Aus dem Jahresbericht der Weltbank zur Situation der Armen in Lateinamerika (S. 139/40)
In den meisten Ländern der Region hatten die Armen in den Krisenjahren übermäßig zu leiden. Mit sinkendem Wachstum nahmen Elend und Arbeitslosigkeit zu, und die Einkommensverteilung war mehr und mehr verzerrt. So nahmen beispielsweise die Reallöhne in Mexiko zwischen 1988 und 1992 um 15% ab. Viele Länder setzten sich nicht stark genug dafür ein, die erforderlichen Einnahmen zu erwirtschaften. Die Sozialausgaben sanken beträchtlich, und Sozialprogramme konnten nicht durchgezogen werden…
Verglichen mit den Entwicklungsländern in Ostasien haben die lateinamerikanischen und karibischen Länder einen kleineren Teil ihres Bruttosozialprodukts für das Ausbildungs- und Gesundheitswesen verwendet. Wenn sich die Menschen für wirtschaftliches Wachstum einsetzen sollen und dieses eine gewisse Bedeutung für sie haben soll, dann müssen die Länder der Region mehr gezielte Ausbildungs-, Gesundheits- und Ernährungsprogramme für die Armen einleiten.
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Im Verlauf der achtziger Jahre nahmen die Infrastrukturinvestitionen in der Region kräftig ab. In einer Reihe von Ländern wurden Investitionen in Infrastrukturvorhaben abgebaut, was sich insbesondere in der unzureichenden Wartung und in einer schlechteren Versorgung und Zuverlässigkeit vor allem in den Bereichen Strom, Straßen, Wasserversorgung und Fernmeldewesen bemerkbar machte. Die derzeitigen Infrastrukturmängel sind sehr groß; 18% der in der Region ansässigen Bevölkerung haben keine Wasserversorgung, 42% leben ohne Sanitäreinrichtungen, etwa 30% ohne Elektrizität, und annährend 45% der Straßen sind so schlecht instand gehalten worden, daß Neuanlagen und Sanierungsarbeiten erforderlich sind.
Entwicklung der Einkommensverteilung und der Armut in Lateinamerika
Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt war Lateinamerika stets eine Region mit ausgeprägten Einkommensdisparitäten. Eine von der Bank in der jüngsten Zeit vorgenommene Untersuchung zeigt, daß dies nach wie vor zutrifft . Insgesamt erhielten die in der Einkommensskala unteren 20% der Bevölkerung 1989 lediglich 4% des Gesamteinkommens. Gleichzeitig leben 32% der Bevölkerung in Armut; dieser Anteil belief sich 1980 erst auf 22% . Im übrigen war die Armut Ende der achtziger Jahre in den Städten höher als auf dem Land – was eine Umkehr der Verhältnisse der das vor liegenden zehn Jahre ist. Schätzungsweise haben am Ende des Jahrzehnts 69 Millionen Arme in Stadtgebieten gelebt, gegenüber 64 Millionen in ländlichen Gegenden. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, zu den Armen zu gehören, für die in ländlichen Gebieten lebenden Menschen größer.
Am ausgeprägtesten ist die Armut in der Region in bestimmten Ländern. 1989 lebten allein in Brasilien über 44 % der Armen der gesamten Region, obwohl in Brasilien lediglich ein Drittel der Bevölkerung der Region lebt. Die Vergleichszahl für Mexiko ist 11 %, die für Peru 9% der Armen, während sich weitere 19% auf eine Gruppe relativ kleiner Länder verteilt. Es sind dies Bolivien, Guatemala, Haiti, Honduras und Nicaragua.
Während der gesamten achtziger Jahre nahmen in schnell wachsenden Ländern die Einkommensdisparitäten tendenziell ab und die Armutssituation verbesserte sich (Costa Rica, Kolumbien und Uruguay). Dagegen verschlechterte sich in Ländern mit sinkendem Pro-Kopf-Einkommen auch die Einkommensverteilung und die Armutssituation (Argentinien, Brasilien, Panama, Venezuela). In ähnlicher Weise verzerrt sich die Einkommensverteilung während eines Konjunkturzyklus; die Armutssituation verschlechtert sich im Verlauf einer Rezession, während im Verlauf einer Aufschwungphase das Gegenteil eintritt. Da eine Verschlechterung der Einkommensverteilung darauf hinausläuft, daß der Einkommensanteil der Reichen zunimmt, ergibt sich daraus, daß sie auch eher in der Lage sind, sich vor den Auswirkungen einer Rezession zu schützen als die Armen. In dem Maße wie Anpassungsprogramme die Aussichten auf ein stabiles und dauerhaftes Wirtschaftswachstum verbessern, sinkt auch die Armut insbesondere langfristig. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat die Armut in jenen Ländern, die es versäumt haben, die notwendigen Wirtschaftsreformen erfolgreich durchzuführen, am stärksten zugenommen, (beispielsweise in Brasilien und Peru).
Eine Analyse der Einkommensdisparitäten bei Erwerbspersonen zeigt, daß im Durchschnitt ca. 25 % der gesamten Disparitäten auf Unterschiede des jeweiligen Ausbildungsstandes entfallen. In 19 von 20 analysierten Fällen trägt die Ausbildung vergleichsweise am stärksten zur gesamten Einkommensdisparität innerhalb der Gruppe der Erwerbspersonen bei. Bei fehlender Ausbildung kann man am ehesten damit rechnen, zu den unteren 20% der Einkommensskala zu gehören. Die enge Beziehung zwischen Ausbildungsunterschieden als Ursache für Einkommensdisparitäten hat bedeutende und grundlegende Aus Wirkungen. Wenn die Arbeitskraft der wichtigste Besitz der Armen ist, sind bessere Ausbildungsmöglichkeiten und Ausbildungsqualität ein entscheidendes Instrumentarium, um die allgemeinen Disparitäten zu mindern und die Zahl der in Armut Lebenden zu senken.
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Anmerkungen:
[1] Weltbank 1993, Armut und Einkommensverteilung in Lateinamerika: Die Geschichte der achtziger Jahre. Technische Abteilung, Lateinamerika und Karibischer Raum.
[2] Als arm gilt, wer gemessen an der Kaufkraftparität von 1985 weniger als 60 $ zur Verfügung hat.
Die Dokumente l und 2 wurden ausgewählt, da sie den Werdegang des zuletzt im Deutschen Bundestag behandelten „Lateinamerika-Themas“ vom Antrag zum Beschluß nachzeichnen. Ihr Aussagewert liegt v. a. im Spannungsverhältnis zwischen der ursprünglichen Absicht konkreter – eben auch finanzieller – Hilfeleistung und der Unverbindlichkeit der Endfassung. Dokument 3 ist die letzte amtliche Gesamtsicht auf die offizielle Lateinamerikapolitik der Bundesrepublik. Dokument 4 schließlich wirft ein Weltbank-Schlaglicht auf die Schattenseiten des jüngsten Wirtschaftsaufschwungs in Lateinamerika.