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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Giftige Stadt: Medellín, die „Stadt des ewigen Frühlings“, in Trauer

Gabriel García Márquez* | | Artikel drucken
Lesedauer: 22 Minuten

Die Stadt der Blumen, die Stadt des ewigen Frühlings, „das für den Meister Rodrigo Arenas Betancur errichtete Denkmal symbolisiert die Fruchtbarkeit und den Wunsch des Menschen, die Sterne zu erreichen“. Der Reiseführer, welchen ich im Flugzeug auf dem Weg nach Medellin durchblättere, schildert eine Welt, die scheinbar nichts zu tun hat mit dem Dasein, das die kolumbianische Tagespresse zwei Monate vor dem Machtantritt César Gavirias im August 1990 beschreibt. „Medellin spiegelt den traditionellen Schwung seiner Bewohner wider, die fähig sind, auch die widrigsten Umstände noch zu ihrem Vorteil zu verwandeln“, behauptet der Reiseführer weiter. Das ist richtig. Dennoch wurden im Zeitraum von 1980 bis 1990 23.329 Personen umgebracht. Das Tempo erhöhte sich noch während der ersten 45 Tage des Jahres 1991, in denen 1.081 Morde geschahen. „Die Branche, die am meisten prosperiert, sind die Bestattungsinstitute“, schrieb ein aus der Stadt Antioquia stammender Autor (Mario Arango Jaramillo).

Gerade habe ich mich in einem Zimmer des Hotels Nutibara im Zentrum der Stadt eingerichtet, als eine Explosion die Fensterscheiben zum Beben bringt. Aus allen Fenstern schauen die Leute zu. Ein Bombe, die vor einem Polizeirevier abgelegt wurde, tötet 14 Polizisten und verletzt weitere 33 Personen schwer, die sich in der Nähe befanden. Später sagt mir einer meiner Vertrauten, daß vor dem Eingang des Hotels, desselben Hotels Nutibara, in dem ich wohne!, am 15. Dezember 1989 ein Fußballschiedsrichter, Alvaro Ortega, einen Schuß in den Kopf bekam, nur weil er zum Elfmeter gepfiffen hatte, als die Begegnung zwischen Independiente aus Medellin und America aus Cali zu Ende ging. Es wird vermutet, daß bei diesem Spiel eine Wette von einer Million Dollar auf dem Spiel stand.

All dies bedeutet nicht, daß Medellin nicht eine wunderbare und lebendige Stadt bleibt, voller Töne und Farben und voller junger dunkelhäutiger Frauen, die mit wiegenden Hüften unter den verzehrenden Blicken junger Männer die Straßen entlanggehen. Die tragischen Ereignisse, die ihren Frieden seit dem Mord an Carlos Galan im August 1989 stören, haben den Optimismus ihrer Bewohner nicht mindern können, obwohl sie von der Mafia ausgepresst werden… und ebenso von den Ordnungskräften, die angeblich der Mafia den Kampf angesagt haben.

Die Killer

Der Mord an Carlos Pizarro, dem Präsidentschaftskandidaten der M-19, geschah, als er umgeben von Leibwächtern und Polizisten in einem Flugzeug saß. Er hat das kolumbianische Volk, das sich kaum noch über etwas wundert, sehr erschüttert. Der fünfzehnjährige Mörder wurde bei dem Anschlag getötet. Ein anderer Mörder, welcher auf dem Flughafen von Bogota Jose Antequera umbrachte und Ernesto Samper, den Führer der Liberalen Partei, schwer verletzte, tanzte, nachdem er das Magazin seiner Pistole geleert hatte, um den toten Körper herum, statt zu fliehen, so als ob er einen Punkt seiner Lieblingsfußballmannschaft feierte. In Medellin wurden am selben Tag sieben junge Killer bei der Durchführung eines Himmelfahrtskommandos erschossen, bei dem zwölf Polizisten starben.

