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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Chávez: Washingtons Erzfeind, Lateinamerikas Held

Laura Carlsen | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Venezuela: Chávez, Obama, Maduro - Foto: El EnigmaMan konnte den Seufzer der Erleichterung aus Washington förmlich hören, als der Tod von Hugo Chávez am 5. März bekannt gegeben wurde.

Präsident Obama gab eine kurze Stellungnahme ohne jegliche Beileidsbekundung ab. Ein hochrangiger Beamter des Außenministeriums sah sich deshalb genötigt, am nächsten Tag sein persönliches Beileid auszusprechen, um die offensichtliche Gefühlskälte und den Verstoß gegen die diplomatische Etikette wettzumachen.

Innerhalb kürzester Zeit nach Chávez’ Tod tanzten die US-amerikanischen Medien und Sprachrohre der Regierung bereits verbal auf seinem Grab und prognostizierten den bevorstehenden Untergang des Chavismo, Chávez’ politischem Erbe in Venezuela und im Ausland.

„Tod eines Demagogen“ titelte das Time Magazine. In der New York Times, die sich schier verrenkte, um Chávez’ überwältigenden Wahlsieg in Venezuela im Oktober kleinzureden und später seinen Kampf gegen den Krebs ähnlich wie die Opposition als Ablenkungsmanöver darzustellen, war zu lesen, dass durch Chávez’ Tod die Zukunft seiner sozialistischen Revolution in Frage gestellt werde und sich nun das politische Gleichgewicht nicht nur in Venezuela, dem viertgrößten Öllieferanten der Vereinigten Staaten, sondern in ganz Lateinamerika verschiebe. Eine solche Behauptung in einem Nachrichtenartikel ohne jegliche Nennung von Quellen!

Die US-amerikanische Denkfabrik Inter-American Dialogue kam zu dem Schluss, dass Chávez’ Erbe und der von ihm hinterlassene Schaden nicht so leicht rückgängig zu machen seien, und sagte voraus, dass sich die sozialen Errungenschaften und die von Chávez im Laufe seiner politischen Karriere aufgebauten regionalen Institutionen bald in Wohlgefallen auflösen würden und dass schnell wieder Normalität einkehren werde – soll heißen, mit den USA am Steuer.

Der Kongressabgeordnete Ed Royce fand klare Worte: „Hugo Chávez war ein Tyrann, der die Einwohner Venezuelas zu einem Leben in Angst zwang. Sein Tod schwächte die Allianz anti-amerikanischer linker Führer in Südamerika. Gott sei Dank, dass wir diesen Diktator los sind.“

Verschmähter Machthaber

Warum also war Chávez in Washington so verhasst?Venezuela: Hugo Chávez - Foto: Presidencia de la República del Ecuador

Wenig hilfreich war, dass der venezolanische Präsident die Tendenz hatte, seine Gegner persönlich zu beleidigen. Man sollte jedoch meinen, dass diplomatische Beziehungen einen höheren Stellenwert einnehmen als Beschimpfungen, auch wenn der andere damit angefangen hat. Die in Washington herrschende Anti-Chávez-Stimmung geht jedenfalls weit über persönliche Abneigung oder gar politische Differenzen hinaus.

Am meisten Angst hatte Washington nicht vor Chávez’ Fehlern oder Eigenheiten, sondern vor seinem Erfolg.

Die offiziellen Gründe für Chávez’ Verteufelung halten einer Prüfung nicht Stand: Er wurde beschuldigt, die Pressefreiheit einzuschränken – in einem Land, das dafür bekannt ist, dass die privaten Medien erbitterte Chávez-Gegner sind. Seine nordamerikanischen Kritiker bezeichneten ihn als Diktator; doch er gewann eine Wahl nach der anderen in mustergültigen Wahlprozessen. Über seine Reform des Wahlsystems, das nun eine unbegrenzte Anzahl von Amtszeiten ermöglicht, lässt sich zwar streiten; dies ist jedoch in vielen von der US-Regierung als demokratisch bezeichneten Staaten, die als enge Verbündete der USA gelten, gang und gäbe. Außerdem können selbst Kritiker, die Chávez’ Sozialprogramme als „Mäzenatentum“ bezeichnen, nicht verleugnen, dass dadurch das Leben vieler Millionen Menschen spürbar verbessert wurde.

