Ich bin hier, weil ihr dort bei uns gewesen seid
Zu Anfang würde ich gerne ein bißchen über Ihr Leben erfahren. Über Ihre Arbeit als Schriftsteller und gleichzeitig als Diplomat. Ihr politisches Engagement, und wie Sie Ihr eigenes Leben im Zusammenhang mit dem Geschehen in unserer Welt sehen…
Und was sonst noch?
Ja, sicher, das ist ein bißchen viel auf einmal. Also sagen wir, das Verhältnis zwischen der literarischen Arbeit und der Politik, zum Beispiel.
Sehen Sie, das Zentrum meiner Tätigkeit ist ganz klar die Literatur, damit beschäftige ich mich in erster Linie. Wenn ich mich nicht vor allem damit beschäftigt hätte, so hätte ich nicht über zwanzig Bücher veröffentlicht, die ja nicht von selbst entstehen. Alles andere sind eher zusätzliche Tätigkeiten. Ich habe keine eigentliche politische Tätigkeit außer der eines normalen, aktiven Staatsbürgers, als der ich mich innerhalb meines Landes, und darüber hinaus in Lateinamerika und in der Welt, fühle. Und diese Tätigkeit würde ich auch als Ingenieur, Arzt, Architekt oder Schuster ausüben. Das ist der grundlegende Zusammenhang: die zentrale Tätigkeit ist die Literatur, und daneben die eines Staatsbürgers, die mir als wesentlich erscheint, um in unserer modernen Welt leben zu können.
Wie hat sich ihr persönliches politisches Engagement im Lauf der Zeit entwickelt, vor allem in den letzten Jahren, mit all den Veränderungen, die es in der Welt gegeben hat, wie dem Zusammenbruch der Sowjetunion? In Bezug auf Kuba gibt es zum Beispiel zwei Pole unter den berühmtesten Vertretern der lateinamerikanischen Literatur: Vargas Llosa, der heute die kubanische Revolution ablehnt, und Garcia Marquez, der sie mit Zähnen und Klauen verteidigt. Wie stehen Sie zu diesem Thema?
Ich glaube, es gibt hier ein grundlegendes Problem, das ist das US-Embargo gegen Kuba, und solange es nicht aufgehoben wird, wird es sehr schwer sein, sich eine bessere Zukunft für dieses Land vorzustellen. Ich glaube, es ist ein schwerer Fehler der USA, dieses Embargo aufrechtzuerhalten, weil eben das verhindert, daß sich in Kuba die innere politische Situation klärt. Es gibt Castro die Möglichkeit, immer wieder auf die Karte des Antiimperialismus zu setzen, zu sagen: „Wir werden von den Yankies erdrosselt, ich verteidige euch.“ Es wird sehr viele Kubaner geben, die ihn da unterstützen werden, solange das Embargo bestehen bleibt. Verschwindet es einmal, dann werden sich in Kuba Regierung und Bevölkerung Auge in Auge gegenüber stehen, und dann werden sie neue Lösungen suchen müssen, um die extrem tiefen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes zu bewältigen. Und dann wird man eben sehen müssen, wie in Kuba diese unumstrittenen Errungenschaften in solchen Bereichen wie Unterricht und Gesundheitswesen gerettet werden können, wie die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen durchgeführt werden, um diese auch in Zukunft finanzieren zu können. Daraufkommt es letzten Endes an, und hier ist die Frage der Demokratie entscheidend. Aber ich habe immer mehr den Verdacht, daß das Modell, das sich schließlich hier durchsetzen könnte, und nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt, eine Art von kapitalistischem Autoritarismus, ein autoritärer Kapitalismus, ähnlich wie in China, sein wird. Dieses ist in gewisser Hinsicht am leichtesten zu organisieren, jedenfalls leichter als die Demokratie, die nur langsam konsolidiert werden kann und viele Schwierigkeiten aufwirft, während dieser Autoritarismus einfach und effizient sein kann. China zeigt das doch ganz klar: niemand verlangt von China etwas anderes als Effizienz und Wachstum des Binnenmarktes. Das könnte also ein mißratenes Modell für Kuba sein. Aber ich glaube, sowohl wir Mexikaner als auch natürlich die Kubaner verdienen Besseres, nämlich Entwicklung mit Demokratie und Gerechtigkeit – das ist jedenfalls das Ideal, das ich verteidige. Außerdem, Entwicklung ohne Demokratie und ohne Gerechtigkeit, wie früher in Chile unter Pinochet, aber auch soziale Gerechtigkeit ohne Entwicklung und ohne Demokratie wie in Kuba unter Fidel Castro, das alles kann es in Zukunft in Lateinamerika nicht mehr geben. Wir müssen diese drei Dinge -Entwicklung, Demokratie, soziale Gerechtigkeit – gleichzeitig fordern.
