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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Reise

Carlos Riós | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Ihr war ziemlich traurig zumute, denn vor einer Stunde hatte sie ihn allein am Bahnhof zurückgelassen. Die Luft im Zugabteil war stickig. Trotzdem drang die Kälte von draußen durch die Kleider und ließ sie frösteln. Der Zug hatte Dresden fast erreicht. Das Abteil war voll. Fast alle rauchten. Sie fühlte sich nicht besonders gut. Der Zigarettenqualm reizte sie zum Husten. Sie stand auf, ging hinaus auf den Gang und öffnete das Fenster. Sie atmete so tief wie möglich ein.

In Dresden hielt der Zug eine halbe Stunde, während der sie am Fenster stehenblieb. Die Grenzpolizisten stiegen zu, und kurze Zeit später begannen die Paßkontrollen. Der Zoll ließ sie diesmal in Ruhe. Sie fragte sich, ob wohl in allen Zügen der Welt die Gardinen so häßlich waren. Nie hatte sie schöne Zuggardinen gesehen.

Sie dachte an ihn. An das gemeinsame Frühstück. Sie würde ihm schreiben, daß ihr das Frühstücken mit ihm fehlte: „Oh du mein Frühstückskoch, du mein Tellerwäscher ohnegleichen!“ Das mit dem Tellerwäscher war purer Sarkasmus, denn er haßte es, Geschirr zu spülen. Wenn er es dennoch tat, benutzte er kein Spülmittel, sondern kippte einfach heißes Wasser über die Teller. Und wenn er das Frühstück machte, glich seine Suche nach den nötigen Utensilien einer Odyssee. Sie hörte sich seine Beschwerden an, wenn er Eier kochte oder das Kaffeewasser heißmachte, aber meist fand sie sich damit ab, selbst das Frühstück zu bereiten. Einige Leute im Abteil schliefen. Sie dachte zurück, als sie beide das letzte Mal an den Strand gegangen waren. Er hatte angeblich alles eingepackt. Er nahm den kleinen Koffer mit, in den sie immer die Badesachen taten. Als sie ankamen, öffnete er den Koffer, und der Koffer war leer. Er erinnerte sich in diesem Moment, daß er die Sachen, die er einpacken wollte, am Abend zuvor in ein Schrankfach gelegt hatte. Danach hatte er es vergessen. Sie lachten sich halbtot. Er vergaß immer etwas. Von diesem Tag an begann sie ihn „du mein leerer-Koffer-Träger“ zu nennen.

Es wurde hell. Sie würden die ungarische Grenze bald passieren. Die ganze Nacht war ihr kalt gewesen. Jetzt, da die Sonne in das Abteil schien, wurde es rasch ziemlich warm. Sie fühlte sich ausgedörrt. Sie hatte das Gefühl, als ob sie in der Wärme zerflösse wie Butter. Der Zug fuhr in Budapest ein. Die Luft flirrte vor Hitze.

Sie erreichten den Keleti-Bahnhof. Die Leute begannen auszusteigen. Sie setzte ihren Rucksack auf. Sie kämmte sich. Stieg aus. Nahm ein Taxi. Sie gab dem Fahrer die Adresse, die in ihrem Notizbuch stand. Sie brauchten nicht einmal 25 Minuten bis dorthin. Nachdem sie sich geduscht hatte, schrieb sie ihm: „Hier ist es schrecklich heiß. Der Straßenlärm läßt mich nicht klar denken. Mein Kopf bringt sonderbare Ideen hervor, wie zum Beispiel ‚es gibt Leute, die eitel sind, und es gibt Leute, die mehr als eitel sind‘ oder ‚ich fühle mich wie eine Meermuschel'“.

Das Bett, in dem sie schlief, war sehr groß. So groß, daß sie seine Begrenzungen am nächsten Morgen nicht finden konnte und zwei Stunden brauchte, ehe sie die Beine über den Rand streckte. Sie wäre fast Hungers gestorben.