Bevor Chávez Venezuela von seinem neoliberalen Kurs abbrachte, war das Land nicht überlebensfähig. Während seiner gesamten Amtszeit hingegen zeigten soziale Indikatoren zur Messung von realer menschlicher Not eine stetige Verbesserung. Zwischen 1998, dem Jahr seiner ersten Wahl, und 2013, als er im Amt verstarb, fiel die Anzahl der in Armut lebenden Menschen von 43 Prozent der Bevölkerung auf 27 Prozent. Extreme Armut konnte von 16,8 Prozent auf sieben Prozent verringert werden. Laut UNESCO gibt es inzwischen keine Analphabeten mehr im Land. Als Chávez sein Amt antrat, lag die Analphabetenrate noch bei zehn Prozent. Darüber hinaus sorgte Chávez dafür, dass weniger Kinder unterernährt sind, alte Menschen Renten beziehen und Bildungs- und Gesundheitsprogramme für die Armen ins Leben gerufen wurden.

Auf der Rangliste des Human Development Index kletterte Venezuela während Chávez’ Amtszeit kontinuierlich nach oben und erreichte die Kategorie „hohe menschliche Entwicklung“. Die von Washington als „Regierungs-Almosen“ verhöhnten Programme ermöglichten den Menschen in Venezuela ein längeres, gesünderes und erfüllteres Leben.

Nach Chávez’ Tod ließ die US-amerikanische Presse die Praxis des Außenministeriums, Lateinamerikas linke Politiker in „gut“ und „schlecht“ einzuteilen, wieder aufleben. Chávez verkörperte natürlich den „schlechten“ linken Politiker, während der brasilianische Präsident Lula da Silva ohne sein Zutun und ungewollt das Etikett „gut“ aufgeklebt bekam.

Dennoch war es Lula da Silva, der Chávez zur Seite sprang und dafür sorgte, dass sein Freund auf den Seiten der New York Times ein positives Erbe hinterließ: Dort pries er den venezolanischen Präsidenten und prognostizierte, dass „die multilateralen Institutionen, an deren Aufbau Herr Chávez beteiligt war, dazu beitragen werden, dass die Einheit Südamerikas etwas Heiliges bleibt.“

Tatsächlich ist Chávez’ Erfolg beim Aufbau von Institutionen für alternative regionale Integration einer der Hauptgründe, warum er in Washington so verhasst war. Der selbsternannte Antikapitalist stand an der Spitze Venezuelas, als sich das Land in dem Unterfangen, die Monroe-Doktrin aufzubrechen, mit der regionalen Wirtschaftsmacht Brasilien und anderen Ländern des Cono Sur verbündete. Zusammen mit einigen Andenstaaten bemühten sie sich (unterschiedlich intensiv) darum, multinationalen Konzernen die Kontrolle über ein erhebliches, an natürlichen Rohstoffen verdientes Vermögen zu entreißen, um damit staatliche Umverteilungsprogramme zugunsten der Armen zu finanzieren.

2005 trug Chávez dazu bei, das Ziel der USA, eine Freihandelszone der amerikanischen Kontinente zu schaffen, zunichte zu machen. Später war er maßgeblich an der Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) im Jahr 2008 beteiligt. Die zwölf Mitgliedstaaten umfassende UNASUR gilt als lateinamerikanische Alternative zu der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und hat sich 2008 bereits als Vermittlerin in den Auseinandersetzungen zwischen Kolumbien und Ecuador sowie in Bolivien im Konflikt zwischen der Regierung und separatistischen Bewegungen bewährt. 2010 spielte Chávez erneut eine wichtige Rolle, diesmal bei der Schaffung der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), in der sich Partner der Südhalbkugel zusammenschlossen und die USA und Kanada somit außen vor blieben.

Lateinamerika_UNASUR_Banco_del_Sur_Gruendung_Presidencia_EcuadorDie Banco del Sur, die ebenfalls von Chávez gefördert wurde, bemüht sich um eine größere währungs- und finanzpolitische Unabhängigkeit der südamerikanischen Staaten. Wie Lula da Silva in seinem Leitartikel zu Chávez’ Tod schreibt, bietet die Bank eine Alternative zu Weltbank und IWF, die „auf die Realitäten der heutigen multipolaren Welt nicht angemessen reagieren“.

Trotz einiger Unterbrechungen haben diese Initiativen die regionale Integration außerhalb des historischen Modells US-amerikanischer Vormachtstellung vorangebracht.

