmehr dem allmählich aufkommenden nüchternen Kalkül eines Zusammentreffens mehrerer günstiger Faktoren.
Die nationalreformistischen Militärs unter General Velasco Alvarado, die ein Militärregime errichtet hatten, verbanden eine „antiimperialistische“ (darunter „antiyankeeistische“) Position mit einer insgesamt „vorsichtig“ umgesetzten antikommunistischen Attitüde. Obgleich Parteien von der Militärregierung verboten waren, wurde das Wirken der Kommunistischen Partei toleriert. Nur war die Linke in Peru, die Velasco Alvarado ihrerseits bedingt unterstützte, ohnehin schwach, so daß die Sowjetunion in dieser Hinsicht keine Rücksichten zu nehmen hatte und Velasco Alvarado keine Furcht vor einer sowjetischen Penetration haben mußte. Der reformerische Antiimperialismus dieser peruanischen Regierung diente der Sowjetunion zum einen als augenscheinlicher Beweis für eine – „bessere“ – Alternative zur bewaffneten „Linken“, zum anderen war „er“ vorsichtig genug, um nicht allzu große Ängste in den USA auszulösen, was wiederum exzellent in die sowjetische Strategie der Risikovermeidung gegenüber der anderen Supermacht paßte, wobei sich die Sowjetunion ihrerseits -sogar militärisch – nun selbst als Supermacht in der westlichen Hemisphäre präsentieren konnte. Schließlich unterstützte sie Peru in dessen Streit mit den USA um die 200-Meilen-Fischfang-Zone; zum Lohn durfte „die Sowjetunion“ später dort fischen; und sowjetische Fischer konnten peruanische Hafendienste in Anspruch nehmen.
Die sowjetische Militärhilfe für Peru nahm indes erst 1973 ihren Anfang, als Washington sein Waffenembargo mit dem Stop der Lieferung von Militärflugzeugen begonnen hatte und Lima sich angesichts dieses „Verrats“ nach Alternativen umsehen mußte. Als dann auch Frankreich ausfiel, weil Washington den Kauf von Mirages verbot, waren sowjetische Antonov-Flugzeuge, MI-8- und MI-24-Hubschrauber, SU-22-Sukhoi-Bom-ber, aber auch T-55-Panzer und Artillerie zuzüglich der nötigen Militärberater in Peru willkommen. Die Sowjetunion ihrerseits konnte – nach dem Pinochet-Putsch in Chile – ihre Mittel „umverteilen“, zumal sich Peru von der Militärdiktatur im Nachbarland Chile nicht zu Unrecht bedroht sah. Chile wiederum, aber auch Ecuador und Bolivien, bekamen angesichts der imposanten militärischen Aufholjagd Perus Angst, daß der Nachbar bestrebt sein könnte, die einst im Pazifikkrieg verlorenen Gebiete zurückzugewinnen.
Der Höhepunkt der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Peru wurde etwa 1975 überschritten, doch das „Beziehungsintermezzo“ hatte auch Langzeitwirkungen und das nicht nur wegen der langwährenden Notwendigkeit militärischer Ersatzteillieferungen.
Die Sowjetunion hatte Peru sehr günstige Kreditbedingungen und sogar Meistbegünstigung eingeräumt. Nach Kuba und Nikaragua war und ist Peru gegenüber der Sowjetunion das am meisten verschuldete lateinamerikanische Land, das seine Schulden bis zum heutigen Tag nicht hat begleichen können. Die etwa zur gleichen Zeit wie die Velasco-Alvarado-Regierung amtierenden militärreformistischen Regime in Ecuador, Bolivien und Panama wurden von der Sowjetunion zwar ebenso mit rhetorischem „Wohlwollen“ bedacht, ohne daß sich jedoch mit ihnen eine solch intensive Kooperation wie mit Peru ergeben hätte. Die Sowjetunion, die immer – auch bzw. gerade zu Zeiten eines revolutionären „Rückflusses“ – auf der Suche nach Beweisen für ein Fortschreiten des weltrevolutionären Prozesses war, „paßte“ selbst diese reformerischen Militärregierungen generös in ihre „weltrevolutionäre“ Argumentationslinie „ein“: „In den 50er und 60er Jahren“, so B. I. Kowal, „stand die Frage in einer einer ganzen Gruppe von Ländern so: entweder eine militärisch-nationalistische Revolution oder gar keine Revolution“ (Übersetzung d. Verf. aus dem Russischen).