Roberto, ein Psychologe, und Lupe, eine Lehrerin, die seit Jahren in den gewaltbeherrschten Vierteln von Medellin wohnen, wundern sich nicht, als sie hören, was diesen Kamikazes geschehen ist. Der Killer opfert sich, denn, wenn er bei der Ausführung eines Verbrechens stirbt, bekommt seine Familie, in erster Linie seine Mutter, den vereinbarten Lohn. Einer dieser am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen, der von der Gewalt und vom Tod fasziniert ist, erklärt: „Es ist egal, ob ich heute sterbe oder morgen, und ich bin lieber tot als im Gefängnis. Wir werden sowieso nicht alt!“ Die Jugendlichen schulen sich auf der Straße, wo die Mafia ihre Arbeitskräfte rekrutiert; sie nimmt natürlich nur die Besten. Der Mangel an Schulen, der zum Schulbetrieb in drei Schichten zwingt —morgens, mittags und abends—, hat dieses Phänomen begünstigt, denn die Jugendlichen verbringen wenig Zeit zu Hause.

In den Vierteln im Norden der Stadt werden seit drei Monaten in jeder Nacht Polizisten auf der Straße umgebracht. Sie werden von mysteriösen Totschlägern in Vergeltungsmaßnahmen gerächt. Allem Anschein nach begann diese Schlachterei im April 1990, weil Pablo Escobar zwei Millionen Pesos für den Tod eines einfachen Polizisten bot und fünf Millionen für den eines Offiziers. Diese Offensive war das Ergebnis der von der IV. Brigade der Armee durchgeführten Bekämpfungsmaßnahmen gegen Envigado, einen bekannten Drogenhändlertreffpunkt.

In der darauffolgenden Woche wurden im Viertel Manrique fünf Polizisten getötet. An einem Sonntag gingen sechs maskierte Männer durch einzelne Viertel und schössen auf Gruppen von Jugendlichen, die dem Anschein nach Killer hätten sein können. Sie kümmerten sich nicht darum, daß die Jugendlichen nur einen Fußball auf der Straße umherstießen, Karten spielten oder daß sie scheinbar unter Drogen standen; einige Kinder, die dort herumliefen, und alte Leute, die neugierig aus dem Fenster schauten, wurden ebenfalls verletzt. Resultat: 30 Tote in wenigen Minuten.

Im Juli wurde die Gewalt nicht weniger; mindestens 50 Personen starben jede Woche in Medellin:von Kugeln durchsiebte Polizisten, Verbrechen, die von Maskierten unbekannter Identität verübt wurden, von denen aber jeder wußte, daß sie Kollegen der Polizisten waren. Der Tod forderte weitere Opfer in den ersten Wochen von 1991, obwohl klar war, daß die Polizisten mit den vermummten Gesichtern die Killer nicht endgültig ausschalten konnten; nicht weniger als viertausend, verstreut über 100 Banden: Los Magnificos, El Calvario, Los Cobras, Los Escorpiones, Los Ojo por Ojo etc. Einige dieser Gruppen sind schwerbewaffnet und gut organisiert, wie Los Priscos; andere werden von unbedeutenden Bandenchefs geführt, aber diese bringen noch mehr Probleme, nicht zuletzt für die Bewohner der Viertel, in denen sie operieren.

***

Bello ist eine Satellitenstadt von Medellin, die dabei ist, Medellin gnadenlos aufzusaugen. In den fünfziger Jahren besaß sie nur eine Fabrik, die Textilfabrik Fabricato. In diesem Jahrzehnt entstanden die ersten Banden — die galladas (…): sie bestanden aus Berufsgammlern, Liebhabern des Tangos und des Marihuana, von denen jeder seine eigene Gaunersprache sprach. Ihre Erben in den achtziger Jahren, die Opfer der Arbeitslosigkeit, schicken sich nicht in ihr Los, ins Elend, sie wollen aufsteigen; sie glauben, daß sie es schaffen können, so wie Pablo Escobar es geschafft hat.

Roberto zeigt mir zwei ältere Männer und sagt: „Leute wie diese kamen aus Uraba, um vor dem Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen zu fliehen, der die Region in den fünfziger Jahren mit Blut befleckte. Andere Bauern, die aus Cordoba, Sucre, Antioquia und den Gebieten von Magdalena Medio kamen, siedelten sich in den Hügeln an, die die Stadt überragen. Die Verbindung der Killer und der Gewalt kommt von alters her. Nach einer Statistik, die man vor 10 Jahren erhob, kommen nur 39 % der arbeitenden Bevölkerung von hier, aus Medellin, 47 % kommen aus der Umgebung und 14% aus dem Rest des Landes.