In den 80er Jahren hat es in Lateinamerika einerseits eine breite Rückkehr zu demokratischen Institutionen gegeben. Aber gleichzeitig fand eine drastische Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage statt, die weiter anhält, trotz der verdächtig einmütigen Lobeshymnen der westlichen Industrieländer auf Regierungen wie die von Menem in Argentinien und auch die von Saunas in Mexiko, die sehr ähnliche Folgen zu haben scheinen. In Bezug auf diese ultraliberale Politik mit ihren hemmungslosen Privatisierungen, meinen Sie nicht, daß diese Verschärfung der sozialen Abgründe zu sozialen Explosionen und politischen Erschütterungen führen wird?
Es werden wohl sehr bald Risse in diesem Modell aufbrechen. Wir in Lateinamerika imitieren allzugerne und ohne viel Logik das, was wir von außen gezeigt bekommen, und das beste Beispiel ist eben dieses: die extremistische Politik wie von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, diese Idee des Trickledown und der völlig freien Marktmechanismen. Wir nehmen sie wie den letzten Schrei an, als die Rettung. Aber der Preis ist sehr hoch. Auch wenn die Regierung auf ihre Funktionen verzichtet, muß sie doch noch immer von irgendwo Geld auftreiben, sich also letzten Endes verschulden, was zu einer hohen Staats Verschuldung führt. In den USA hat sich das Defizit unter George Bush verdoppelt – nachdem es sich schon von Carter auf Reagan verneunfacht hatte. Das soll also der Konservativismus, eine konservative Politik sein? Nein, in Wirklichkeit ist das eher eine Politik von Verrückten, von Demagogen, die in die Katastrophe führt. Ich hoffe, daß wir uns in Lateinamerika bald darüber klar werden, daß wir eine ausgeglichenere Politik brauchen, mit einem öffentlichen und einem privaten Sektor, sowie einem, den ich den sozialen Sektor nenne, wo regierungsunabhängige Gruppen der Zivilgesellschaft einen wachsenden dritten Pol bilden, eben um dieses Gleichgewicht zwischen Privat- und Staatswirtschaft zu sichern.
Um jetzt auf Ihre Person zurückzukommen: Sie sind Mexikaner, somit Lateinamerikaner, aber auch Weltbürger, sind in einem vorwiegend angelsächsisch geprägten Milieu aufgewachsen
… und in einem französischen …
Sicher, auch französischem, und später waren Sie Botschafter in Frankreich und haben insgesamt eine sehr interessante internationale Erfahrung… Wie kombinieren Sie das alles: Ihre Existenz und Herkunft als lateinamerikanischer Schriftsteller, einer der bekanntesten, auch im deutschen Sprachraum, mit dieser angelsächsischen Tradition andererseits, die in Ihren Werken erscheint, auch offenbar manchmal in autobiographischen Zügen. Wie paßt das zusammen?
Sehen Sie, es hat da einen reisenden Mönch im 13. Jahrhundert gegeben, Hugo de Saint-Victor, einen französischen Mönch, der folgendes gesagt hat: Ein Mann, der sich nur in seinem eigenen Land wohl fühlt, ist sehr weit von der Vollkommenheit entfernt. Weit vollkommener ist derjenige, der sich überall wohl fühlen kann. Und wirklich vollkommen ist nur derjenige, der sich unwohl fühlt. Ich fühle mich in vielen Teilen der Welt zu Hause und bin damit zufrieden. Das ist natürlich vor allem dadurch bedingt, daß mein Vater Berufsdiplomat war und ich schon als Kind in vielen verschiedenen Ländern aufgewachsen bin und viele Reisen gemacht habe. Als Kind eines Diplomaten muß man sich ja schnell an andere Sprachen, andere Freunde, andere Schulen, andere Gebräuche, auch an gewisse Aggressionen und Feindseligkeiten gewöhnen. Und das hilft dann natürlich sehr, um in einer so engmaschig integrierten Welt mit so vielen internationalen Kommunikationen zu leben, wie in der heutigen …
Sie leben hauptsächlich in Mexiko-Stadt, oder wo sonst?
