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10 Jahre Chávez: Die Wirtschaft und soziale Indikatoren. Teil II

Lesedauer: 17 Minuten

Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit

Arbeitsmarkt

Den venezolanischen Arbeitern bietet sich heute ein wesentlich besserer Arbeitsmarkt als vor zehn Jahren, wie Tabelle 4 verdeutlicht. Die Zahl der Stellen hat sich im Vergleich zu 1998 um 2,9 Millionen erhöht, dies entspricht einer Steigerung von einem Drittel. Die Arbeitslosenquote ist von 11,3 auf 7,8 Prozent gefallen. Im Jahr 2003 war sie auf 19,2 Prozent angestiegen, doch ist sie seither wieder um mehr als die Hälfte gesunken. Auch die Qualität der Arbeitsstellen hat sich signifikant verbessert, was sich von den Beschäftigtenzahlen im formellen Sektor ableiten lässt. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte (51,8 Prozent) ist heute in diesem Sektor beschäftigt, 1998 waren es noch 45,4 Prozent. Besonders in der Privatwirtschaft wurden Stellen geschaffen, doch sowohl der öffentliche als auch der private Sektor haben den Zuwachs an Arbeitskräften überholt – in ersterem ist die Zahl der Arbeitsstellen im betrachteten Jahrzehnt um 47,2 Prozent gestiegen, in letzterem um 30,6 Prozent.

Die Erwerbstätigenquote (Anteil der Beschäftigten an der Erwerbsbevölkerung) ist während der gegenwärtigen Expansionsphase enorm gestiegen: von 80,8 auf 92,2 Prozent. Vergleicht man die Zahlen mit 1999 (88,7 Prozent), dann ist das Wachstum viel geringer, aber dennoch beachtlich. Insgesamt lässt sich an allen Indikatoren des Arbeitsmarktes eine wesentliche Verbesserung während der bisherigen Regierungszeit Chávez’ ablesen, egal, womit man sie vergleicht. Diese Ergebnisse stimmen mit der anhand des tatsächlichen Einkommens ermittelten Abnahme der Armut überein.

TABELLE 4

Beschäftigung und Arbeitslosigkeit 1998-2008

Tabelle 4, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit 1998-2008, Quelle: CEPR

Quelle: Instituto Nacional de Estadística (INE), 2009; República Bolivariana de Venezuela, 2009.

Anmerkung: Die Daten repräsentieren jeweils die erste Jahreshälfte (INEs halbjährliche Haushaltsbefragung).

Soziale Sicherheit

Für Menschen, die das Erwerbsalter überschritten haben, verwitwet, verwaist oder wegen einer Behinderung nicht arbeitsfähig sind, ist die Absicherung durch Sozialprogramme stark erweitert worden (s. Abb. 8). Die Reichweite solcher Programme für ältere Menschen, Behinderte und Hinterbliebene hat sich seit 1998 mehr als verdoppelt. Gemessen an der Gesamtbevölkerung erhalten nun 4,4 Prozent soziale Leistungen, im Vergleich zu anfänglichen 1,7 Prozent. Wie bei den anderen Indikatoren waren auch die Sozialleistungen zu Beginn von Chávez’ Amtszeit schwach, während des Ölstreiks gingen sie sogar leicht zurück, und nahmen seit 2003, als Venezuela anfing, sich vom Ölstreik zu erholen und die Regierung die Kontrolle über den Erdölsektor erlangte, wieder rapide zu.

ABBILDUNG 6

Anteil der Bevölkerung, der Leistungen der Alters-, Behinderten- und Hinterbliebenenversorgung erhält

Abbildung 6, Leistungsempfänger in Prozent der Gesamtbevölkerung, Quelle: CEPR

Quelle: Sistema de Indicadores Sociales de Venezuela (SISOV), 2009.

Staatsfinanzen und Zahlungsbilanz

Die Staatseinnahmen profitierten erheblich von dem bis zum vergangenen Jahr gestiegenen Ölpreis. Auf dem Weltmarkt war er von 1999 bis 2008 von 19,3 USD auf 99,7 USD je Barrel gestiegen.[9] Doch auch die Einnahmen, die nicht aus dem Ölverkauf stammen, sind im vergangenen Jahrzehnt stark gestiegen; betrugen sie 1998 11,7 Prozent des BIP, so waren es 2007 14,2 Prozent. Grund dafür ist die verbesserte Steuererhebung.