„Es gibt einen sozialen Riß zwischen dem Norden und dem Süden des Landes. 60% der 1,7 Millionen, die in den Orten im Nordosten und Nordwesten wohnen, leben in völliger Armut.

45 % finden überhaupt keine Arbeit — das sind drei Viertel der Jugendlichen, denn 57 % der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. 33 % der Kinder beenden die Grundschule nicht. In den 47 Vierteln der Gemeinde gibt es keine öffentlichen Transportmittel, keine Arztpraxen und keine Sportplätze. Das ist ein vorzüglicher Nährboden für die Guerrilla, die Zellen der ELN, EPL und M-19 werden zahlreicher.

Einige Banden wie z. B. die Nachos, verbündeten sich mit Guerrilleros der M-19, und man kann sagen, daß die Nachos einfach Amateure waren, wenn wir sie mit später entstandenen Gruppen wie La Ramada oder Los Killes vergleichen. Andere Banden, die Quesitos und die Priscos, wurden in richtigen Killerschulen ausgebildet, die Pablo Escobar finanzierte. Einer der interessantesten Kurse lehrte, wie man vom hinteren Sitz eines in voller Fahrt befindlichen Motorrades schoß. Es heißt, daß die Prüfung darin bestand, irgendeinen Fußgänger zu erschießen, der völlig willkürlich ausgewählt wurde.

„Als die Banden auftauchten, benutzten die Behörden und die Polizei sie dazu, Diebe umzubringen, anstatt gegen die Banden vorzugehen. Auf Zusammenkünften der Reichen war es nicht ungewöhnlich, Äußerungen wie diese zu hören: ‚In den Armenvierteln gibt es keine unnützen Toten, diese Gauner sollte man alle ausräuchern‘. Die Polizei griff nicht mehr in die Straßenkriege ein, die sich zwischen den einzelnen Gruppen abspielten — warum sich damit belasten? Sollten sie sich doch gegenseitig umbringen! Die Polizei verschaffte ihnen sogar mehr Waffen und Motorräder; einmal überfielen die PriscosRamada zählte auf die Unterstützung des Bataillons von Pedro Nel Ospina. Pablo Escobar brauchte nur das Ruder zu übernehmen. ein Stadtviertel mit dem Geleitschutz der Polizei. Die

***

„Die Killer haben keinerlei ideologische Motivation. Sie arbeiten, damit sie Geld bekommen, obwohl sie natürlich Pablo Escobar mehr Sympathie entgegenbringen, der aus dem selben Milieu stammt und den von ihnen angestrebten Erfolg verkörpert, als der korrupten Polizei. Sie leben in einer anderen Welt als wir, mit ihrer eigenen Kultur und Sprache, mit ihren Vorstellungen über Leben und Tod. Ihre Dreieinigkeit setzt sich zusammen aus Geld, der Heiligen Jungfrau und ihrer Mutter von Fleisch und Blut. Die Rache ist ebenfalls etwas, an das sie aus tiefstem Herzen glauben. Ihrer Philosophie ist atavistisch: ‚Du kannst töten, Gott und die Jungfrau vergeben dir‘. Manchmal lassen sie jemanden niederknien und beten, bevor sie ihn umbringen.

„Ich kannte Luber gut, den Chef der Ramada (…) Da er sich aufgrund seiner Kaltblütigkeit bereits einen guten Kundenstamm geschaffen hatte, verdiente er viel Geld und zog in ein wohlhabendes gutbürgerliches Viertel. Manchmal kommt er noch zurück, wie ein feiner Herr, auf seinem Motorrad. Die Jugendlichen, vor allem die Mädchen, stehen dann um ihn herum, er ist ihr Idol. Wie alle Killer verehrt er seine Mutter…, er hat ihr ein Haus geschenkt, und seinem Vater ein Auto, aber zuerst hat er ihn gezwungen, sich mit der Alten zu versöhnen.

„Luber hält sich nicht etwa für einen Heiligen, aber er wußte, daß seine Mutter glücklich sein würde, ihren leichtsinnigen Ehemann wiederzubekommen. Sein Verhältnis zu seinem Bruder Jaime ist vielleicht noch widersprüchlicher. Luber hat alles in seiner Macht stehende getan, damit Jaime kein Killer wird, obwohl er selbst der Chef der Bande war. Aber Jaime sah nicht nur gut aus, er war auch ein Schwätzer, er konnte nicht anders, als vor den Mädchen mit seinen Großtaten herumzuprahlen und erzählte stolz, wie er diesen oder jenen umgebracht hätte.