… und in London, in beiden je die halbe Zeit.
Welche Erfahrungen und Eindrücke haben Sie von Wien, da waren Sie doch vor nicht allzu langer Zeit?
Ich war voriges Jahr in Wien und habe dort in der Universität gesprochen …
Wie sind Sie dort empfangen worden?
Ah, wunderbar. Ich war richtig beeindruckt. Wir waren da in einem riesigen Saal der Wiener Universität und dann im Schriftstellerzentrum, mit sehr viel Publikum, später dann in Graz. Ich hatte eine ausgezeichnete Beziehung mit Ihrem Unterrichtsminister Schölten, den ich sehr schätze. Ich habe die Zeit dort sehr gut verbracht. Aber ich komme nur ca. alle zwanzig Jahre nach Wien, so daß ein weiterer Besuch erst wieder in etlichen Jahren auf dem Programm steht… (lacht). Aber die Stadt finde ich bezaubernd, das Leben dort, es fasziniert mich außerordentlich, dieses Geheimnis von Wien, das nicht voll und ganz eine westliche Stadt ist, nicht wahr? Es gibt da ein bißchen orientalisches, balkanisches Flair ganz besonderer Art – als wenn man mit einem Fuß im Osten steht.
Und jener Federschmuck Moctezumas, der im Wiener Museum für Völkerkunde zu sehen ist und den die Mexikaner zurückhaben wollen?
Nein, in Wirklichkeit ist das anscheinend gar kein Federschmuck, sondern eher eine Art Besen …
Erzählen Sie uns ein bißchen von Ihren anderen europäischen Erfahrungen, z.B. von Frankreich. In ihrem letzten auf deutsch erschiedenenen Buch „Constancia“ ist auch viel von Spanien und Rußland die Rede, den beiden geographischen Extremen. Wie sehen Sie diese Prozesse in Europa, darunter die angebliche Einigung Westeuropa?
Ich glaube, das ist ein unvermeidbarer Prozeß, der aber jetzt auf eine Reihe von schweren Hindernissen stößt. Die Voraussetzung dafür war ja die wirtschaftliche Dynamik. Aber jetzt, mit der Rezession und der steigenden Arbeitslosigkeit, wo niemand genau weiß, welche Lösungen gefunden werden können, um die Arbeitsprozesse anzupassen. Oder all die neuen politischen Probleme, die z.B. die wachsende Feindseligkeit gegen Einwanderer mit sich bringen. Diese neue Tendenz zu Fremdenhaß und Neofaschismus, wie bei Ihnen die Partei von Haider, alles das zusammen mit dem politischen Vakuum, das die Sowjetunion hinterlassen hat, stellt enorme Hindernisse für die in Maastricht geplante engere Union dar. Und die Unfähigkeit der Gemeinschaft, etwas gegen die Tragödie in Bosnien, in Sarajewo, zu unternehmen, alles das trägt dazu bei, diesen Prozeß abzubremsen …
In Bezug auf die Fremdenfeindlichkeit, die sich überall ausbreitet, nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in anderen Ländern, haben Sie einige sehr grundlegende Dinge gesagt. Wie würden Sie Ihre Meinung über die Emigration der Europäer nach Amerika früher und die aus peripheren Ländern nach Europa und in die USA jetzt zusammenfassen ?
Fünf Jahrhunderte lang hat sich der Westen kreuz und quer frei über den ganzen Erdball bewegt und überall seine wirtschaftliche, politische, kulturelle und militärische Macht konsolidiert. Und heute wundern sich die westlichen Völker sehr darüber, daß die Leute aus den früheren Kolonien zu ihnen kommen und sagen: „Jetzt sind wir hier“. Ich habe einen algerischen Arbeiter in Paris gesehen, der ein Schild trug, auf dem zu lesen war: „Ich bin hier, weil Ihr dort bei uns gewesen seid!“. Es ist unvermeidbar, solange diese enormen Ungleichheiten zwischen dem Norden und dem Süden existieren, daß die arbeitenden Menschen aus dem Süden, und jetzt auch aus dem Osten, in die wirtschaftlichen Metropolen im Westen strömen. Wenn genügend Arbeitsplätze und Konsummöglichkeiten dort bei ihnen, in der sogennanten Dritten Welt, geschaffen werden, wird dieses Phänomen verschwinden. Aber diese fremdenfeindlichen, rassistischen Maßnahmen wie das kürzlich beschlossene infame Balladur-Gesetz in Frankreich oder jene, die in Österreich Haider und in Deutschland die Neonaziparteien vorschlagen, alles das hilft da nichts und kann letzten Endes nur zu neuen Massakern, einem richtigen Holocaust, führen. Schon jetzt sind die humanitären Werte Europas in Gefahr.
