Bis zum 9. April 1948 13.14 Uhr ging in Kolumbien alles seinen gewohnten Gang. Die Leute widmeten sich ihrem Tagewerk und rüsteten womöglich – wie auch die lateinamerikanischen Delegierten der zu diesem Zeitpunkt in Bogota stattfindenden IX. Panamerikanischen Konferenz -gerade zur Mittagspause … Eine Minute später ertönten im Zentrum von Bogota, inmitten des Mittagstrubels der Carrera Septima, jene vier Schüsse, die – wie ein inzwischen geflügeltes Wort sagt – „die kolumbianische Geschichte durch Zwei teilten“: Von nun ab gab es nur noch ein „Davor“ und ein „Danach“…
Drei der vier Schüsse des sechsundzwanzig-jährigen schizophren-paranoiden und sektenbewegten Juan Roa Sierra trafen Jorge Eliecer Gaitán, den jefe unico der Liberalen Partei, der sich zu jener Zeit auf dem Höhepunkt seiner Popularität befand. Und so nahm die Tragödie ihren Lauf… Herbert Braun hat den Schock, den die Schüsse ausgelöst haben, eindrucksvoll beschrieben: „As they looked at one another in silent recognition, the tragedy slowly dawned on them. Shocked and afraid, they whispered the news. „ Mataron a Gaitan… Mataron a Gaitán “ (…) As the black taxi sped away, the news grew louder. „Mataron a Gaitan!“. (…) The marchers were united by their reaction to the attack on Gaitan and their feeling that something had to be done. The political prestige, social class, and party affiliation of the individual became irrelevant. “ [1] Der Ruf „mataron a Gaitan!“ rief die Bogotanos, die den Mörder Gaitáns sofort gelyncht hatten, zur Rebellion. In Windeseile hatten sie sich mit Macheten und Gewehren versehen und drangen bis zum Präsidentenpalast vor. Nie konnte bestätigt werden, daß hinter Roa Sierra andere intellektuelle Urheber standen.
Das Volk war aber nicht nur überzeugt davon, die intellektuellen Mörder Gaitáns im Präsidentenpalast zu finden – es wollte die (Konservative) Regierung stürzen. Etwa 1.000 Tote forderte die „tragische Woche“ in Bogota, die als Bogotázo in die Geschichte einging. Mehr noch, dem Bogotázo folgte die etwa zehnjährige Periode der La Violencia, eine Orgie der Gewalt, die mindestens 200.000 Todesopfer hinterließ und ein Prozent der Bevölkerung ausrottete. Der schließlich später von La Violencia ausgehende „normale“ kolumbianische Gewaltzyklus sollte sich als eine chronisch selbstalimentierende Gewaltspirale entpuppen, die bis heute ihr Ende nicht gefunden hat.
Wer war also dieser Jorge Eliecer Gaitán, dessen Ermordung eine solch einzigartig-grauenvolle Gewaltkette auslöste? Und wo im verworrenen Geflecht kolumbianischer Geschichte und Politik ist dieser Bogotázo zu verorten? Gaitan, aus einfachem Hause stammend, die juristische Karriere zum Anwalt wiewohl glänzend bestehend, ist vielleicht die widersprüchlichste und in Kolumbien gleichzeitig am breitesten verehrte nationale politische Figur. Zunächst, 1933, hatte Gaitán mit der Union Nacional Izquierdista Revolucionaria (UNIR) am linken Rand der Liberalen Partei eine vom Aprismo und Priismo beeinflußte Oppositionskraft gegen die regierenden Liberalen gebildet, die aber 1935 schon wieder von der Bildfläche verschwand, weil Präsident Lopez Pumarejo mit seiner ihm eigenen reformerischen Politik ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen vermochte. Gaitan, der daraufhin als „trojanisches Pferd“ wieder in die Liberale Partei eintrat, sollte dem Präsidenten dann sogar so weit entgegenkommen, daß er dessen Arbeitsminister wurde. Die Kommunisten, bis 1935 noch beeinflußt von der Sozialfaschismusthese der Komintern, sahen Gaitan daher um so mehr als die Kolumbien-spezifische Variante eines „verräterischen“ Sozialdemokraten.