Das ging gegen das Gesetz der Bande, und brachte sie außerdem in Gefahr. Luber, als Chef, hatte keine andere Wahl, als den Auftrag zu geben, ihn zu töten. Letzte Woche ließ er
einen seiner Männer umbringen, der ein Mädchen aus einem anderen Viertel vergewaltigt hatte, weil er einen Krieg mit der Bande dort vermeiden wollte.

„Die Schulen sind von den Killern korrumpiert. Die Lehrer behandeln die Schüler entsprechend dem Rang, den sie in den Banden haben. Wenn ein Lehrer sich in seinem Urteil dabei irrt, hat er sein Leben verwirkt. Es gibt da eine Schule, in der alle Schüler die Prüfungen bestanden, nachdem es Verhandlungen zwischen dem Direktor und dem Chef der Bande gegeben hatte. Andere Schuldirektoren müssen Übereinkünfte treffen, damit ihre Schüler beim Verlassen der Schule nicht überfallen werden. Aber es kommt auch vor, daß die Banden den weniger wohlhabenden Schulen in schwierigen Zeiten helfen, ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Im Kleinen ahmen die Killer die Handlungsweise von Pablo Escobar genau nach; sie verwenden einen Teil ihrer Gewinne dafür, Feste in den Vierteln zu organisieren oder Schwierigkeiten der Einwohner zu beheben“.

***

— Sind die Killer in den Drogenhandel verwickelt? — frage ich.

— Überhaupt nicht. Für sie sind die Drogenhändler Gesindel, das Letzte. Ich spreche natürlich von kleinen Händlern, die sich in den Ecken verstecken. Die Killer sind stolz darauf, Schläger zu sein, Kriminelle mit Niveau, keine Lumpen. Außerdem fuhren sie ihre Aktionen nie in den Vierteln durch, zu denen sie gehören. Sie wollen nicht, daß ihre Arbeit mit ihrer Familie oder mit ihren Freunden in Verbindung gebracht wird. Ich habe von einem Polizisten gehört, der im Gegensatz zu seinen Kollegen in seinem Viertel nicht gehaßt wurde; er sang im Kirchenchor. Eines Samstagabends, nach der Messe, beschlossen der Pfarrer und einige Freunde, ihn zu seinem Schutz noch ein Stück nach Hause zu begleiten. Es war zwecklos! Die Killer kamen auf dem Fahrrad und erschossen ihn, obwohl die Gruppe ihn umringte. Ein solches Verbrechen hätten Killer aus demselben Viertel niemals verübt.

„Natürlich könnte man die Killer für jede Gewalttat verantwortlich machen, aber so einfach ist es nicht. Sie haben nichts mit den Konfrontationen zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb des Polizeiapparates zu tun. Die Unbestechlichen bringen ihre korrupten Kollegen um, und diese wiederum ihre ehrlichen Kollegen, die zuviel wissen. Seltsamerweise bedienen sich beide Gruppen mitunter der Killer, um ihre Ziele zu erreichen.

„Nach dem Tod von Rodriguez Gacha, einem Stellvertreter von Pablo Escobar, im Dezember 1989, und nach der Zustimmung der Drogenhändler zu Verhandlungen wurden dreitausend Killer arbeitslos [1]. Das führte in Medellin zu einer unvergleichlichen Welle der Kriminalität: Autodiebstahl, Schutzgelderpressung, Banküberfälle und vor allem Entführungen; 54 allein im Monat Februar! Die Opfer waren in allen Fällen wichtige Persönlichkeiten, für die das Lösegeld innerhalb von 24 Stunden gezahlt werden mußte.