Tabelle 5 zeigt die staatlichen Einnahmen und Ausgaben. Beide sind von 1998 bis 2007 gestiegen, die Einnahmen von 17,4 auf 28,7 Prozent des BIP und die Ausgaben von 21,4 auf 25,7 Prozent des BIP. Der Staat verzeichnete 2007 einen Überschuss von 3 Prozent des BIP, für 2008 gibt es noch keine offiziellen Daten.

Diese Angaben zu den Staatsfinanzen beinhalten jedoch nicht alle Ausgaben. Ein großer Teil davon wurde in den letzten Jahren direkt von der staatlichen Ölfirma PDVSA aus getätigt. Beispielsweise betrugen die öffentlichen Ausgaben von PDVSA in den ersten drei Quartalen des Jahres 2008 (Januar bis September) 13,9 Milliarden USD bzw. 6,1 Prozent des BIP.

Erwähnenswert ist auch, dass sich die realen (inflationsbereinigten) Sozialausgaben pro Person von 1998 bis 2006 mehr als verdreifacht haben.[10]

Im betrachteten Jahrzehnt ist die Staatsverschuldung von 30,7 auf 14,3 Prozent des BIP gefallen, die Auslandsverschuldung sogar noch stärker, nämlich von 25,6 auf 9,8 Prozent.

TABELLE 5

Staatshaushalt (in Prozent des BIP)

Tabelle 5, Staatshaushalt (in Prozent des BIP), Quelle: CEPR

Quelle: Ministerio del Poder Popular para las Finanzas (MF), República Boliviariana de Venezuela.

Anmerkung: Die Tabelle enthält die aktuellsten Angaben, Änderungen vorbehalten.

TABELLE 6

Leistungsbilanz und Staatsverschuldung, in Prozent des BIP

Tabelle 6, Leistungsbilanz und Staatsverschuldung in Prozent des BIP, Quelle: CEPR

Quelle: Banco Central de Venezuela.

ABBILDUNG 7

Leistungsbilanz

Abbildung 7, Leistungsbilanz, Quelle: CEPR

Quelle: IWF World Economic Outlook, Oktober 2008

Inflation und Wechselkurs

Abbildung 10 stellt die monatliche Inflation während des vergangenen Jahrzehnts im Jahresvergleich dar, wie sie durch Veränderungen im Verbraucherpreisindex Caracas gemessen wird. Als Chávez sein Amt antrat, lag die Inflation bei 29,5 Prozent. In den folgenden drei Jahren fiel sie auf 12,3 Prozent und erreichte im Februar 2003 aufgrund des durch den Ölstreik verursachten wirtschaftlichen Kollapses den Höchststand von 38,7 Prozent. Als im selben Monat der Ölstreik endete, wuchs die Wirtschaft wieder sehr schnell, während die Inflation stark abfiel und im Mai 2006 ein Tief von 10,4 Prozent erreichte. Danach bewegte sich die Kurve wieder nach oben und erreichte im September 2008 36 Prozent, unterbrochen von einem Tief im Zeitraum Februar bis Dezember 2007. Seit September 2008 ist sie auf 32 Prozent gefallen.

ABBILDUNG 8

Monatliche Inflationsrate Venezuelas, Verbraucherpreise Caracas (Caracas Metropolitan Area).

Abbildung 8, Monatliche Inflationsrate Venezuelas, Verbraucherpreise Caracas, Quelle: CEPR

Quelle: Banco Central de Venezuela (BCV), 2009a.

Die aktuellen Bewegungen lassen sich durch die Jahresvergleiche jedoch nur ungenau abbilden. Um ein genaueres Bild zu erhalten, betrachtet man stattdessen lieber Intervalle von 3 Monaten Länge und trennt die Kerninflationsrate (bei der Lebensmittel und Energie unberücksichtigt bleiben) von der tatsächlichen Inflationsrate. Dies ist deshalb ratsam, weil die Preise für Lebensmittel und Energie in den 15 Monaten von April 2007 bis Juli 2008 weltweit in die Höhe schnellten und danach wieder stark abfielen.