c) Chile
Diplomatische Beziehungen mit Chile hatte die Sowjetunion schon seit 1944 und dann wieder ab 1964. Unter der Regierung der Unidad Popular von 1970 bis 1973 waren die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Chile dann -im Unterschied zu Peru – tatsächlich von einer engen, sozialistischen, „Seelenverwandtschaft“ geprägt, sie blieben in bezug auf ihre Intensität und die von sowjetischer Seite akzeptierten „Investitionskosten“ aber immer „low key relations“. Dies mag u.a. auch daran gelegen haben, daß die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA gerade einen Entspannungshöhepunkt erreicht hatten, den Brezhnev nicht riskieren wollte: Nixon war im Rahmen seiner Politik der „ Detente “ 1972 zum Regierungsbesuch in Moskau gewesen, und Brezhnev erwiderte diesen 1973, kurz vor dem Militärputsch in Chile. Die sozialistische „Seelenverwandtschaft“ war nur anfangs und zwar insofern ein wenig getrübt, als die chilenische Kommunistische Bruderpartei innerhalb der Unidad Popular nur Koalitionspartner der Sozialistischen Partei und nicht Führungskraft war und auch nur drei Minister in der Regierung der Unidad Popular stellte.
Setzt man sowohl das Vorhandensein „revolutionärer Hoffnung“ als auch den Wunsch der „Risikovermeidung“ gegenüber den USA als Prämisse, so war die „friedliche Revolution“ unter Allende eine für die Sowjetunion und ihre Doktrin der friedlichen Koexistenz geradezu ideale Kombination. Chile avancierte nachgerade zum „Modell“ einer Revolution ohne Konfrontation mit den USA. Die Kombination günstiger Faktoren traf auch auf das Dreiecks-Verhältnis Sowjetunion – Kuba – Chile zu, denn einerseits hatte Kuba nun mit Chile einen Verbündeten gewonnen, der sich den OAS-Sanktionen gegenüber Kuba widersetzte, indem er es diplomatisch anerkannte, andererseits war der „friedliche Weg“ der chilenischen Revolution ein für die sowjetische Argumentation wichtiges Gegengewicht gegen die von Kuba betriebene Favorisierung des bewaffneten Kampfes.
Da der Sieg Allendes in den Präsidentschaftswahlen sowohl von „Havanna“ als auch von „Moskau“ unabhängig errungen wurde, besaß das Chile der Unidad Popular als „historisches Korrektiv“ zudem die Potenz, als ausgleichender „Puffer“ zwischen Kuba und der Sowjetunion zu dienen, und es führte gleichzeitig das gängige Vorurteil der „Hand“ Moskaus oder Havannas in den lateinamerikanischen „Gefahrenherden“ ad absurdum. Das „chilenische Argument“ hatte jedoch auch zur Folge, daß damit v.a. die zur gleichen Zeit insbesondere in Mittelamerika an Kraft gewinnende Guerrilla von der Sowjetunion noch stärker als früher abgewertet werden konnte. Daß Mittelamerika für die Sowjetunion in dieser Zeit höchst uninteressant war, ist schon daran zu sehen, daß es bis zu den 70er Jahren im ZK der KPdSU keinen Verantwortlichen für diese Region gab. An den Ursachen für das Scheitern des „chilenischen Weges“ sollten sich jedoch dann die „Geister“ unter den sowjetischen Lateinamerikanisten scheiden, wobei indes zumindest vor dem Sieg der nikaraguanischen Revolution jene unter ihnen die Mehrheit bildeten, die in der Guerrilla nur „linke Abenteurer“ sahen.
Brezhnevs Ambition der Kostenreduktion gerade in den Beziehungen zu den besonders freundschaftlich verbundenen Staaten, die er mit dem Ziel verfolgte, einen nach Kuba weiteren „ expensive client state “ (Blasier) zu vermeiden, zeigte sich – gerade auch im Vergleich mit Peru -im Fall Chile unter Allende, das von ihm rhetorisch stark und praktisch schwach unterstützt wurde, besonders kraß. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Allendes Chile und der Sowjetunion waren insgesamt nur gering dimensioniert. Dabei besaß die Sowjetunion gegenüber Chile in dieser Zeit gleichwohl einen Handelsbilanzüberschuß. Die Kredite an die Allende- Regierung überstiegen den Rahmen der mit dessen Amtsvorgänger Eduardo Frei geschlossenen Vereinbarungen nicht. Gewährte die Sowjetunion Chile zwischen 1970 und 1973 einen Kredit von 350 Millionen Dollar, so fiel beispielsweise der zur gleichen Zeit an das peronistische Argentinien eingeräumte Kredit mit 600 Millionen Dollar deutlich höher aus.
