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Der Kornwurm

Manuel Suazo | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Terencio Urtecho war ein Säufer, daran bestand kein Zweifel. Schon als junger Mann hatte er mit dem Schnaps angefangen. Seme Mutter hatte sich weder um seine Erziehung gekümmert noch ihn in irgendeiner Weise aufs Leben vorbereitet. Ihre Augen waren ausschließlich auf ihren ältesten Sohn gerichtet, einem lebendigen Abbild seines verstorbenen Vaters, welcher nicht der Vater von Terencio Urtecho war. Dieser Stiefbruder von Terencio Urtecho hatte denn auch die Grundschule besucht und sein Examen bestanden, wiewohl unklar blieb, wie er das zustandegebracht hatte.

Terencio Urtecho dagegen war beinahe ein Analphabet. Schreiben konnte er kaum; im Lesen brachte er es etwas weiter, jedoch las er stockend, obwohl er täglich eine der beiden Zeitungen des Landes durchlas, sich an den Nachrichten und kleinen Neuigkeiten ergötzte, die er darin fand. Zuweilen versuchte er sich auch an Wildwestgeschichten in Groschenheftchen.

Terencio Urtecho trug den Spitznamen „der Kornwurm“. Das war der Name, den er seinem ersten Fahrrad gegeben hatte. Das Fahrrad war gelb, von einem blassen, häßlichen und geschmacklosen Gelb, und mit diesem Fahrrad radelte der „Kornwurm“ durch die staubigen Straßen der Hauptstadt und verteilte Pakete und Briefe für das Zentralpostamt.

Dann lernte er Maria Marisol Carranza Bolivar de Sandoval kennen und verliebte sich Hals über Kopf in sie. Sie war die jüngere Schwester von Apolonio del Socorro, der ebenfalls auf dem Zentralpostamt arbeitete. Trotz des großen Altersunterschiedes zwischen Apolonio und Terencio – Apolonio war wesentlich älter und hatte einen höheren Posten im Zentralpostamt inne -verband die beiden bald eine enge Freundschaft. Apolonio del Socorro beschäftigte Terencio als seinen Botenjungen und nahm ihn außerdem auf seinen Sauftouren mit, denn Apolonio del Socorro goß sich gern einen hinter die Binde.

Über Apolonio traf Terencio auf Maria Marisol, die zu dieser Zeit mit Esteban Martin Madrigal Rodriguez verheiratet war und zwei Kinder mit ihm hatte. Maria Marisol war zehn Jahre älter als Terencio. Die Liebe Terencios zu ihr war zunächst durch tiefes Schweigen und große Erwartungen gekennzeichnet.

Einige Jahre später, als Maria Marisol schon von Esteban Martin geschieden war, heiratete Terencio Urtecho Dionisia Amapola Diaz Campbell, eine tiefschwarze Schönheit aus Puerto Somoza. Dionisia Amapola gebar Terencio Urtecho vier Kinder. Er verließ seine Frau und seine Kinder, um mit Maria Marisol zu leben.

Die Verbindung von Maria Marisol mit Terencio wurde von der Familie Carranza Bolivar mißbilligt, da man wußte, daß Terencio ein armer Teufel ohne Zukunftschancen war, ein Briefträger im Zentralpostamt, noch dazu ein Säufer, genau wie Apolonio del Socorro, der die Schande der ganzen Familie war. Außerdem war er viel zu jung für Maria Marisol. Und natürlich wurde die Verbindung auch von Terencio Urtechos Familie nicht gern gesehen, denn Maria Marisol gehörte einer höheren Schicht an und war ein bißchen alt für Terencio, was nur zu erwarten ließ, daß er bald unter dem Pantoffel stehen würde.

In der ersten Zeit seines Zusammenlebens mit Maria Marisol betrug sich Terencio tadellos, war aufmerksam, hilfsbereit und zurückhaltend und trank fast überhaupt nicht. Später jedoch, nach dem Erdbeben von 1972 und nachdem ihm Maria Marisol eine Tochter geboren hatte, welche ihm aufs Haar glich, änderte er sein Benehmen schlagartig, begann sich wie ein Macho aufzuführen, war grob und unbeherrscht. Er war nicht mehr der liebenswürdige und sanfte „Kornwurm“ . Wenn er sich betrank, wurde er zu einem wüsten Kerl, verprügelte seine Frau und bot der Nachbarschaft ein Schauspiel ohnegleichen. Einige Male legte er sich sogar mit einem der Söhne von Maria Marisol an.