***

Sie saß auf dem Balkon. Sie aß Muscheln. Die Muscheln waren wunderbar. Sie hatte eine Menge Geld dafür ausgegeben. Als sie mit dem Essen fertig war, schrieb sie ihm eine Postkarte. Sie sah ihn mit einem Bleistift hinterm Ohr vor sich, ungekämmt wie immer. Wie ein Verrückter tanzend. Wie er sich das Gesicht bunt anmalte.

In Budapest wollte sie sich mit einer Freundin treffen und mit einem gemeinsamen Freund, einem Mulatten. Der Mulatte erschien nicht, denn er war krank. Sie schrieb, daß sie nun ohne Schutz reisten, und informierte ihn, daß sie fast gar nicht mit dem Zug fahren würden. Sie würden das freie Leben der Straße leben, so wie es Jack Kerouac in seinem Roman „On the Road“ beschrieben hatte.

Nachdem sie die Postkarte beendet hatte, steckte sie sie in einen Umschlag. Dazu hatte sie sich entschieden bei dem Gedanken daran, daß sie ihm manchmal die Post bis aufs Zimmer brachten, und wenn der Fahrstuhl steckenbliebe (was öfter vorkam) und man auf den Handwerker warten müßte, könnte irgendjemand Unverschämtes lesen, was sie nur für ihn geschrieben hatte.

Den größten Teil der Zeit in Budapest verbrachte sie damit, zu lesen und kleine schwarze Kaffees zu trinken. Einmal ging sie in ein chinesisches Restaurant. Sie versuchte, mit Stäbchen zu essen. In China wäre sie sicherlich verhungert. Das Essen schmeckte wechselweise nach Parfüm, schmutzigen Füßen, nichts, altem Huhn, in Chilipfeffer gebadeten Bohnen und anderem, Undefinierbarem. Beim Servieren hatte der Teller vielversprechend ausgesehen.

***

Sie war schließlich im Land der Garnelen angekommen. Des blaugrünen Meers. Der hohen Wellen und stillen Buchten. Es war ihr zweiter Tag in Bulgarien. Veselie hieß der Ort. Sie und ihre Freundin hatten das Zelt im spärlichen Schatten einer Akazie aufgestellt. Der Platz war voll. Sie verbrachte zwölf Stunden am Tag im Wasser. Die restliche Zeit aß sie, las oder schrieb Briefe. Sie schrieb ihm, daß das Meer noch blauer und die Sonne noch heißer wäre mit ihm.

Der Brief, den er ihr geschrieben hatte, bevor sie losfuhr, bedeckte mehrere Seiten, die er in Form eines Lakens zusammengeklebt hatte, so daß sie sich damit zudecken konnte. Der Laken-Brief hielt sie warm. Sie mußte aufpassen, daß er nicht kaputtging. Er knitterte sehr leicht, und auf dem ganzen Zeltplatz war es unmöglich, ein Bügeleisen aufzutreiben, obwohl sie ernsthaft danach gesucht hatte.

Im Innern des Zeltes war alles grün. Auch die Haare und die Lippen, obwohl sie sie rot anmalte, mit einem intensiven und leuchtenden Rot. Sie fragte sich in einem Brief an ihn, wofür dieses Grün nütze sei. Vielleicht als Tarnung gegen Banditen. Der Zeltplatz lag ziemlich abgelegen.

Sie ging schwimmen. Kehrte an den Strand zurück. Sah auf das dunkelblaue Meer. Sie erzählte ihm, daß sie auf dem Meeresgrund einige interessante Fische gesehen hatte und einige Seeschlangen, die völlig harmlos waren. Sie fragte sich, ob die zahllosen Garnelen, die sie noch vor zwei Jahren hier gefunden hatte, verschwunden waren, oder ob sie sich vielleicht zu dieser Zeit des Jahres versteckt hielten. Sie hatte nur Muscheln und Quallen gefunden. Die Abende waren langweilig. Man konnte fast nichts unternehmen. Um neun Uhr war es schon dunkel und auch ziemlich kalt. Tagsüber konnte man die Hitze kaum aushalten.