Sie wissen, daß in den Ländern Mitteleuropas das Thema Umwelt sehr ernst genommen wird, nicht zuletzt weil dort die Probleme schon sehr akut geworden sind. Mexiko-Stadt ist in dieser Hinsicht heute sicher ein schreckliches Beispiel. Sie haben, ich glaube, in ihrem Werk „Christoph ungeboren“ ein entsetzliches Bild davon gezeichnet. Wollen Sie uns das ein bißchen näherbringen und aktualisieren?
Aber sicher. Ich zeige dort ein apokalyptisches Panorama von einer Stadt, die wirklich an der Umweltverschmutzung zugrunde geht, ja buchstäblich in Scheiße erstickt. Und das habe ich weniger als Prophezeiung geschrieben, ich hoffe ja, daß das nicht so schlimm werden wird, sondern eher als eine Art Exorzismus, um da sozusagen als Hexer zu versuchen, die Verschlimmerung der Lage aufzuhalten. Es gibt Verbesserungen, aber die kommen viel zu langsam. Wir haben noch keine Kontrolle über die demographischen Prozesse, wir haben noch keine Normen eingeführt wie jene, die z.B. aus London und selbst aus Los Angeles sauberere und bewohnbarere Städte gemacht haben. Bei uns fehlt dazu noch viel.
Um einen Blick auf den Osten werfen, was meinen Sie, wie die Entwicklung in Osteuropa, Rußland, der früheren Sowjetunion weitergehen könnte?
Die frühere Sowjetunion hat ihre Gelegenheit verpaßt, zu einem wirklich föderalen Staat zu werden. Ich bewundere Gorbatschow sehr und alles, was er gewollt hat. Aber ich glaube, er hat es versäumt, rechtzeitig die Sowjetunion in einen echten Bundesstaat umzuwandeln. Und dann kam der Putschversuch und schließlich diese russische Version von Fujimori, die Jelzin heißt. Das Land ist heute, wie es scheint, inmitten eines Prozesses der Desintegration, der zu einem gigantischen politischen Vakuum führen kann, das ja nicht weniger als ein Sechstel der Erde betrifft und zweifellos sehr schwere Folgen auch für alle anderen Teile der Welt haben wird. Es wäre also sehr dringend, daß in der früheren Sowjetunion demokratische Instanzen entstehen. Ich habe Vertrauen in einen Politiker, ich hoffe, Gorbatschow könnte zurückkommen und die Sache mit Intelligenz in die Wege leiten. Auch Sobtschak, der Bürgermeister von Sankt Petersburg, ist, glaube ich, ein anderer, jüngerer Politiker, vielversprechend, intelligent und mit demokratischer Gesinnung. Aber ich fürchte, auch die ehemalige Sowjetunion wird in das chinesische Modell mit seinem autoritären Kapitalismus fallen. Hoffentlich kommt es nicht dazu, aber ich fürchte, der Gang der Dinge, la force des choses, könnte dieses immense Land auf diesen negativen Weg führen.
Indem er voll und ganz Jelzin unterstützt, hat der Westen nicht einen riesigen Fehler begangen?
Damit ist ja auch Fujimori gerechtfertigt worden, nicht wahr, darum nennen wir Jelzin in Lateinamerika ja „Fujiboris“. Man kann doch nicht so verschiedene Maßstäbe anwenden. Alles was Fujimori gemacht hat, ist verurteilt worden, aber bei Jelzin ist es dem Westen dann hervorragend vorgekommen, um die Demokratie zu retten. Was sind da also die Kriterien?
Als Gesamtbilanz dieser 70 Jahre Sozialismus oder wie immer wir das nennen mögen, was hat es ihrer Meinung nach Positives gegeben, oder war alles nur negativ?