Niemand konnte begreifen, wieso Maria Marisol die unerträglichen Rohheiten des betrunkenen „Kornwurms“ hinnahm. Ihre älteren Söhne warfen ihr Charakterlosigkeit vor und verlangten von ihr das Mindestmaß an Achtung, das sie ihnen schuldete. Maria Marisol kümmerte sich nicht darum und biieb bei ihrem Mann. Eines Tages ging der Älteste von ihnen außer sich vor Wut zu ihr und forderte die Trennung von Terencio Urtecho. Das war, nachdem er sich mit Terencio geprügelt hatte, als dieser stockbetrunken nach Hause gekommen war und einen Riesenrabatz veranstaltete. Maria Marisol hatte ihm deswegen die Meinung gesagt, und der Kornwurm war auf sie losgegangen mit der Absicht, es ihr rigoros heimzuzahlen, und dabei war er von Maria Marisols Söhnen gesehen worden, worauf der Älteste von ihnen eingriff, ohne daß ihn die anderen hindern konnten, und eine Flasche auf dem Kopf des Kornwurms zerbrach. Der war darauf noch wütender geworden und hatte seinen ganzen Zorn nunmehr gegen seinen Angreifer gerichtet. Er hätte ihn umgebracht, wenn nicht einige Nachbarn rechtzeitig dazugekommen wären und später die Polizei, die ihn mitnahm.

Maria Marisol sah ihren ältesten Sohn an, dessen Wangen deutliche Spuren der Schläge zeigten, ebenso wie seine Lippen und seine stark mitgenommene Nase, aus der ihm das Blut strömte, und gewahrte seine rasende Wut. Sie fuhr ihn barsch an: „Misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen! Mein Gott, in jeden Dreck mußt du deine Nase stecken! Was zwischen mir und meinem Mann passiert, hat dich nicht zu interessieren, verstanden? Terencio ist mein Problem, nicht deins. Laß mich in Frieden, sieh dir lieber deinen Vater an, wie der lebt! Klar, hat ja auch nichts auszustehen, der Scheißkerl, einfach abgehauen ist er, nachdem ich ihn jahrelang ausgehalten und ihm das Studium bezahlt hab!“ Terencio blieb nur zwei Tage im Gefängnis; Maria Marisol holte ihn raus, indem sie ein hohes Bußgeld für ihn zahlte.

So vergingen die Jahre, und das Verhältnis zwischen Maria Marisol und ihren Kindern wurde immer eisiger, die Schranken, die sie trennte, immer höher. Maria Marisol bekam noch drei Kinder von Terencio, zwei Mädchen und einen Jungen; und wie es in den Vierteln der einfachen Leute üblich ist, bekamen sie sofort den Spitznamen ihres Vaters – die Leute nannten sie „die Kornwürmchen“. Als die Töchter ihres ersten Mannes zu jungen Frauen heranwuchsen, verschärfte sich der Konflikt mit ihren Töchtern und Söhnen, zumal Terencio unaufhörlich trank. Zwar schlug er sie nicht wie in den ersten Jahren, aber er kam häufig volltrunken nach Hause und benahm sich dann wie ein Wahnsinniger. Mehrmals urinierte er auf den Fußboden im Flur und spuckte in die Zimmer. Maria Marisol vermochte es dann nicht, ihn zur Besinnung zu bringen, und wenn sie es versuchte, endete das zumeist mit einem gewaltigen Krach zwischen den beiden.

Esteban Martins Kinder nahmen das alles mit wachsendem Widerwillen zur Kenntnis und verloren immer mehr die Achtung vor Maria Marisol. Schließlich entlud sich eines Tages wie aus heiterem Himmel ihr ganzer aufgestauter Zorn. Die jüngste Tochter schrie in Mißachtung aller Sitten ihre Mutter an: „Nie im Leben hättest du dich mit diesem Nichtsnutz einlassen dürfen! Das einzige, was er zustande bringt, ist dich zu schwängern und dich zu verprügeln, wenn er betrunken nach Hause kommt! Ich begreife nicht, wie du es so lange mit ihm ausgehalten hast. Meine Güte, du hast uns das Leben kaputtgemacht, nur dein besoffener Terencio hat dich interessiert, wir waren dir egal. Du bist eine schlechte Mutter…!“ Maria Marisol erwiderte ihrer Tochter: „Eine schlechte Tochter bist du und eine Lügnerin obendrein, vom selben Holz wie dein Vater und seine Sippe! Dein Vater hat an allem schuld, wieso hat er uns verlassen, als ihr noch klein wart, und du warst gerade erst geboren…“ und sie brach in Weinen aus.

Maria Marisol gab nichts auf die Beschwerden ihrer Kinder. Sie fühlte sich stets als Märtyrerin, für sie war Esteban Martin der Teufel, und alles, was an Schlimmem passierte, war ihm zuzuschreiben. Als Gipfel der Ungerechtigkeit erschien ihr, daß die Kinder von Esteban Martin ihr offenbar nicht dankbar waren und sich unerhört betrugen. Maria Marisol konnte nicht akzeptieren, daß ihre Kinder anderer Ansicht über sie waren, und so spielte sie manchmal mit ihren Gefühlen, gab sich als opferbereite Mutter oder brüllte sie unbedacht an, sie seien verdammte Hurensöhne.

Im Jahr 1978 bekam Maria Marisol die Gelegenheit, in den USA zu arbeiten. Sie wollte nicht länger als drei oder vier Jahre bleiben und in dieser Zeit die hoffnungslose finanzielle Lage der Familie bessern. Sie ließ ihre kleineren Kinder in der Obhut der ältesten Tochter Maria Madrigal zurück, die kaum 22 Jahre alt war. Von den USA aus schickte sie jeden Monat Geld an die älteste Tochter, damit die zahllosen Rechnungen beglichen wurden. Terencio lebte im Haus von Maria Marisol, da er, wie er sagte, auf sie wartete.

