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Sprachtod in Peru – Wie gefährdet ist das Quechua?

Anja Raschke | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Peru_Foto_creative commons_Shawn Harquall

 

70% aller Sprachen und Dialekte, die momentan noch auf der Welt gesprochen werden, werden das 21. Jahrhundert nicht überleben [1]. Diese Prophezeiung scheint auf den ersten Blick recht fatalistisch; auf den zweiten Blick jedoch nicht ganz abwegig, denn während der letzten 500 Jahre ist ein stetiger Rückgang der Sprachenvielfalt zu verzeichnen gewesen. Was es konkret bedeutet, wenn eine Sprache stirbt bzw. tot ist, lässt sich in einer grundsätzlichen Aussage zusammenfassen: Eine Sprache ist tot, wenn sie niemand mehr spricht [2]. Mindestens ein Beispiel für eine tote Sprache ist wohl jedem von uns bekannt: das Latein.

Aufgrund des jahrhundertelangen Trends aussterbender Sprachen ist es also nicht verwunderlich, dass auch heutzutage eine Vielzahl von Sprachen auf der „roten Liste“ steht, also vom Aussterben bedroht ist. Viele davon werden in abgelegenen Gebieten der Welt gesprochen, wie z.B. das Pukapuka auf einer Insel Ozeaniens oder das Inupiaq im Norden Kanadas; einige befinden sich beinahe vor unserer eigenen Haustür, wie das Sorbische in Sachsen. Eine Gemeinsamkeit, die viele vom Sprachtod bedrohte Sprachen teilen, ist eine relativ geringe Sprecherzahl. So hat z.B. das eben erwähnte Pukapuka lediglich um die 2.000 Sprecher, während andere Sprachen nicht einmal von mehr als 10 Menschen gesprochen werden, z.B. Katukina im brasilianischen Amazonasgebiet mit lediglich einem Sprecher [3].

Wie kommt man nun also auf die Idee, dass gerade die größte indigene Sprachgruppe Amerikas, das Quechua, vom gleichen Schicksal heimgesucht werden könnte? Immerhin besitzt es in Peru ungefähr 7,7 Millionen Sprecher und insgesamt ca. 9 Millionen [4]. Damit gibt es sogar mehr Quechua- als Norwegischsprecher, und wer hat schon je daran gedacht, dass das Norwegische aussterben könnte? Dennoch gibt es einige Linguisten, die die Meinung vertreten, dass dem Quechua u.U. ebendies passieren könnte.

Alles ist relativ

Besitzt eine Sprache eine hohe Sprecherzahl, heißt das nicht unbedingt, dass sie diese auf ewig behalten wird. Ebenso kann es sein, dass sie zu einem vorherigen Zeitpunkt sogar noch viel mehr Sprecher besaß als im Moment und viele von ihnen bereits verloren hat. Erforscht man die Entwicklung und den eventuell drohenden Tod einer Sprache, muss man sie von allen Seiten, Ecken und Enden betrachten. Tut man das für das Quechua, kommt man allerdings zu der paradoxen Erkenntnis, dass seine Sprecherzahl in den letzten 50 Jahren stark angestiegen ist. Während es im Jahr 1961 in Peru ca. 2,7 Millionen Quechuasprecher gab [5], sind es – wie bereits erwähnt – heute ca. 7,7 Millionen. Wie kann man hier also von einer bedrohten Sprache reden? Indem man sich anstelle der absoluten Zahlen eher die prozentualen Anteile an der Gesamtbevölkerung Perus ansieht.

In den Jahren 1961-1981 ist der Anteil der Quechuasprecher an der peruanischen Gesamtbevölkerung von ca. 33% auf ca. 25% gesunken [5], d.h. die Anzahl der Quechuasprecher ist nicht im gleichen Maße wie die gesamte peruanische Bevölkerung gewachsen. Diese rückläufige Entwicklung findet man selbst in der traditionellen Hochburg des Quechua, im andinen Bergland. In einigen Bundesstaaten der Gebirgsregionen (Junín, Pasco und im Hinterland des Bundesstaates Lima) beläuft sich der Anteil der Quechuasprecher im Jahr 1940 noch auf 60%, wobei er heute nicht einmal mehr als 10% ausmacht (davon die meisten wohl aus einer älteren Generation) [6].