Wie man an Abbildung 11 erkennt, betrug die tatsächliche Inflation in Venezuela während des 12-Monatszeitraums bis Ende Juli 2008 im Mittel 33,7 Prozent, während es bei der Kerninflation durchschnittlich 28,7 Prozent waren. Beide Werte sind deutlich höher als in den vorherigen zwei Jahren, als es 17,2 bzw. 16,5 Prozent waren. Zuletzt konzentrierte sich die Inflation jedoch auf die erste Hälfte des Jahres 2008 und nahm in der zweiten Jahreshälfte erheblich ab. Die tatsächliche Inflation (Dreimonats-Durchschnittwert) lag im Januar 2008 bei einem Maximum von 54,3 Prozent und betrug im letzten Quartal des Jahres lediglich 31,4 Prozent. Auch die Kerninflation war in dem Dreimonatszeitraum bis Ende Januar mit 43,8 Prozent am höchsten und liegt jetzt bei 24,7 Prozent. Zwar ist diese Inflationsrate immer noch viel höher als in den vergangenen Jahren (obwohl sie gemessen an den für Venezuela in der Vergangenheit üblichen Werten noch gering ist), doch scheint die beträchtliche Verlangsamung der Inflation im Jahr 2008 keine wiederkehrende Erscheinung zu sein, sondern ist eher dem Verschwinden zeitweiliger Preisschocks geschuldet.

Geht man von der Entwicklung der regionalen und der Weltwirtschaft aus, dann wird die Inflation in diesem Jahr wahrscheinlich weiter zurückgehen, vorausgesetzt, es kommt nicht zu unerwarteten Ereignissen und/oder ernsthaften Engpässen. Die Inflation scheint ohnehin keine direkte Bedrohung des venezolanischen Wirtschaftswachstums darzustellen, wenn die Regierung auch anstreben wird, sie allmählich zu reduzieren.[11]

ABBILDUNG 9

Tatsächliche Inflation und Kerninflation 2006-2008

Abbildung 9, Tatsächliche Inflation und Kerninflation 2006-2008, Quelle: CEPR.JPG
Quelle: Rosnick und Weisbrot, 2009.

Ein ernsthafteres Problem, das die Inflation in Venezuela hervorruft, besteht darin, dass sie aufgrund des Systems des fixen Wechselkurses zu einer zunehmenden und letztlich unhaltbaren Überbewertung des realen Wechselkurses beiträgt. Der Bolivar entspricht 2,150 USD; er wurde im Februar 2003, als die Regierung Devisenkontrollen einführte, auf 1,600 USD festgelegt. Geht man davon aus, dass die Währung bei Einführung dieser Kontrollen weder über- noch unterbewertet wurde (wahrscheinlich war sie schon damals überbewertet), dann kann man infolge der venezolanischen Inflation eine Abwertung auf etwa 4200 Bolivares (bzw. 4,2 Bolivares Fuertes) erwarten.[12]

Folglich ist die venezolanische Währung im Verhältnis zum Dollar um mindestens 49 Prozent überbewertet. Sie ist es aber nicht unbedingt in dem Maße, wie es der Kurs auf dem Parallelmarkt vermuten lässt, welcher stark schwankt und derzeit bei etwa 5,4 Bolivar je Dollar liegt. Dennoch ist die Währung immer noch sehr überbewertet. Dies wird sich ändern müssen, wenn Venezuela eine Strategie der langfristigen Entwicklung verfolgen will, die die Wirtschaft vom Öl loslöst und diversifiziert. Eine überbewertete Währung steht der Herausbildung von Wirtschaftssektoren außerhalb der Ölindustrie, von Export- und Importsektoren und besonders der verarbeitenden Industrie entgegen. Sie verbilligt die Importe und verteuert die Exporte des Landes auf dem Weltmarkt künstlich, wodurch die handelbaren Waren Venezuelas sowohl international als auch im Inland stark benachteiligt werden. Wie die Daten zum branchenspezifischen Wachstum zeigen, ist die verarbeitende Industrie nicht gewachsen. Dies ist ein ernstes Problem für die langfristige Entwicklung. Auch kommt es durch das System der Devisenkontrollen und den Parallelmarkt zu Verzerrungen und Ineffizienzen.