Das wird die Geschichte zeigen. Wir sehen doch, daß jetzt z.B. in Polen und in Italien die früheren Kommunistischen Parteien wieder Aufwind bekommen. Was ich glaube, ist, daß der Zusammenbruch des Kommunismus östlich der Elbe nicht den Sieg der sozialen Gerechtigkeit gebracht hat, weder im Osten noch im Westen der Elbe, weder im Norden noch im Süden des Rio Grande in Amerika. Was vom Sozialismus bleibt, ist vielmehr eine Art Enthüllung der sozialen Ungerechtigkeiten in der kapitalistischen Welt, die jetzt wieder in den Vordergrund rücken, nachdem sie bisher weitgehend vom Kalten Krieg und bei uns in Lateinamerika mit den antikommunistischen Parolen unserer sogenannten „Politik der nationalen Sicherheit“ verdeckt worden sind. Diese Politik hat bekanntlich dazu gedient, unsere Staatsbürger, unsere Demokraten zu unterdrücken, indem die schweren sozialen Probleme aus dem Blickfeld gerückt wurden. Wer von diesen Problemen gesprochen hat, wurde zum Kommunisten abgestempelt und manchmal umgebracht. Aber jetzt ist der Kommunismus verschwunden, und da haben wir die Gelegenheit, in Lateinamerika eine unabhängige Linke zu entwickeln, eine demokratisch organisierte Zivilgesellschaft. Vorher hat es ja zwei schreckliche Hindernisse gegeben, einerseits die Sowjetunion mit ihren theologisch anmutenden Dogmen, die für die lateinamerikanische Linke so viel Entfremdung gebracht haben, und andererseits der Antikommunismus als Vorwand für die Interventionen der Vereinigten Staaten in Lateinamerika. Das sind zwei grundlegende Dinge.
Und wird es nicht andere Vorwände geben?
Es wird immer welche geben. Einer davon ist der Drogenhandel. Aber mehr und mehr sagt Lateinamerika den USA: „Kümmert euch doch besser um das Problem in den USA selbst, wo ja schließlich die Wurzel des Problems liegt.“ Das ganze Problem existiert doch nur deshalb, weil es dort eine so große Nachfrage gibt, sonst gäbe es ja kein lateinamerikanisches Angebot. In Kolumbien werden Kapos der Mafia getötet, in Mexiko werden Drogenhändler festgenommen, aber haben Sie schon einmal gehört, daß in den USA das Gleiche passiert? Hier ist das Problem, dort ist der Konsum. Es gibt nichts, was diesen Drogenhandel in die USA aufhält. Warum? Weil es viel leichter ist, Bolivien unter militärische Kontrolle zu stellen, als das Gleiche hi der Bronx zu tun …
Das führt mich zu einer anderen wichtigen Frage. Sie wissen, daß sich Ernesto Sabato immer sehr kritisch über diese sogenannte „Erste Welt“ äußert, die von vielen hier so naiv idealisiert wird. Sie sind ein Mann der Dritten Welt, der diese Erste Welt gut kennt, und würden Sie also sagen, daß wir in Westeuropa oder Nordamerika ein gutes Beispiel abgeben?
(lachend) Nein, also bitte, in keiner Weise! Ihr habt doch so viele Probleme dort. Wir haben z.B. eine viel bessere Erfahrung. Hier spreche ich natürlich vor allem von meinem Land, Mexiko, in puncto Schaffung von neuen Kulturen, die aus der Mischung zwischen ganz verschiedenen Bevölkerungsanteilen hervorgegangen sind. Da haben wir also hier in den letzten fünf Jahrhunderten in Lateinamerika eine bedeutende eigene Kultur hervorgebracht, mit den europäischen, indianischen und afrikanischen Elementen, also wirklich multikulturelle, mestizische Gesellschaften. Das ist ein enormer Vorteil im Vergleich zu Europa, wo Einwanderer mit dunklerer Haut sofort Angst und Ablehnung hervorrufen. Es gibt also bei uns weniger Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und mehr Bewußtsein, daß alle diese Beiträge ihren Wert haben. Das ist sicher ein großer Vorteil, der für uns spricht.
Also die „kosmische Rasse“, von der einst Vasconcelos gesprochen hat?
Genau, die kosmische Rasse von Vasconcelos.
Aber es kann sich nicht nur um das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen handeln. Es geht auch um das Gesellschaftsmodell. Und da habe ich den Eindruck, daß die lateinamerikanischen Länder heute in eine Sackgasse laufen, mit einem entfesselten und verantwortungslosen Konsumwahn, ökologisch verantwortungslos und in sozialer Hinsicht zerstörerisch. Was meinen Sie dazu?