Am Eingang des Zeltplatzes gab es einige Lebensmittelstände. Dort gab es pommes frites zu kaufen, die, wie sie sagte, ekelhaft schmeckten. Die gebratenen Fische waren etwas besser. Sie war der Meinung, daß es sich nicht lohnte, etwas dort zu kaufen, da alles teuer war und man für das Geld wenig bekam.

Sie hatte ihm ein Stückchen von einer Wasserpflanze geschickt, damit er sich das Meer wenigstens vorstellen konnte, dort in Leipzig. Sie schrieb ihm am Ende ihres Briefes, daß sie viel an ihn denke und nannte ihn „mein Leibgericht“. Sie saß auf einem Felsen. Das Meer spritzte um sie herum bei jeder Welle. Sie war allein. Einige Möwen ließen sich auf dem Wasser nieder, und andere kreisten darüber. Die Landschaft war fast vollkommen: Sonne, Meer, die Felsklippen und die leichte Brandung. Im Wasser zu ihren Füßen gab es viele Garnelen. Sie hatte auf einmal hunderte davon beim Tauchen gesehen. Garnelen mit winzigen blauen Füßen, Stäbchenaugen, gelbgestreift und zerbrechlich. Die Garnelen waren neugierig, liefen über ihre Hand und knabberten an ihren Zehen. So schien es ihr wenigstens. Die Möwen schrien und der Wind streichelte über ihren Körper.

***

Schließlich fuhren sie ans endgültige Ziel ihrer Reise. Die Landschaft war hier ganz anders. Es gab keinen Wind, nur Berge und einen sehr schmutzigen Fluß, und eine Menge Altertümer. Enge ungepflasterte Straßen, begrenzt von hohen Mauern. Der Ort hieß Veliko Tyrnovo. Er lag im Innern des Landes. Sie und ihre Freundin waren an einem Mittwochmorgen um neun Uhr zehn aufgebrochen. Eine knappe Stunde später an der Straße waren sie schweißnaß, als ob sie auf einem heißen Ofen gesessen hätten. Erst um zwölf nahm sie ein Brotauto mit. Zum Glück fuhr der Fahrer ein ganzes Stück in ihre Richtung. Sie konnten warmes Brot kaufen. Gegen zwei kamen sie in die nächste Stadt. Sie durchquerten sie zu Fuß und suchten die Ausfallstraße. Die Rucksäcke waren schwer, und es war heiß. Erst gegen fünf fanden sie die Straße.

Sie waren beide totmüde und hatten ungeheuren Durst. Zum Glück erschien schließlich ein Retter. Ein Lastwagenfahrer mit einer Ladung Schweinefett hielt in ihrer Nähe, da er Probleme mit dem Motor hatte. Gleich neben der Straße gab es einen Weinberg. Sie durften mitfahren und aßen große Trauben des fast reifen Weins. Die Reise dauerte drei Stunden. Als sie ausstiegen, fettverschmiert, wurde es gerade dunkel. Sie suchten einen Platz, um das Zelt aufzustellen. Der einzige ruhige Ort, den sie fanden, war ein Friedhof. Sie erzählte ihm später, daß der Friedhof sehr schön gewesen sei, vor allem der alte Teil, in dem es nur Türkengräber gab. Sie mußten sich beeilen, denn es war bereits Nacht. Sie hatte keine Angst. Sie stellten das Zelt auf. Aßen, redeten, legten sich schlafen. Zwölf Uhr nachts begann ganz in der Nähe eine Glocke zu schlagen. Seltsame Geräusche waren zu hören, ein Donnern und Quietschen, etwa eine Stunde lang. Gegen eins verstummten die Geräusche. Am Morgen stellten sie fest, daß der Friedhof direkt neben einem Rangierbahnhof lag, wo man offenbar mitten in der Nacht Eisenbahnwagen hin und hergeschoben hatte. Sie standen um sechs auf. Es war Donnerstag. Als die Freundin vom Zähneputzen an der Wasserpumpe zurückkam, laufend, mußten sie sich beeilen, denn auf dem Hauptweg des Friedhofs näherte sich eine Beerdigungsprozession. Sie rannten auf die Straße. Dort stiegen sie auf den ersten LKW, der hielt. Als sie das erzählte, bestätigte sie, daß alles die Wahrheit, nichts gelogen sei.