Gaitans politischer Aufstieg und die Herausbildung des massenmobilisierenden gaitanismo vollzogen sich während einer in Lateinamerika nach dem II.Weltkrieg grundsätzlich transitorischen Periode, die in dessen südlichem Teil vielfach von importsubstituierender Industrialisierung, dem Abtritt der „alten“ Oligarchien von der politischen Bühne und dem Aufkommen eines Populismus „von oben“ gekennzeichnet war. In Kolumbien aber war das anders: Hier handelte es sich um einen verzögerten und „verkümmerten“ wirtschaftlichen Industrialisierungs- und Deoligarchisierungsprozeß bei gleichzeitigem Weiterbestehen oligarchischer Herrschaft. Die aufstrebenden – Kapitalisierung aber nur schwach befördernden – industriellen Kräfte fanden ihrerseits kein politisches Pendant und blieben von den traditionellen Parteien, darunter vor allem von der Liberalen Partei, vereinnahmt. Der Übergang von Liberaler zur Konservativer Präsidentschaft (Alberto Lleras Camargo zu Mariano Ospina Perez) im Jahre 1946 konterkarierte obendrein auf der politischen Ebene den zwar „trägen“ und „halbherzigen“, aber durchaus nicht be-deutungslosen ökonomischen Deoligarchisierungsprozeß. In Kolumbien konstituierte sich daher Populismus auch nicht – wie in Brasilien oder Argentinien – „von oben“, sondern „von unten“ – und zwar um den charismatischen Liberalen Gaitan, der mit der Proklamation antrat: „ Yo no soy un hombre, soy un pueblo „. Wenn Gaitan dieser Proklamation noch das Bekenntnis anfügte „ el pueblo es superior a sus dirigentes“, so sei der syllogistische Schluß dem Leser überlassen.
Gaitan, der Populist zwischen sozialistischem und liberalem Gedankengut mit revolutionärem Impetus, reformerischer Strategie und reformistischer Taktik, widerspiegelte mit seinem vordergründig politisch gemeinten anti-oligarchischen Diskurs (seine Gegenüberstellung von „pais real“ und „pais politico “ demonstriert dies par excellence) auf tragische Weise die in Kolumbien traditionell bestehende Kluft zwischen Ökonomischem und Politischem. Die Verselbständigung der politischen Konfliktebene -zutreffend bereits für die Bürgerkriegszeiten des XIX. Jahrhunderts – erlangte nach dem II. Weltkrieg real und im strategischen und taktischen (weniger im theoretischen) Denkmodell Gaitans auch geistig eine herausragende Dimension. Einerseits gelang es Gaitan, die Volksmassen über (Liberale) Parteigrenzen hinaus zusammenzuführen – gegen eine parteiübergreifende, korrupte „Kaste“ der Oligarchie – andererseits blieb auch er immer der Liberalen Partei verhaftet. Bestand zunächst das Dilemma darin, daß Gaitan die Antipode zur Oligarchie auch seiner eigenen Liberalen Partei war, aber nur in bzw. mit dieser Partei die Massen zu mobilisieren vermochte, so wurde es während des Bogotazo zum Paradoxon, daß der Aufruhr der Subalternen parteiübergreifend war und in diesem kurzen, aber historisch einschneidenden Augenblick die Parteienfeindschaft unter den urbanen Subalternen ausgeblendet war. Indes erwies es sich über Gaitans Tod hinaus als verhängnisvoll, daß er nicht imstande gewesen war, die Gewerkschaften für sich zu gewinnen. Und die agrarischen Unterschichten mobilisierte erst sein Tod. Gaitán hatte „unten“ keine alternativen Strukturen gelegt. Die ihm historisch „zukommende“ und subjektiv wohl auch „gewollte“ Rolle eines Populisten „von unten“ hatte Gaitán zu Lebzeiten politisch nicht umsetzen können. So mußte schließlich auch der im Bogotázo kurz bemessene und für Kolumbien seltene historische Augenblick, in dem sich ökonomische, soziale und politische Konfliktzuspitzungen bis zur Überlappung aufeinanderzubewegten, ungenutzt verstreichen.
Wenige so zentrale politische Zäsuren haben derart widerstreitende Einschätzungen gefunden wie der Bogotazo: Sie reichen – hinsichtlich der politischen Tiefe – vom anarchisch-gewalttätigen, alkoholisierten und plündernden „Mob“ (la chusma) bis hin zur (frustrierten) „Revolution“ oder zur „größten“ bzw. „ersten“ sozialen Bewegung in der kolumbianischen oder gar lateinamerikanischen Geschichte. In ihrer geographischen Ausdehnung wird die Rebellion von den einen eben „nur“ als Bogotázo und damit als ein rein hauptstädtisches Ereignis und von den anderen als landesweite Erhebung und Colombianazo bewertet. Manche erkennen ihr nur den Charakter einer spontanen Erhebung zu, andere bezeichnen sie als einen (gescheiterten) (Volks)-Aufstand.