Die Wirtschaften Chiles und der Sowjetunion erwiesen sich zudem als nur wenig kompatibel: Beide Länder waren auf Weizenimporte angewiesen, und die Sowjetunion konnte sich mit Kupfer, Chiles klassischem Exportprodukt, selbst versorgen. Sie schickte allerdings Spezialisten nach Chile, die bei der Umstrukturierung der nationalisierten Kupferminen halfen. Der nach außen hin sichtbarste Beweis einer wirtschaftlichen Kooperation war hingegen die sowjetische Hilfe beim Wohnungsbau. Der Sturz der Allende-Regierung durch den blutigen Pinochet-Putsch rief die uneingeschränkte Empörung der Sowjetunion und -anders als im Falle Rumäniens und Chinas – auch den sofortigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen hervor. Eine direkte Beschuldigung der USA für deren Einmischung in die chilenischen Angelegenheiten vermied die Sowjetunion allerdings zumindest in der ersten Zeit aus Gründen ihrer Strategie der Risikovermeidung.
Fazit
Versucht man ein Fazit zu ziehen, so läßt sich feststellen, daß das Jahr 1968 für die sowjetisch-lateinamerikanischen Beziehungen durchaus eine Zäsur war, wenn auch eine ambivalente im ohnehin ambivalenten „Weltgefüge“ dieser Zeit. Vor allem stellt 1968 besonders deutlich die These vom „soviet proxy network“, oder plastischer ausgedrückt, von der allgegenwärtigen „Hand Moskaus“ in Lateinamerika, in Frage: Noch weniger als sonst waren Kuba und die lateinamerikanische Linke in dieser Phase dafür „fügsam“ genug. Der insbesondere in Mittelamerika aufkommenden bewaffneten Alternative brachte man in Moskau Unbehagen, gar Aversion entgegen.
Nicht nur, daß Bewegungen wie die FSLN ohne langes Zögern als „kleinbürgerlich“ abqualifiziert wurden; im Vergleich zu den andinischen Mililtärreformisten waren dies in den sowjetischen Augen sogar die „schlechteren“ und deshalb zu vernachlässigenden „Kleinbürger“. Allendes Chile wurde für die Sowjetunion zur „bitter-süßen Frucht“: Der friedliche Weg seiner Revolution erwies sich zwar als ideal für eine gerade von Brezhnev als ganz besonders „friedlich“ interpretierte friedliche Koexistenz, sie „kam“ aber so unerwartet, unvollkommen und unsicher „daher“, daß man sich hütete, „zuviel“ in sie zu investieren. Für die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Kuba war das Jahr 1968 ein „doppeltes“ Schaltjahr – weg vom „ hermano mayor“ und wieder zurück zu ihm. Kubas schwieriges außenpolitisches „Schicksal“ eines „Jongleurs“ zwischen den Supermächten war nun vorprogrammiert. Der Blick auf die diplomatische Ebene offenbart eine absurde Parallelität von internationaler Ächtung der Sowjetunion nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ einerseits und einem mit der (Wieder)Herstellung diplomatischer Beziehungen zu immerhin sieben Staaten erzielten diplomatischen Durchbruch in Lateinamerika andererseits, dem wenig später eine „Beziehungsoffensive“ auch gegenüber Argentinien – zu dieser Zeit von einer Militärdiktatur beherrscht – und Mexico folgen sollte. Die Absurdität der Gleichzeitigkeit einer „harten Hand“ gegenüber dem tschechoslowakischen Bruderland und eines „weichen Kurses“ gegenüber dem „imperialistischen“ Gegner USA – in dessen lateinamerikanischem „Hinterhof‘ – legte 1968 das Fundament dafür, daß die sich international durchsetzende Entspannungspolitik – grosso modo bis zu Reagans Counterinsurgency-Politik – auch das jeweilige Verhältnis der Supermächte zu Lateinamerika prädominieren sollte, da dort beide „großmächtige“ Seiten eine dem „ benign neglect“ ähnliche Strategie verfolgten, denn Nixons große Sorge war Vietnam und nicht Lateinamerika, und Brezhnevs Pein blieb Prag.
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Zitierte Literatur:
D. E. Albright: Latin America in Soviet Third World Strategy. The Political Dimension. In: E. Mujal-León: The USSR and Latin America. A Developing Relationship. London/Sydney/Wellington 1989, S. 5.
C. Blaisier: The Giant’s Rival. The USSR and Latin America. Pittsburgh 1983, S. 131.
B. I. Kowal: Revol’ucionny opyt XX veka. Moskau 1987, S. 379.
R. S. Leiken: Soviel Strategy in Latin Amerika. The Washington Papers/93. New York 1982, S. 48.
S. A. Mikoyan: Russia and Latin America in the 1990s. In: A. F. Lowenthal/G. F. Treverton (eds.): Latin America in a New World. Boulder/San Francisco/Oxford 1994, S. 107.