Der überbewertete, fixe Wechselkurs stellt in Kombination mit den gegenwärtigen Inflationsraten ein wichtiges mittelfristiges Problem dar. Selbst wenn die Inflation stabilisiert wird und man mit ihrer Absenkung beginnt, wird die Währung Venezuelas zunehmend überbewertet, solange sie sich auf dem oder nahe dem aktuellen Stand befindet und der nominale Wechselkurs weiterhin fixiert bleibt. Auf diese Weise wird die heimische Produktion jenseits der Ölindustrie und den nicht handelbaren Gütern immer weiter verdrängt und lässt sich letztendlich nicht mehr aufrechterhalten. Im Jahr 2008 hat das Wachstum im Bereich der Herstellung beispielsweise rapide abgenommen (s. oben, Tabelle 2), wozu möglicherweise der überbewertete Wechselkurs beigetragen hat, und mit großer Wahrscheinlichkeit hat dieser während der gegenwärtigen Expansionsphase auch das Gesamtwachstum des produzierenden Gewerbes im Vergleich zu anderen Sektoren (s. oben) eingeschränkt.

Trotzdem bedeutet der überbewertete venezolanische Wechselkurs nicht die Art akuter Bedrohung wie z.B. in den 1990ern in Argentinien, Mexiko, Brasilien oder Russland, als eine plötzliche, erzwungene Entwertung bevorstand. Die Regierung Venezuelas verfügt noch über eine Reihe von Möglichkeiten, um die Währung mit der Zeit auf ein wettbewerbsfähigeres Niveau zu bringen. Es gibt keinen Grund zu glauben, die Regierung sei gezwungen, die Währung zu entwerten, noch müsste eine Entwertung unbedingt sehr plötzlich stattfinden oder besonders drastisch sein.

Gegenwärtige Situation und Ausblick

Das Wirtschaftswachstum Venezuelas verlangsamte sich 2008 auf eine Wachstumsrate von geschätzten 4,9 Prozent im Vergleich zu 8,4 Prozent im Jahr 2007. Die Verlangsamung war wahrscheinlich zumindest teilweise den Bemühungen der Regierung im Jahr 2007 geschuldet, die Inflation zu mindern. Von Februar bis September 2007 ging die monatliche Inflation im Jahresvergleich von 20,4 auf 15,3 Prozent zurück (s. oben Abb. 10), bevor sie erneut anstieg. Eine andere Veränderung, die zu der Wachstumsabnahme beigetragen haben könnte, war die geringere Vermögensbildung im öffentlichen Sektor. Tabelle 7 stellt dar, wie diese 2007 erheblich zurückging, nachdem sie zuvor, während der Expansion, relativ schnell zugenommen hatte, wenn auch nicht im gleichen Tempo wie die Vermögensbildung im Privatsektor. Für 2008 gibt es zwar noch keine Aufgliederung nach öffentlicher und privater Kapitalbildung, doch ging die gesamte (öffentliche und private) Kapitalbildung um 1,5 Prozent zurück. Wenn die Wirtschaft ihr gesundes Wachstum fortsetzen soll, wird man sich dieses Problems annehmen müssen. Zurzeit ist anzunehmen, dass die Regierung dazu in naher Zukunft ein Programm verabschieden wird, das öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und andere öffentliche Ausgaben vorsieht.

TABELLE 7

Bruttokapitalbildung (jährliche Veränderung in Prozent)

Tabelle 7, Bruttokapitalbildung (jährliche Veränderung in Prozent), Quelle: CEPR

Quelle: Banco Central de Venezuela.

Wie fast alle Entwicklungsländer wird sich Venezuela 2009 mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert sehen. Das weltweite Wirtschaftswachstum sinkt drastisch; der IWF hat seine Schätzung des globalen BIP-Wachstums auf 0,4 Prozent herabgesetzt, den niedrigsten Wert seit dem Zweiten Weltkrieg und weit entfernt von den 5 Prozent des Jahres 2007. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass weltweit 30 bis 50 Millionen Arbeitslose hinzukommen werden. Die Finanzkrise, die nach Schätzung des IWF allein in den Vereinigten Staaten zu Verlusten von 2,2 Billionen USD führen wird, ist noch nicht bewältigt, in Entwicklungsländern erhöht sie die Kosten und verringert die Verfügbarkeit von Krediten.