Maria Marisol hatte nie Charakter besessen. Sie hatte einen schwachen Willen, außerdem schwindelte sie häufig. Ihre Kinder wußten nie, wann sie die Wahrheit sagte und wann sie log. Um sie rankte sich immer ein Schleier des Geheimnisvollen. Ihre Kinder hatten keine Ahnung, was sie in den USA tat oder nicht tat. Als sie drei Jahre dort verbracht hatte, entschloß sie sich, ihren Aufenthalt um weitere zwei Jahre auszudehnen. Die Kinder verstanden sie.

Maria Marisol teilte ihnen mit, daß sie sich in Washington überaus langweile, sich danach sehne, zurückzukommen und das angenehme und ruhige Leben zuhause zu führen, und daß sie ihr sehr fehlten; trotzdem vergingen sie Jahre, gleichmäßig und ohne Veränderungen, und sie kam nicht zurück, so sehr sie es auch zu wollen behauptete.

Um Maria Marisol rankten sich mit der Zeit eine Menge Geschichten: so zum Beispiel, daß sie einen anderen Mann habe, einen Puertorikaner, und daß sie von ihm ein Kind habe, daß sie ihn heiraten wolle, weil sie ihn liebe, nein, weil sie so ein ständiges Aufenthaltsrecht bekäme, nein, weil sie es schon hatte, schließlich war sie schon über fünf Jahre dort, ach, wer weiß, aber eins war sicher, der Puertorikaner war ein großer Lebemann, und sie hielt ihn aus, genauso wie sie Terencio aushielt, und genauso wie Terencio ließ er sich nicht nur aushalten, sondern er trank ziemlich oft und prügelte sie dann.

Der Kornwurm erfuhr von diesen Gerüchten durch seine Stiefschwester, die in Washington lebte. Er wurde sehr zornig und verließ das Haus. Er begann mehr zu trinken, als sein Körper vertrug. Nach kurzer Zeit bereits kam er jedoch zurück zu seinen Kindern und Stiefkindern, weil er sich, trotz allem, zur Familie gehörig fühlte und sie ihm sehr gefehlt hatten in der Zeit, da er weggewesen war.

Maria Marisol sprach am Telefon nie mit Terencio, und ihrer ältesten Tochter trug sie auf: „Wirf ihn raus so schnell wie möglich, den unverschämten Nichtsnutz und Schmarotzer!“ Als ihre Tochter nichts dergleichen tat, obwohl Maria Marisol immer wieder davon anfing, drängte sie schließlich ihren Sohn. Der jedoch erwiderte: „Sie und niemand sonst müssen mit Teren-cio reden. Sagen Sie es ihm selbst, klar und deutlich! Das ist weder mein Problem noch das meiner Geschwister. Damals haben Sie uns klipp und klar gesagt, daß uns Ihre Beziehung zu Te-rencio nichts angeht. Verzeihen Sie mir, daß ich das sage, aber als Sie mit ihm anfingen, haben Sie keinen gefragt, ob es richtig war oder nicht.“ Worauf Maria Marisol nie mehr an die Sache rührte.

Die Jahre vergingen gleichförmig, und nichts änderte sich. 1997 starb Terencio Urtecho. Der Alkohol hatte ihn letzten Endes besiegt. Die Frist, die ihm seine Leberzirrhose gewährt hatte, war abgelaufen. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er bei den Kindern von Maria Marisol. Sie begleiteten ihn zu seiner letzten Ruhestätte.

Maria Marisol kehrte nie mehr in ihr Land zurück. Zwei Jahre nach dem Tod von Terencio teilte der Sohn Maria Marisols und des mittlerweile verstorbenen Puertorikaners seinen unbekannten Stiefgeschwistem mit, daß sie nicht mehr am Leben war. Einundzwanzig Jahre waren vergangen, seitdem sie sich auf den Weg nach den USA gemacht hatte. Während dieser Zeit hatte sie ihren Kindern immer wieder versprochen, daß sie nach Hause zurückkäme, was auch geschehe, nur war sie nie gekommen, denn da gab es noch dieses, was sie zurückhielt, und jenes, was sie zwang, noch ein Jährchen zu bleiben und noch eins und noch eins, bis schließlich der Tod sie in den dichtgedrängten Straßen Washingtons erreichte, und ihr Herz auf Ewigkeit anhielt. In den letzten Jahren hatten ihre Kinder ihr kaum mehr geglaubt, wenn sie versicherte, daß sie noch dieses Jahr zurückkäme, und das jedes Jahr aufs neue, dasselbe Lied, sie komme bald zurück. Für sie wurde die Mutter langsam zu einer fernen Erinnerung, zu einer entfernten Verwandten, die weit weg war, die gern in ihre Heimat zurückkehren wollte, es aber nicht konnte, weil sie in jenem anderen Land schon ein anderes Leben, eine andere Familie hatte.

aus: Manuel Suazo: Prosa – 1989.
Übersetzung: Anibal Ramirez

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