Eben diese Probleme, die Sie erwähnen, rufen die Entstehung regierungsunabhängiger Organisationen hervor, die noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen wären: Umweltgruppen, Menschenrechtsorganisationen, Frauenbewegungen, Bürgerinitiativen lokaler, kirchlicher und intellektueller Natur, dazu neue Gewerkschaften und Genossenschaften, also eine Reihe von neuen Gruppen in Lateinamerika, die die Zivilgesellschaft vertreten und genau darauf abzielen, diese Probleme ernsthaft in den Griff zu bekommen. Und das wächst und wächst unaufhaltsam, so daß es zu einer gewissen Dezentralisierung kommt: Die Macht wird nicht mehr nur von oben, von der Regierung, ausgeübt, wie es früher immer war und wie es der Tradition der indianischen Gesellschaften, der spanischen Kolonien, der unabhängigen Republiken und auch dem Einfluß des französischen bürokratischen Zentralismus entspricht, den wir immer so bewundert haben. Heute kommt es stattdessen immer mehr zu einer Formulierung von Alternativen „von unten“ und von der Peripherie der Gesellschaft her. Das ist eine Entwicklung, die noch in den Kinderschuhen steckt, aber ich glaube, sie wird immer mehr ihre Stärke zeigen, und das gibt mir recht viel Hoffnung.
A propos Frankreich, Ihre Erfahrung in Paris, Sie waren da etliche Jahre Botschafter, schon vor einiger Zeit…
Ja…
… welche Inspirationen hat Sie Ihnen gegeben, in einer dieser Städte, die zweifellos Zentren der Kultur sind, aber die sich oft allzu wichtig nehmen? Können Sie uns davon erzählen?
Sie hat mich zu einen Roman inspiriert, „Una familia lejana“ , der auf deutsch unter dem Titel „Die Heredias“ veröffentlicht worden ist. Es ist die Geschichte einer französischen Familie lateinamerikanischer Abstammung und somit die Verflechtung der beiden Geschichten, der französischen und der lateinamerikanischen. Auch durch die Gestalten vieler Persönlichkeiten, die an beide gebunden sind, wie Lautreamont, der Uruguayer war, oder Jules Supervielle und vielen anderen, so wie auch die Westphalen, die Verwandten von Marx, die alle in Peru gelandet sind. Es gibt da also eine Reihe von Kommunikationen, die in aggressiver und gleichzeitig geisterhafter Weise erschienen. Lateinamerika taucht hier sehr phantastisch und mysteriös auf, so daß sich z.B. eine Wohnung im feinen 16. Arrondissement plötzlich mit Lianen und der ganzen Flora und Fauna der Tropen anfüllt, ohne daß irgend jemand versteht, warum. (lacht) Also, das ist der ewige Kampf zwischen Versailles und dem Amazonas, der Kampf, den wir mit den Franzosen haben. Lateinamerika hat Frankreich allzusehr idealisiert, weil wir es als eine Art Punkt des Gleichgewichts gesehen haben zwischen zwei Extremen, die wir abgelehnt haben: dem nördlichen, germanischen und angelsächsischen Extrem, und dem südlichen, mediterranen, also italienischen und spanischen, den wir als faul, unpünktlich und Wurzel unserer übelsten Schwächen angesehen haben, während uns die Stärke des Norden auch nicht sehr gefallen hat. Also Frankreich lag da eben in der Mitte, und wir dachten, so ungefähr sollten wir sein. Dieses Bild hat sich in neueren Zeiten natürlich sehr verdunkelt. Mir hat es gut gefallen, dort zu leben. Frankreich ist ein Land, das ich sehr schätze, wo ich viele Freunde habe, und als Botschafter hat man noch mehr Möglichkeiten, sich einem Land zu nähern, Gesellschaftskreise kennenzulernen, die man normalerweise als Schriftsteller nicht trifft. Also für mich war das eine überaus interessante Erfahrung und ich war damit sehr zufrieden.
Fühlen Sie sich Europa näher oder den USA?