Später, als die Drogenhändler beschlossen, die Polizei anzugreifen, ging die Anzahl dieser Verbrechen zurück, und erneut sahen sich die Bewohner der Viertel zwischen zwei Fronten. Die Polizei und die Armee benahmen sich geradezu wie Besatzungsmächte. Nicht wenige Viertel —Aranjuez, Manrique, und in Bello die Viertel Santa Ana und Santa Ines— wurden regelrecht geschliffen, Haus für Haus, und ein Teil der Einwohner wurde unter Gewaltanwendung festgenommen; Männer, die man mit dem Gesicht zur Wand durchsuchte, wurden brutal geschlagen und beschimpft, und die Polizei demolierte zahllose Fahrzeuge auf der Suche nach Waffen oder Drogen.“

Lupe erzählt mir eine Episode aus diesem Krieg, die auch die Frauen des Viertels betraf. Als die Polizei im Mai brutal die zahllosen Banden angriff, die mehrere Straßen besetzten, wollte niemand die Anführer preisgeben. Unter Folter sagten einige Frauen schließlich aus. Ein Offizier verkaufte einem Bandenchef die Liste der Frauen, die geredet hatten. Fünfunddreißig Hausfrauen, Denunziantinnen oder nicht, wurden ermordet, um den Verrat zu rächen. Trotzdem ist es Lupe zufolge selten, daß Frauen zu Opfern der Killer werden.

***

Ich frage, ob die Killer ihr Leben verändern können. Roberte zweifelt: „Zuerst einmal müßten dafür die Bedingungen geschaffen werden. Was die Killer angeht, so wissen Lupe und ich, daß es möglich ist, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Oft sind es sehr warmherzige Leute, nur haben sie eben nicht die geringste Vorstellung von dem, was wir gut oder böse nennen; für sie ist der Tod ein bedeutungsloses Ereignis, gleichgültig, ob es ihr eigener ist oder der ihrer Opfer. Sie können die schlimmsten Grausamkeiten verüben und gleichzeitig Heldentaten vollbringen. Wenn die Gesellschaft ihnen eine Chance geben würde, glaube ich, daß sie ein normales Leben führen könnten.

Die Gesetze greifen bei der Lösung dieses Problems schon lange nicht mehr. Auch wenn im letzten Jahresdrittel 1989 594 Killer, Mitglieder von 136 Banden, polizeilich registriert wurden, verhaftete man nur 326. Die Mehrzahl von ihnen wurde wieder freigelassen, da sich nur wenige Zeugen zu einer Aussage bereitfanden. Ohne Zweifel muß ein Teil des Gesetzesapparates verändert werden, aber ein grundsätzlicher Wandel kann nur eine Folge umfassender Lösungen sein.

Am 28. Juni 1990 erklärte der Bischof Guillermo Vega, der Koordinator der bischöflichen Komission für das Leben, die Gerechtigkeit und den Frieden, vor der Presse, daß 200 jugendliche Killer bereit seien, mit der Polizei zu verhandeln und sich zu ergeben. Diese Initiative, eine Folge des Dialogs zwischen dem Priester eines Viertels und den Jugendlichen im Nordosten, wird keine greifbaren Ergebnisse haben, wenn nicht die wirklichen Ursachen der Gewalt verschwinden.

Größe und Niedergang der Entwicklung der PAISAS

Was sind die Gründe dafür, daß sich Medellin zum größten und mächtigsten Drogenhauptquartier der Welt entwickelt hat? Das Kartell von Medellin ist nicht die einzige Drogenmafia in Kolumbien. Einem kolumbianischen Historiker zufolge gibt es solche Kriminalitätszentren auch in vier anderen Regionen — in Cali, an der Atlantikküste, in Zentralkolumbien und im Osten — die alle außer Cali mit dem Kartell von Medellin verbunden sind. In diesen fünf Regionen gedeihen unter dem Schutz der großen Paten unzählige kleine Gruppen von Unternehmen, die Familien oder Clans gehören. Als sie gegründet wurden, widmeten sich diese Mafiosi nicht nur dem Drogenhandel, sie spezialisierten sich auch auf den Handel mit und den Schmuggel von Smaragden und Vieh.

Die Einwohner von Medellin — die paisas — bestreiten nicht, sich den anderen Kolumbianern überlegen zu fühlen. Sie wurden in der Anbetung des Geldes und des Erfolges erzogen, die sich so gut verträgt mit dem Zurschaustellen katholischer Gottesfürchtigkeit. Nach Meinung vieler Kolumbianer sind die paisas in erster Linie Pfandleiher, Wucherer und Spekulanten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Aktivitäten des Bezirks Antioquia und seiner Hauptstadt in den Bereichen Finanzen und Export mit außerordentlicher Dynamik, nachdem der Bergbau, der die Region bis dato reich gemacht hatte, sich seinem Niedergang näherte. Zu dieser Zeit bemächtigten sich fünf Händlerfamilien des Südostens der Region, indem sie sich die besten Kaffeeplantagen und die politische Macht aneigneten. Nach dem ersten Weltkrieg konsolidierten der Bananenanbau der United Fruit Company und die Erdölförderung die ökonomische Entwicklung der Region.