Zum Vorgehen der USA und dem Grundsatz der Selbstbestimmung

Wie geht es weiter? Am 8. März fand in Venezuela ein emotionales Begräbnis statt; Wahlen sind für April geplant. Die meisten gehen davon aus, dass Vizepräsident Nicolás Maduro, den Chávez als seinen Nachfolger auserkoren hat, sie ohne Probleme gewinnen wird. Er profitiert davon, dass Chávez ihm seinen Segen gegeben hat: In den Straßen von Caracas ist derzeit die Parole „Chávez, ich schwöre, ich stimme für Maduro“ (Chávez, te juro, que voto por Maduro) zu hören. Die vielen Tausend Menschen, die auf Chávez’ Beerdigung „Chávez ist nicht tot; er hat sich vervielfacht“ skandierten, sind ein weiteres Zeichen für das Fortbestehen des Chavismo.

Das US-Außenministerium räumt besseren Beziehungen zwischen den USA und einem von Maduro geführten Venezuela wenig Chancen ein. Auf einer Pressekonferenz des Außenministeriums am 6. März erklärte „Senior Official One“ (eine im Außenministerium gängige Bezeichnung für Beamte, die im Hintergrund bleiben und mit ihren öffentlichen Äußerungen nicht namentlich in Verbindung gebracht werden möchten), das Ministerium blicke nach Chávez’ Tod zwar optimistisch in die Zukunft; doch sei die Pressekonferenz des vergangenen Tages, also die erste Ansprache, in dieser Hinsicht nicht ermutigend gewesen. Man sei enttäuscht.

Damit bezog er sich auf eine 90-minütige Rede Maduros, in der der Vizepräsident von einem Angriff „des Feindes“ auf Chávez’ Gesundheit gesprochen hatte. Darüber hinaus hatte die venezolanische Regierung angekündigt, zwei US-amerikanische Militärs aus Venezuela auszuweisen, weil sie angeblich Mitglieder des venezolanischen Militärs zu einem Aufstand angestiftet hatten.

Das US-Außenministerium erklärte, es plane eine „Weiterentwicklung der Beziehungen“ durch Gespräche in Bereichen von gemeinsamem Interesse wie „Drogen- und Terrorismusbekämpfung sowie Wirtschaft und Handel einschließlich Energie“. Des Weiteren werde man mit Blick auf demokratische Grundsätze auch weiterhin auf Probleme aufmerksam machen und diese ansprechen.

Im Laufe von Chávez’ Amtszeit unternahmen führende Politiker der USA und die dortige Presse verbale Verrenkungen, um dem Grundsatz, dass sich Demokratie an Wahlen messen lässt, nicht zustimmen zu müssen. Aufgrund von Chávez’ dreizehn unumstrittenen Wahlsiegen wandten die USA neue Kriterien auf Venezuela an, im Sinne von: „Demokratie kann auch falsch sein“. Trotz der breiten Unterstützung für Chávez gingen manche Leute so weit, ihn als „Diktator“ zu betiteln.

Washingtons Einsatz für Demokratie lässt nach, sobald der Regierung die Ergebnisse nicht passen. 2002 unterstützte sie den gescheiterten Putsch gegen Chávez und verhinderte 2009 nach dem Putsch in Honduras die Rückkehr des gewählten Präsidenten.

Jetzt blicken alle nach Washington, um zu sehen, ob dort an einem weiteren von Präsident Obama postulierten Wert festgehalten wird – dem Recht auf Selbstbestimmung. Können die USA mit ihren „Demokratie-Förderprogrammen“ im Rahmen des National Endowment for Democracy (NED) und des International Republican Institute (IRI) und anderen auf Regimewechsel abzielenden Maßnahmen der Verlockung widerstehen, sich in die Wahlen am 14. April in Venezuela einzumischen?

Ein Venezuela ohne Chávez ist ein wichtiger Test für die moralische und diplomatische Integrität des Außenministeriums unter John Kerry und von Präsident Obama in seiner zweiten Amtszeit.

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Veröffentlicht am Dienstag, den 12. März 2013, auf der Website „Foreign Policy in Focus“.
Laura Carlsen ist die Leiterin des Americas Program (www.cipamericas.org).

Der Artikel erschien bereits am 12.03.2013 bei www.cipamericas.org. Mit freundlicher Genehmigung des Americas Program.

Übersetzung aus dem Englischen: Sandra Zick

Bildquellen: [1] El Enigma, [2] , [3] Presidencia de la República del Ecuador

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