Der Bogotazo war keine Revolution, auch keine gescheiterte, denn ein Machtwechsel war von den mobilisierten Volksmassen weder intendiert, noch politisch (führungsmäßig) vorbereitet worden. Dennoch handelte es sich dabei durchaus um ein politisches Ereignis mit einem transformatorischen Anspruch – der „Absetzung“ der Oligarchie. Die dem von Gaitan vielgenutzten Begriff der „Oligarchie“ innewohnende Unscharfe, ob darunter „nur“ korrupte Parteioligarchien oder aber eine ökonomisch und politisch determinierte „Herrenklasse“ zu verstehen seien, wirft auch ein diffuses Licht auf den transformatorischen Anspruch des Bogotazo. Setzt man voraus, daß die „Absetzung“ der oligarchischen Parteienkaste in Kolumbien eine „Absetzung“ der oligarchischen „Herrenklasse“ letztendlich wohl vorausgesetzt hätte, dann ergibt sich, daß eine Durchsetzung dieses transformatorischen Anspruches zwangsläufig eine revolutionäre Qualität besessen hätte. Insofern handelte es sich beim Bogotazo um eine revolutionäre Alternative – allerdings ohne Siegeschancen. Charles Tilly bezeichnet die Verbindung von nicht erfolgter Machtübertragung bei vollständigem Bruch im Gemeinwesen als Rebellion oder Revolte. [2] Auf den Bogotazo trifft genau diese Verbindung zu. Wäre dieser Ansturm politisch geführt sowie militärisch organisiert worden und hätte er sich auf institutionalisierte Strukturen der Subalternen stützen können, so wäre mit ihm möglicherweise auch diese revolutionäre Alternative durchzusetzen gewesen. So gesehen, erwies sich der Bogotazo ganz zweifellos als eine unerwartete und ungenutzte „Wegegabelung“. Keiner der seriösen Autoren bestreitet, daß der Bogotazo einer politischen Führung entbehrte. Es wäre absurd, die Tatsache, daß der einundzwanzigjährige Fidel Castro, der zur Zeit des Bogotazo in Kolumbiens Hauptstadt zum Lateinamerikanischen Studentenkongreß weilte, als Delegierter auch tatsächlich eine Begegnung mit Gaitan hatte und am Mordtag eine weitere haben sollte, zum Anlaß zu nehmen, den Bogotazo als eine von außen initiierte kommunistische Verschwörung zu bezeichnen. Ebenso absurd ist die von gleicher Seite lancierte Behauptung, der kubanische Kommunistenführer Blas Roca habe den Mord an Gaitán angeordnet. [3] Was die kolumbianischen Kommunisten betrifft, so blieben sie sogar nach eigener Einschätzung nur „ una gota de agua en medio de un mar embravecido “ [4] Es war nicht zuletzt der vorherige unteilbare Führungsanspruch Gaitans selbst gewesen, der keine Vertreter oder Nachfolger bestimmen ließ. Anders verhielt es sich in den ruralen Gebieten, insbesondere dort, wo schon immer eine stärkere Tradition politischer Kohäsion bestanden hatte und wo die UNIR größeren Einfluß besessen hatte. Dort erreichten die revolutionären Junten einen etwas nachhaltigeren Erfolg.
Gaitan war es weder geglückt, sich und die Massen dauerhaft von der Liberalen Partei unter der Flagge einer neuen autonomen „dritten“ Kraft zu lösen, noch die Liberale Partei „nach seinem Bilde“ umzuformen. Er hatte gewissermaßen im „Schützengraben“ an den Nahtstellen von zwei vordergründig politischen Widerspruchslinien -zwischen Volk und Oligarchie einerseits und Liberalen und Konservativen andererseits – gestanden, und er befand sich gleichzeitig an jener Schwelle, da sich die Massen von ihren sozialen Nöten gegen eine von ihnen nicht nur politisch, sondern durchaus auch ökonomisch als feindlich empfundene Oligarchie auf die Straßen getrieben sahen. Dieses Widerspruchsgeflecht kam am 9. April 1948 während des Bogotázo in besonderer Weise zum Tragen. Daß die nueveabrilenos in wilder Wut auch die Geschäfte plünderten und die Stadt verwüsteten, die von der rosca zum schönen Schein in Vorbereitung der IX. Panamerikanischen Konferenz hergerichtet worden waren, mag dafür in besonderer Weise illustrativ sein.