In dem Ort, in dem sie jetzt waren, hatten sie noch keinen Friedhof gesehen. Sie versicherte, daß sie lieber unter den Lebenden sei, obwohl sie gern noch andere Friedhöfe kennenlernen würde.

Sie fühlte sich, als ob sie durch das tagelange Rucksacktragen kleiner geworden wäre. Sie aßen nur Tomaten, Paprika, Äpfel und weißes Brot. Wie sie sagte, konnte man bei ihr schon die Rippen zählen. In dem Brief, den sie ihm in diesen Tagen schrieb, bat sie ihn, nicht den Mut zu verlieren, denn sie käme bald wieder.

***

In zwölf Tagen würden sie schon in die Stadt zurückkehren. Sie hatte sich verändert. Vom vielen Tragen des 15 kg schweren Rucksacks hatte sie abgenommen, und ihre Beine waren hart und hatten die Form von Champagnerflaschen, so viel Kraft hatte sich in ihnen während der gelaufenen Kilometer angesammelt. Ihre Füße erschienen ihr jetzt doppelt so groß. Aus demselben Grund. Ihre Schultern, die die 15 kg getragen hatten, waren müde.

Auf dem Gipfel des Berges Persenk gab es keine Leute. Manchmal begegneten ihnen einige Schafe und wütende Hütehunde, die man mit Steinen abwehren mußte. Ab und zu trafen sie einen Schäfer. Am Tag zuvor war ein Mann auf einem Esel vorbeigeritten und hatte gegrüßt. Es war der Briefträger gewesen.

Seit vier Tagen hatten sie keinen Touristen gesehen. Sie waren ungefähr achzig Kilometer durch stillen Wald gewandert. Sie fühlte sich sehr gut, wenn man von den Blasen an ihre Füßen absah. An diesem Tag waren sie in nur einer Stunde auf den Berg Persenk hinaufgestiegen. Sie aßen ein Stück Wurst. Es war das letzte Stück. Von da an lebten sie nur von weißem Brot und Konserven. Es gab keine Läden in der Nähe. Man konnte keine Eier kaufen. Jeden Tag machten sie ein kleines Feuer im Wald und kochten sich eine Suppe. Sie fand das romantisch. Trotzdem fehlten ihr die Mahlzeiten, die er kochte. Sie sagte, daß sie alles für ein Stück gut gebratenes Fleisch tun würde, mit Reis oder pommes frites, wie man es im Ratskeller bekam. Es fehlten nur noch 12 Tage, bis sie zu ihm zurückkehren würde.

In ihrem letzten Brief an ihn schrieb sie: „Vielleicht klopft im September jemand an Deine Tür, und wenn Du aufmachst, wirst Du niemanden sehen. Wenn Du dann eine Silhouette, einem Geist gleich, zu erkennen glaubst, dann kannst Du sicher sein, daß ich zurückgekommen bin. Den ‚Geist‘ setzt Du dann am besten vorsichtig in einen Sessel und versuchst ihm etwas zu essen zu geben. Möglichst etwas Leichtes und Wohlschmeckendes, zum Beispiel einen valenzianischen Reis… „

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