Der Kaffeexport im Weltmaßstab wurde zu einer reichlich fließenden Geldquelle, die die Entstehung von Industrien ermöglichte: Glaskeramik, Textilien und Metallurgie waren die Hauptindustriezweige und -produkte. So entstand der Mythos vom unternehmerischen paisa, der vor nichts Angst hat. Sein Aufstieg wurde nicht einmal von den Bankkrachs von 1904, 1920 und 1982 gebremst.

***

Trotz seiner unleugbaren Macht konnte Medellin in den 70er Jahren der Rezession, die das ganze Land erschütterten, nicht entrinnen. Die Textilindustrie, der Antrieb seiner Entwicklung, stand kurz vor dem Zusammenbruch infolge der asiatischen Konkurrenz auf diesem Sektor, und im Ergebnis der allgemeinen Krise vollzog sich eine Landflucht, die die Arbeitslosigkeit auf einen Stand von 15,7 % brachte, während sie in Bogota 6,3 %, in Cali 9,6 % und in Baranquilla 4,5 % betrug.

Zwischen 1962 und 1970 kam es infolge der Krise zu einer Auswanderungswelle ohnegleichen in die USA. Die Kolonie der Leute aus Antioquia in den USA, die 1991 fast zwei Millionen Einwohner zählte, spielte eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der kolumbianischen Mafia und bei der ständigen Vergrößerung des Kokainexports.

Als die Devisenreserve des Landes kleiner wurde, beschränkte die Regierung von Carlos Lleras Restrepo (1966-1970) die Importe und stellte den Dollar-Wechselkurs unter staatliche Kontrolle. Diese Umstände führten zu einem unglaublichen Anstieg des Schmuggels im kommerziellen Sektor und des Handels mit US-amerikanischem Geld, der durch die Nähe der Freihandelszone Colon in Panama vereinfacht wurde, wo die Geschäfte von Uraba sich durch eine legale Fassade tarnten. Dort nahm der Marihuana-Anbau innerhalb kurzer Zeit stark zu, bevor er sich danach in der Region von Guijara an der Grenze zu Venezuela entwickelte.

Es dauerte nicht lange, bis das Kokain auftauchte. Das Geld aus dem Drogenhandel minderte nicht nur die Auswirkungen der industriellen Krise der siebziger Jahre, sondern es machte den Wiederaufbau der Wirtschaft in dieser Region möglich. Das reichlich fließende Geld machte aus Medellin ein mächtiges Finanzzentrum: die Bankeinlagen von 10 Milliarden 1971 stiegen auf 407 Milliarden 1982: Ein großer Teil dieses Geldes stammt aus dem Export von Kokain… Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre exportierte Kolumbien fünfzig Tonnen und belieferte damit fünf Millionen US-Amerikaner. Der Kilopreis schwankte zwischen 35000 und 40000 Dollar und warf damit einen Gewinn von über 50 % ab [2], weswegen die kolumbianischen Drogenhändler jährlich fast eine Milliarde Dollar erhielten.

Die Pioniere des Viertels Antioquía

Die Einwohner des Viertels Antioquía, die einen sehr schlechten Ruf in der Stadt Medellín besitzen, waren die Vorreiter des Marihuana- und Kokainhandels. Möglicherweise war das die Folge einer staatlichen Entscheidung, die getroffen wurde, als Präsident Laureano Gómez einen Kreuzzug im Namen der Moral unternahm, der die Begrenzung der Prostitution auf bestimmte Viertel einschloß. Die Bordelle in diesen Vierteln wurden verpflichtet, eine rote Lampe in die Eingangstür zu hängen. Eine solche Konzentration führt unweigerlich zu einem Anstieg des Verbrechens, das mit der Prostitution untrennbar verbunden ist.