Ja, ich weiß nicht recht, da komme ich zu jenem französischen Mönch zurück, ich fühle mich sowohl in Europa als auch in den USA sehr wohl, und natürlich in Lateinamerika. Am nächsten stehe ich selbstverständlich zuerst einmal Mexiko, dann auch den USA, weil ich dort als Kind in der Schule war, und dann Chile und Argentinien, denen ich viel zu verdanken habe und wo mich mehrere Jahre Aufenthalt intellektuell sehr bereichert haben. Und dann sicher Frankreich und Spanien in Europa. Das sind also sozusagen die Länder, die mir am nächsten stehen.
Eine zentrale Figur in ihrer Erzählung „Constancia“, ein US-Amerikaner, sagt an einer Stelle, in den USA sind wir so demokratisch, daß wir einen geistig Minderbemittelten wie Ronald Reagan zum Präsidenten wählen. Wer spricht da, diese Figur oder der Autor?
Es spricht diese Figur, aber in diesem Fall denkt der Schriftsteller das Gleiche. Ronald Reagan hat doch einen leeren Kopf, er ist ein ausgesprochen dummer Mensch. Heute dagegen, das möchte ich betonen, gibt es einen US-Präsidenten, Clinton, der viel im Kopf hat, der gebildet ist. Das ist ein großer Unterschied zu den beiden Idioten, die seine Vorgänger waren, nicht wahr?
Ich würde Sie gern um ihre Meinung über die lateinamerikanischen Präsidenten fragen, aber würden Sie etwas über den einen oder anderen sagen wollen?
Nein, danke, das will ich nicht.
In Deutschland hat man Sie gelegentlich kritisiert. Sie wären ein sehr kreativer Autor, aber schwer zu lesen, manchmal heißt es da sogar, es wäre eine Totur, Sie zu lesen, weil Ihre Werke kompliziert und verworren seien. Vielleicht ist das auch, weil die deutschsprachigen Leser nicht diese lateinamerikanische Magie verstehen…
Ja, aber es kann auch sein, daß viele meiner Bücher im Lauf der Zeit verständlicher werden, das passiert auch. Es kommt vor, daß ein Buch zuerst als schwer verständlich angesehen wird und dann aber vom Publikum besser aufgenommen wird. Als „La region mas transparente“ (dt.: „Landschaft in klarem Licht“), mein erster Roman, in Mexiko erschien, meinten alle, wie schwer das ist, man versteht nichts, die Leute kannten nicht die literarischen Techniken, die ich da verwendet hatte. Und heute ist er ein obligatorischer Text in den religiösen Schulen, bei den Nonnen, für Mädchen von 15 Jahren, wer hätte das gedacht? Und um andere Autoren zu nennen, „Le rouge et le noir“ von Stendhal ist zu seinen Lebzeiten in ganzen 80 Exemplaren verkauft worden, und heute ist das einer der großen Klassiker. Mit manchen Werken passiert das eben, viele klassische Texte erreichten bei ihrem Erscheinen nicht die Zustimmung, die sie später erhielten. Sie werden im Laufe der Zeit als leichter verständlich angesehen. Aber wie dem auch sei, der Schriftsteller sollte niemals deswegen Verrat an seinem eigenen Stil begehen und sagen, jetzt schreibe ich wie Danielle Steele oder Jackie Collins. Das hat keinen Sinn. Diese Bücher sind schon geschrieben, wer sie will, weiß, wo er sie bekommt, das ist die Flughafenliteratur. Die Herausforderung, das ist z.B. bei Euch Thomas Bernhard. Sagen Sie mir doch nicht, daß der leicht zu lesen ist. Er ist ein sehr schwerer Autor, aber er wird die Zeiten überdauern. Er hat eine neue Zone des Bewußtseins erforscht, die der Figur, nicht so sehr der Psyche der Persönlichkeit, sondern der Figur, die hier entsteht. Das ist es, was mich besonders interessiert. „Terra Nostra“ zum Beispiel ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, also die Marionetten der Geschichte wie Phillipp II. und Carlos el Hechizado (Karl der Verzauberte) werden den entstehenden Figuren gegenübergestellt, also den Jungen, die da auf dem Strand des Kantabrischen Meeres erschöpft auftauchen, mit einem Kreuz auf dem Rücken als Erkennungszeichen. Das sind Figuren, die nahezu aus dem Meer und dem Sand erscheinen, im Gegensatz zu den versteinerten Figuren der Geschichte. Das psychologische Subjekt ist verloren gegangen, und das wirft ein Problem für den Romanschreiber auf. Einfach mit dem psychologischen Subjekt des Romans aus dem 19. Jahrhundert weitermachen, das führt zu diesen infamen Bestsellern, die man auf jedem Flughafen der Welt finden kann. Mich interessiert das nicht, und das interessiert, glaube ich, auch Arnold Schmidt oder Günter Grass oder Thomas Bernhard nicht, um mich auf Autoren deutscher Sprache zu beschränken.