Venezuela erhält keine bedeutenden Investitionen von den USA oder anderen Ländern, die von der Finanzkrise und der Verlangsamung des Wachstums schwer getroffen wurden. Die wichtigste und praktisch einzige direkte Auswirkung dieser externen Ereignisse auf Venezuela ist daher die Veränderung der Ölpreise, denn die Ölexporte machen derzeit ca. 93 Prozent der Exporte des Landes aus.

Die Frage ist also, wie weit die Ölpreise sinken müssten, bevor das Leistungsbilanzdefizit unhaltbar wird. Hierin besteht die bindende Einschränkung für die Entwicklungsländer. Anders gesagt: Die USA, Europa und Japan werden, sofern sie dies beschließen, eine expansive monetäre und finanzielle Politik verfolgen, um der Rezession entgegenzuwirken – u.a. auch durch Defizitfinanzierung. Entwicklungsländer können dasselbe tun und sollten dies idealerweise auch, doch im Gegensatz zu den reichen Ländern stehen sie vor dem Hindernis, dass ihre Währungen keine „harten“ Währungen sind. Sie können also nicht darauf zählen, sich zur Deckung ihres Importbedarfs (entsprechend dem BIP) fast genauso viel Geld leihen zu können wie Länder mit harter Währung oder dies über einen so langen Zeitraum tun zu können. Aus diesem Grund ist die Zahlungsbilanz – und nicht der Staatshaushalt, welcher in heimischer Währung gedeckt werden kann – momentan die wichtigste und bindendste Einschränkung für Länder wie Venezuela.

Im Jahr 2008 verzeichnete das Land einen Leistungsbilanzüberschuss von geschätzten 13,9 Prozent des BIP. Läge der Preis für venezolanisches Öl bei 45 USD, so würde er auf null sinken. Zurzeit liegt der Preis jedoch bei 38 USD je Barrel, so dass zum Ende dieses Jahres ein Leistungsbilanzdefizit zu erwarten wäre, wenn die Ölpreise auf diesem Niveau verharren. Dies würde jedoch keine Probleme mit der Zahlungsbilanz hervorrufen, da Venezuela über 82 Milliarden USD (25 Prozent des BIP) an ausländischen Währungsreserven verfügt – doppelt so viel, wie es benötigt.[13] Ein Defizit von 2 oder 3 Prozent des BIP, welches zu erwarten wäre, falls sich das Ölpreisniveau nicht ändert, ist angesichts solch großer Reserven nicht bedeutend. Selbst das nächste Jahr hindurch könnte es dabei bleiben, ohne dass dies ein großes Problem darstellen würde.

Analysten des Erdölsektors gehen aber natürlich nicht davon aus, dass die Ölpreise noch sehr lange so niedrig sein werden. Auch die Terminmärkte lassen diesen Schluss nicht zu: Der Terminpreis für WTI-Rohöl beträgt für Dezember 2010 über 60 USD je Barrel. Solange die Ölpreise nicht über Jahre hinweg, länger als irgendjemand es erwartet, niedrig bleiben, wird Venezuela seine Reserven nicht allzu sehr beanspruchen müssen. Außerdem hat das Land glücklicherweise eine geringe Auslandsverschuldung, nämlich etwa 9,8 Prozent des BIP. Die Zahlungen aus dem Grundkapital werden in den kommenden vier Jahren etwa 1,5 Milliarden USD betragen, eine sehr moderate Summe. Daher könnte der Staat seine internationale Kreditaufnahme falls nötig auch erhöhen, doch er wird höchstwahrscheinlich keine Probleme mit der Zahlungsbilanz bekommen.