Willy erinnerte sich an das Auftauchen der Droge in diesen Vierteln zu der Zeit, als er noch zur Schule ging; er war in der Fußballmannschaft, und er und seine Freunde kamen aus ärmlichen Verhältnissen. Es war das Jahr 1960; in Rom fand die Olympiade statt. Alle cosquilleros (Gauner und Taschendiebe) aus Medellin träumten davon, nach Italien zu reisen. Um das zu erreichen, mühten sie sich in der Ausübung ihrer Kunst und raubten LKW-Fahrer aus: sie bildeten Gruppen von drei Personen, von denen zwei das Opfer ablenkten, während der dritte ihm die Brieftasche abnahm.

Dank der Erfolge ihrer Diebstähle gelang es vielen, nach Rom zu fliegen; sie wunderten sich, als die Italiener sie um Marihuana baten und ihnen unbedingt welches abkaufen wollten, aber damals wußten die cosquilleros noch nichts vom Drogengeschäft, und sie gaben sich damit zufrieden, alle erreichbaren Brieftaschen zu stehlen. Außerdem gaben sie sich Decknamen, die Assoziationen zu Filmgangstern wachriefen, wie zum Beispiel Lombana, ein cosquillero, der, um diese Helden besser imitieren zu können, sich nur noch in weiß kleidete, vom Kopf bis zu den Schuhen.

Nach ihren Erlebnissen in Rom begriffen die jungen Kriminellen aus Medellin, daß ihre Zukunft im Drogenhandel lag. Wer Verwandte oder Freunde in den USA hatte, kam dort mit Koffern an, die einen doppelten Boden hatten und in denen das Marihuana versteckt wurde. Eine neue Überraschung erwartete sie: die gringos hatten kein Interesse, sie wollte Kokain, eine Droge, die die cosquilleros nicht kannten.

Sie wußten auch nicht, daß die U S-Amerikaner, die Kolumbien mit Bolivien verwechselten, bei den Schmugglern vom Golf von Urabä bereits auf Kokainlieferungen gedrängt hatten. Weil Kokain in Kolumbien praktisch unbekannt war, erhielten sie das wenige, das die Schmuggler bekommen konnten, aus Deutschland, von woher es zu pharmazeutischen Zwecken importiert worden war. Es erübrigt sich zu sagen, daß die Gangster, um an das Kokain heranzukommen, Staatsbeamte im Gesundheitsministerium bestachen.

***

So dauerte es nicht lange, bis die Gangster aus dem Viertel Antioquía wußten, daß das magische Pulver im Überfluß in Peru zu haben war. Sie fuhren dorthin und waren baß erstaunt, als sie riesige Pflanzungen vorfanden, die vier Ernten im Jahr gestatteten und aus denen man eine weiße Substanz gewinnen konnte, die sich zu Preisen wie reines Gold verkaufen ließ.

Sie begannen, das Kokain in kleinen Mengen, die sie zum Beispiel in den Absätzen ihrer Schuhe versteckten, in die USA zu schmuggeln. Da der US-amerikanische Markt unersättlich war, kauften die unternehmerischen Antioquianer die Coca im Nachbarland Equador, zu 20000 Pesos pro Kilo. Einige wollten dem Ruf der paisas, Abenteurer zu sein, Ehre zukommen lassen und brachten das Rauschgift nach Europa, obwohl das kein einfaches Unternehmen war. Mit der Zeit gelang es den fähigsten und kühnsten Antioquianern, mit dem Rauschgifthandel ein Vermögen zu machen, wie Griselda Blanco, die Frau des cosquillero Pestañita, der heute im Gefängnis sitzt, oder Goyo, der, nachdem er ein riesiges Vermögen angesammelt hatte, sich zurückzog und in den USA lebt.

Cachifero hatte weniger Glück; Sohn eines gescheiterten Goldsuchers, wollte er seinem Vater zeigen, daß es bessere Mittel gab, zu Geld zu kommen. Willy erinnert sich: „Cachifero kam 1977 mit einem neuen Luxusauto, einem Toyota, ins Viertel gefahren. Er suchte seinen Vater auf und sagte zu ihm: ‚Siehst du? Ich habe die Goldmine gefunden!‘ Damals betrug sein Vermögen 10 Millionen Dollar, aber er, der ein leidenschaftlicher Spieler war, begann bei jedem Spiel ein Auto oder ein Haus zu verlieren. Schließlich versank er im Elend. Die Vorwürfe seiner Frau und seiner Kinder trieben ihn buchstäblich in den Wahnsinn. Heute kann man ihn auf den Straßen von Bogota sehen, wo er verzweifelt nach der unerreichbaren Gelegenheit sucht, seinen Reichtum zu erneuern.