Manchmal gibt es autobiographische Aspekte in Ihren Werken, nicht wahr?
Sehr selten, in Wirklichkeit verwende ich das nicht oft.
Wenn Sie kurz auf Ihr Leben zurückschauen, was waren die besonders prägenden, entscheidenden Ereignisse, im Privatleben und beruflich?
Im Privaten, natürlich, die Liebe und die Kinder.
Wieviele haben Sie?
Drei, und das ist für mich sehr bedeutend.
Sie leben alle in Mexiko?
Meine Söhne ja, meine Tochter aber nicht, sie lebt jetzt in London und studiert dort Schauspielkunst.
Würden Sie selbst noch irgendetwas hinzufügen?
Nein (lacht), wir haben doch schon so ziemlich alles behandelt, es bleibt nichts mehr im Tintenfaß. (…).
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Interview mit Carlos Fuentes Buenos Aires am 4. Dezember 1993.
Das Interview führte Vikor Sukup.
Der Österreicher Dr. Viktor Sukup ist Ökonom und Politologe und Autor mehrerer Bücher über Lateinamerika, Lehrbeauftragter an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Buenos Aires, Argentinien.
Alle Rechte bei ALASEI-Bonn.
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Fuentes über den Prozeß des Älter werdens
Ich lebe damit sehr gut, jeden Abend gehe ich mit der Vorstellung schlafen: „Wie phantastisch! Morgen stehe ich auf und schreibe wieder“. Ich bin also ungeduldig, am nächsten Tag weiter zu arbeiten, und solange ich diesen Geist beibehalten kann, werden ich mich weiterhin jung und lebendig fühlen.
Fuentes über das „Schreiben“
Das ist eine sehr leichte Frage, es bedeutet, glücklich zu sein. Für mich ist das ganz einfach das persönliche Glück.
Fuentes zur Ex-Sowjetunion
Das Beste, was der Ex-Sowjetunion passieren könnte, ist, daß die Deutschen sie besetzen und bis nach Wladiwostok kommen, um dort den Japanern die Hände geben und dann zusammen mit billiger chinesischer Arbeitskraft die Welt zu verändern. Das würde ich in einer Bismarck’sehen imperialen Vision der Zukunft der Menschheit sagen. Aber so wird es nicht kommen, weil Deutschland die Schwierigkeiten und Kosten der nationalen Vereinigung bewältigen muß. Das hält die Deutschen von dem ab, was, wie ich glaube, ihre Berufung gewesen wäre, nämlich das ganze Wirtschaftsleben der ExSowjetunion zu reorganisieren.
Zu Franz Kafka
Nein, ich weiß nicht, ob er mich sehr inspiriert hat. Es wäre natürlich sehr unbescheiden von mir, zu meinen, ihn irgendwie imitieren zu können. Er ist der hervorragendste Autor des 20. Jahrhunderts, der absolut wesentlichste der Literatur diese Jahrhunderts. Sie können alle anderen, einschließlich Faulkner, James Joyce und Proust, weglassen und ins 19. Jahrhundert, zurückversetzen, und das würde nicht viel bedeuten. Aber ohne Kafka ist die ganze Literatur des 20. Jahrhunderts undenkbar. Er war der realistischste Autor des 20. Jahrhunderts. Er ist schon lange tot, aber immer noch sehr aktuell …Er ist aktuell, solange es Leute gibt, die Ungerechtigkeiten erleiden, von der Irrationalität beherrscht werden, von der Willkür von Gesetz und politischer Macht, wie das für einen großen Teil der Menschheit zutrifft. Er ist universell und was er gesagt hat, ist somit sogut wie ewig gültig.
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wichtigste Werke:
La región mas transparente (Roman, 1958; dt.: Landschaft im klaren Licht).
Las buenas conciencias (Roman, 1959; dt.: Die guten Gewissen).
La muerte de Artemio Cruz (Roman 1964; dt. Der Tod des Artemio Cruz).
Cambio de piel (Roman 1966; dt. Hautwechsel).
Terra nostra (Roman 1975).
Las familias lejanas (Roman 1980; dt. Die Heredias).