Die Hauptfaktoren, die das Wachstum Venezuelas im Jahr 2009 und wahrscheinlich auch 2010 bestimmen werden, sind die Höhe, Geschwindigkeit und Wirksamkeit steuerlicher Anreize. Vor kurzem kündigte die Regierung ein großes öffentliches Investitionsprogramm in Höhe von etwa 12 Milliarden USD (3,6 Prozent des BIP) an. Wie in den meisten anderen Ländern der westlichen Hemisphäre, einschließlich der USA, sollte dieses Programm schnell verabschiedet werden. In Folge des hohen Deflationsdrucks wird die Inflation in Venezuela, wie oben erläutert, in naher Zukunft weiter abnehmen. Wie es heute in den meisten Ländern der Fall ist, sollte man auch in Venezuela wegen der Inflation nicht allzu besorgt sein, solange diese weiter abnimmt. Das Gleiche gilt für eine Vergrößerung der Staatsschuld, die mit 14,3 Prozent des BIP nicht sehr hoch ist. Die Herausforderung besteht darin, die abnehmende private Nachfrage abzufedern, bis sich die Weltwirtschaft wieder erholt, um eine unnötige Rezession zu vermeiden. Peru, Chile, Argentinien, Mexiko und andere amerikanische Länder haben bereits bedeutsame Finanzpakete angekündigt, von denen einige, entsprechend der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes, mit dem der USA vergleichbar sind.

Die wichtigste Herausforderung für Venezuela besteht in den nächsten Jahren also darin, ein wirksames Finanzpaket umzusetzen, das die Wirtschaft kontinuierlich wachsen lässt. Noch besser wäre es, wie es die chinesische Regierung während der Asienkrise vor zehn Jahren tat, Investitionen in die Infrastruktur und andere öffentliche Ausgaben zu tätigen, die die Produktivität in den Jahren danach ankurbeln.
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[9] Diese Preise beziehen sich auf WTI-Erdöl und entsprechen den Angaben der US-Energieagentur (US Energy Information Agency).

[10] Die Pro-Kopf-Sozialausgaben sind zwischen 1998 bis 2006 um 218,3 Prozent gestiegen. Diese Berechnung beinhaltet die Sozialausgaben von Staat und PDVSA, bereinigt durch den Verbraucherpreisindex. Die Angaben zu den staatlichen Sozialausgaben stammen von SISOV, die Daten zu den Ausgaben der PDVSA aus den Geschäftsberichten der Firma. Die Daten zu den Verbraucherpreisen stammen von der Banco Central de Venezuela.

[11] Siehe Weisbrot, Mark und Sandoval, Luis (2008): “Update: The Venezuelan Economy in the Chávez Years.” Center for Economic and Policy Research, Washington, D.C., S.18.

[12] Basierend auf dem Verhältnis der VPI-Inflation Venezuelas seit Februar 2003 (201,4 Prozent) zur US-Inflation (14,8 Prozent).

[13] Diese Zahl entspricht den offiziellen internationalen Reserven und anderen Geldmitteln (in ausländischer Währung), die dem Staat Ende 2008 zur Verfügung standen. Die Ressourcen beinhalten 43 Milliarden USD offizieller ausländischer Währungsreserven der venezolanischen Zentralbank (am 31. Dezember 2008, siehe BVC 2009b), sie beinhalten 828 Millionen USD im Fonds zur Makroökonomischen Stabilisierung, geschätzte 33,6 Milliarden USD Ressourcen des Nationalen Entwicklungsfonds (davon 13,1 Milliarden USD an Anleihen und Depots im Ausland) sowie Ressourcen der PDVSA (5,2 Milliarden USD in verfügbaren und eingeschränkten Geldmitteln), der Staatskasse und anderer Quellen (15,3 Milliarden, einschließlich ausländischer Konten) (siehe BanCaribe 2008) und eines Chinesisch-Venezolanischen Fonds (6 Milliarden). Die Zahl beinhaltet jedoch nicht alle Ressourcen, wie z.B. den Fonds der Nationalen Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (Bandes). So schätzt z.B. Palma (2008:7), dass dem Staat am 30. Juni 2008 72,6 Milliarden USD an offiziellen Reserven und anderen Fonds zur Verfügung standen. Bis 31. Dezember 2008 sind die offiziellen internationalen Reserven allerdings um 8,8 Milliarden USD angewachsen.