Die Tragik Gaitans und des Bogotázos besteht darin, daß niemand der Protagonisten historisch hätte anders handeln können – weder Gaitan selbst noch die nueveabrilenos. Der Populismus stieß hier an die Grenze seiner Funktionsfähigkeit. Der Bogotázo war ein Reflex dessen, daß das Volk mit dem Mord an Gaitán sich der Möglichkeit beraubt sah, daß der (gaitanistische) Populismus „von unten“ auch zum regierenden Populismus „von oben“ würde. Im Unterschied zu seinen Homologen in Argentinien oder Brasilien hatte der gaitanistische Populismus im Volk keine politischen Strukturen (Gewerkschaften etc.) hinterlassen, sondern nur den Märtyrer selbst. Ohne Gaitan waren die Massen allein geblieben, und sie rannten mit großer Wut – ins Leere. An einem militärisch eigentlich schlecht gesicherten Präsidentenpalast erwartete sie bereits eine politische Elite, die ganz problemlos die für diese Krise dienliche Lösung fand – die Union Nacional, eine Koalitionsregierung von Liberalen und Konservativen, die schon zwei Tage später perfekt wurde. Die Liberale Parteiführung hatte schnell klein beigegeben und war bereitwillig auf ein entsprechendes Angebot des Präsidenten Ospina eingegangen, was sie nicht daran hindern sollte, von nun ab das Porträt Gaitans in ihren Parteilokalen aufzuhängen. Mit dem Bogotazo hatte Kolumbien zum erstenmal am Scheideweg einer dreifachen Wegegabelung gestanden: hin zu einem Populismus „von oben“ mit radikalreformerischen Gehalt im Falle eines Wahlsieges von Gaitan, hin zu einer Militärdiktatur, wenn die Oligarchie aus eigener Kraft nicht zu einer Einheit in Gestalt einer Koalitionsregierung fähig gewesen wäre, oder hin zu einer – wie auch immer gearteten – revolutionären Alternative im Falle eines Sieges des Bogotazo. Zugespitzt gesagt, Kolumbien war erstmals im XX. Jahrhundert objektiv „bereit“, auch „moderne“ Alternativen aufzuzeigen, indes sie auch zu nutzen, erwies sich für das Land als tatsächlich unmöglich.
Die wegen des Bogotazo frustrierte revolutionäre Gewalt verstummte nicht, sondern sie „verfiel“ und erhielt eine unkontrollierbare Eigendynamik; sie „verlor die Gewalt über sich“ und damit jegliche Funktionalität. Die dem Bogotazo nachfolgende La Violencia wurde somit zur violenten Anomie und Anarchie schlechthin – sie entglitt vollkommen politischer Rationalität und Kontrolle, obgleich auch sie dem vagen Wunsch nach Transformation geschuldet war, dessen Erfüllung sie aber so gleichermaßen verhinderte. Diese Orgie der Gewalt bediente sich Rituale des Terrors, deren Perversion kaum Parallelen kennt: das Herausschneiden der Zunge, das Entreißen des Fötus von schwangeren Frauen, die Kreuzigung, die Kastrierung oder das Zerstückeln von Gefangenen, die Verstreuung von Leichen oder das Auftürmen von Leichenbergen. Weniger das Gewehr oder die Pistole, sondern die Machete, das Messer oder die Peitsche waren bevorzugtes und symbolträchtiges Mord- und Folterinstrument. Die Exzesse waren demnach nicht sekundär oder instrumental – La Violencia war der Exzeß schlechthin. Gewalt verselbständigte, veralltäglichte sich und „verdinglichte“ sich so zu einem „Monster“, das zur eigenständigen, „kataklytisch“ funktionierenden „Institution“ avancierte, von deren „Tentakeln“ sich Kolumbien bis heute nicht hat befreien können.
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[1] Während sie einander in stiller Erkenntnis anschauten wurde ihnen langsam das Ausmaß der Tragödie bewußt. Schockiert und furchterfüllt flüsterten sie die Neuigkeit. ,, Mataron a Gaitán…Sie haben Gaitan umgebracht… (…) Während das schwarze Taxi davonraste wurde das Stimmengewirr immer lauter. „Mataron a Gaitán!“. (…) Die Demonstranten wurden geeint durch ihre Reaktion auf den Anschlag auf Gaitán und das Gefühl, daß etwas getan werden mußte. Politisches Prestige, Klasse und Parteizugehörigkeit des Einzelnen wurden irrelevant.
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