***

Obwohl diese Zeit schon vorbei ist, halten sich in einigen Arbeitervierteln von Medellín die Traditionen. Der Drogenhandel, den die mulas (Straßenhändler und Rauschgiftschmuggler der untersten Stufe) betreiben, erreicht den Stellenwert einer echten Industrie. Alfredo Molano, ein kolumbianischer Soziologe, hat sie am besten beschrieben.

Der Protagonist seiner Geschichte beginnt, nachdem er beim Transport der Ausgangsmasse im Urwald gearbeitet hat, für einen Hersteller kleiner Beutel tätig zu werden, die, nachdem sie mit Coca gefüllt worden sind, von den mulas geschluckt werden. Einige können bis zu 100 Beutelchen schlucken, bevor sie ihre Reise antreten. Jedes Beutelchen enthält 5 bis 7 Gramm Rauschgift; meist benutzt man zur Herstellung der Beutel die Finger von Chirurgenhandschuhen, die mit Zahnseide zusammengenäht werden. Jedes Päckchen wird danach in Plastik eingewickelt und zugeklebt. Wenn eins dieser Päckchen infolge eines Herstellungsfehlers im Bauch des mula aufreißt, stirbt er daran.

Einmal im Monat bilden die mulas mit der von ihnen geschluckten Fracht Karawanen aus ca. 20 Personen, Männern und Frauen. Vor Beginn der Reise werden sie von einer Krankenschwester untersucht, die sie verschiedenen Prüfungen unterzieht. Die erste besteht darin, daß sie Traubenkerne essen müssen, je größer desto besser. Zwei Stunden später gehen sie zur Toilette. Diejenigen, in deren Stuhl sich die Traubenkerne mehr oder weniger unverändert wiederfinden, haben die Probe erfolgreich bestanden. Ist das nicht der Fall, kann der mula nicht an der Expedition teilnehmen.

Es werden im Durchschnitt vier von 100 Personen akzeptiert. Diese treten schließlich die Reise zu Fuß, mit Bus, Eisenbahn oder Flugzeug an. Das Ausscheiden der Beutel am Ende der Reise, immer nach wenigen Stunden, ist schmerzhaft; Abführmittel, Tee, Einlaufe, große Mengen von Gelatine. Ab und zu stirbt jemand, andere kehren zurück, um sich aufs neue füllen zu lassen, aber man muß auch jene mitrechnen, die teilweise oder ganz scheitern: einer kann sich im Flugzeug nicht beherrschen und ißt etwas, und danach muß er sich entleeren und die Beutel erneut schlucken; ein anderer beginnt, weil er nichts ißt, zu schwitzen und Angstzustände zu bekommen, wird daraufhin von seinen Mitreisenden entdeckt und verhaftet. Tausende Männer und Frauen aus Medellin, die nicht länger im Elend leben wollten, sitzen lange Gefängnisstrafen in den USA und in Europa ab. Diejenigen, die Glück hatten und ihre Mission erfolgreich ausführten, ernten nur die Krümel des Geschäfts, an dem sich die großen Paten bereichern.

Ausschnitt aus dem Buch La Droga, el Dinero y las Armas, hg. von Alain Labrousse, erschienen 1993 bei Siglo XXI Editores; zit. nach Excelsior, Vol. 78, 18. Oktober 1994.

Übersetzung aus dem Spanischen von Gabi Pisarz

Ein scharfsinniger Beobachter unserer Realität hat gesagt, daß die ganze kolumbianische Gesellschaft drogensüchtig ist. Sie ist nicht kokainsüchtig —der Kokainverbrauch in meinem Land ist nicht alarmierend—, sondern süchtig nach einer viel verderblicheren Droge: dem schnellen Geld.
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*Gabriel García Márquez, kolumbianischer Schriftsteller und Nobelpreisträger.

[1]. Ähnliches geschah Ende 1980 und Anfang 1981, als die Brüder Ochoa sich ergaben.
[2] Der Gewinn von 50% , der auf Seite 283 des Originals, Zeile 14, erscheint, scheint uns ein Irrtum zu sein, wenn man von den Gewinnen aus dem Rauschgifthandel ausgeht, die mehrfach früher schon vom Autor zitiert worden sind und die gegen 1000 Prozent gehen.

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