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Literaturangaben:

BanCaribe. 2008. “Informe Económico Mensual,” No. 86 (November). _http://www.bancaribe.com.ve/uploads/INFORME_ECONOMICO_MENSUAL_86.pdf (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

BCV (Banco Central de Venezuela), 2009a. “Indicadores: Información Estadística.” Online database. Consulted 2 February 2009. http://200.74.197.130/c2/indicadores.asp.

BCV (Banco Central de Venezuela), 2009b. “Reservas.” Consulted 13 February 2009. http://www.bcv.org.ve/excel/2_1_1.xls?id=28.

SISOV (Sistema Integrada de Indicadores Sociales de Venezuela), 2007. “Logros.” Caracas: Ministerio del Poder Popular para la Planificación y Desarrollo. Consulted 2 February 2009. _http://www.sisov.mpd.gob.ve/estudios/detalle.php?id=158 (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

SISOV (Sistema Integrada de Indicadores Sociales de Venezuela), 2009. “Indicadores.” Caracas: Ministerio del Poder Popular para la Planificación y Desarrollo. Online database. Consulted 2 February 2009. _http://www.sisov.mpd.gob.ve/indicadores/ (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

INE (Instituto Nacional de Estadística), 2008. “Resumen de Indicadores Sociodemográficos 1998-2008. Caracas: Ministerio del Poder Popular para la Planificación y Desarrollo. Consulted 2 February 2009. _http://www.ine.gov.ve/resumenindicadoressociales/descarga/ ResumenIndicadoresSociodemograficos.zip (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

INE (Instituto Nacional de Estadística), 2009. Homepage. Caracas: Ministerio del Poder Popular para la Planificación y Desarrollo. Online database. Consulted 2 February 2009. http://www.ine.gov.ve/.

Palma, Pedro A. 2008. „La Crisis Global y sus Impactos en Venezuela“, Presentation at the forum Global Financial Crisis and its Impact on Venezuela, Venezuelan-American Chamber of Commerce, November 4, 2008. _http://www.venamcham.org/eventos/crisis/palma.pdf (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

Rosnick, David and Mark Weisbrot. 2009. “Inflation Experiences in Latin America, 2007-2008.” Washington, DC: Center for Economic and Policy Research (February). _http://www.cepr.net/index.php/publications/reports/inflation-experiences-in-latin-america,-2007-2008/ (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.).

Weisbrot, Mark and Rebecca Ray, 2008. “Oil Prices and Venezuela’s Economy.” Washington, DC: Center for Economic and Policy Research (November). _http://www.cepr.net/index.php/publications/reports/oil-prices-and-venezuela-s-economy. (Der Link konnte am 15.02.2012 nicht mehr aufgerufen werden.)

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Übersetzung aus dem Englischen: Anja Kanbach

Der Original-Bericht wurde im Februar 2009 vom Center for Economic and Policy Research Washington veröffentlicht. Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

2 Kommentare

  1. Wilhelm Glass sagt:

    Da geht es ja zu wie in der ex DDR : Die angegebenen Daten sind wunderbar, fragst aber den Leuten auf der Straße erfährst Anderes.
    INE, SISOV sind ja nicht gerade bekannt für klare Aussagen.Die Tatsache ist ersichtlich schon bei einer Fahrt von Ost nach West durch Caracas…: Die Verelendung ist gravierend und progressiv, dürfte nicht sein bei diese Einnahmen.Chavez wird teuer.

  2. Manul sagt:

    @Wilhelm Glass:
    In unserer schönen kapitalistischen Welt ist es doch auch nicht besser. Auf dem Papier haben wir für jeden Arbeit, Armut ist nur gefühlt und es gibt keine grossen Unterschiede zwischen arm und reich. Geht man aber auf die Strasse und spricht mit Menschen, dann bekommt man ein völlig anderes Bild. Sicher, mit dem Niveau der Verelendung ist es nicht zu vergleichen, aber die Praxis ist die selbe, wie in manchen Entwicklungsländern – die Oligarchen machen hohe Profite, zahlen kaum Steuern und die Gewinne verschwinden im Ausland (vorzugsweise in Überseegebiete der britischen Krone oder andere schöne Orte). Was bleibt ist eine Bevölkerung, die bis ins Maximum geschröpft wird und deren Verarmung billigend in Kauf genommen wird.

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