Interessant ist es auch, sich die Beziehung zwischen einsprachigen und zweisprachigen Quechua- und Spanischsprechern anzusehen. Der Anteil derer, die lediglich Quechua sprechen, ist im Zeitraum von 1961-1981 etwa um 11% gesunken. Ungefähr um diesen Wert ist wiederum auch der Anteil derer, die lediglich Spanisch sprechen, gestiegen [7]. Während das Quechua also immer mehr an Boden verliert, kann sich das Spanische mehr und mehr behaupten. Der Anteil der Zweisprachigen (also Quechua und Spanisch) hat sich dagegen nicht viel verändert. Diese Zahlen lassen nun den Schluss zu, dass das Quechua zunächst im Einklang mit dem Spanischen lebt, bevor es letztendlich von diesem verdrängt wird. Nimmt diese Entwicklung weiter ungestört ihren Lauf, könnte das Spanische das Quechua also eines Tages komplett ersetzt haben.

Verdrängung des Quechua durch das Spanische

Wenn das Quechua nach und nach vom Spanischen ersetzt wird, bedeutet das natürlich nicht, dass die Quechuasprecher ihre Muttersprache von heute auf morgen aufgeben. Ganz im Gegenteil, dieser Prozess erstreckt sich über mehrere Generationen. Oftmals gestaltet er sich so, dass die Generation der Großeltern ausschließlich Quechua spricht, während die Elterngeneration aufgrund einer verbesserten Bildungssituation daneben auch Spanisch erlernt, ihrerseits jedoch lediglich diese Sprache an ihre Kinder weitergibt. Die Frage ist nun, wieso genau dieser letzte Schritt geschieht, wieso die Elterngeneration sich dazu entscheidet, mit ihren Kindern nur noch Spanisch zu sprechen und das Quechua entweder vernachlässigt oder im schlimmsten Fall sogar aktiv gemieden wird.

Die Gründe dafür, wie Peru_Quechua_Foto_Quetzal-Redaktion Sven Schaller (1)so Quechuasprecher ihre Muttersprache aufgeben und sie auch an ihre Kinder nicht weitergeben wollen, haben tiefe Wurzeln, die bis zur Kolonialzeit zurückreichen. Seit ihrer Ankunft in Amerika waren die Spanier bzw. die spanischsprachige Bevölkerung die dominierende Kraft und beanspruchten die Hoheit und Herrschaft über die indigene Bevölkerung, welche seit dem ersten Kontakt mit den Spaniern in Ausgrenzung und Marginalisierung lebte. Diese Beziehung wirkt sich auch deutlich auf die jeweils gesprochenen Sprachen aus, indem das Spanische stets die Sprache der erfolgreichen Eroberer und das Quechua die Sprache der „Verlierer“ war. Zwar sind die politischen Umstände von Kolonialismus und Eroberung nicht mehr vorhanden, doch ist die wirtschaftliche Teilung zwischen Quechua(sprechern) und Spanisch(sprechern) heute umso stärker.

Das Spanische ist in Peru die Sprache mit dem deutlich höheren Prestige, was u.a. bedeutet, dass man sich mit dem Beherrschen des Spanischen einen weitaus größeren wirtschaftlichen Erfolg versprechen kann als mit jedweder indigenen Sprache. Dieser Umstand wird z.B. dadurch deutlich, dass die wirtschaftlich stärkste Zone Perus diejenige ist, in der das Spanische vorherrscht und man sich im heutigen Peru ohne Spanischkenntnisse in der Integration in die Gesellschaft eingeschränkt fühlt. Während das Quechua als ein Hindernis für Bildung und beruflichen Aufstieg gesehen wird, öffnet das Spanische Türen, die das Quechua verschlossen hielt. Auch anhand der sozioökonomischen Struktur der peruanischen Bevölkerung erkennt man den deutlichen Zusammenhang zwischen einer hohen sozialen Klasse und dem Spanischen bzw. einer niedrigen Klasse und dem Quechua [5].

Wird sich an diesen sozialen Bedingungen, nichts ändern, so wird sich wohl auch die sprachliche Lage des Quechua nicht verbessern und immer mehr Menschen werden in Richtung Spanisch „abwandern“ und somit einen Prozess, der in der Sprachwissenschaft „language shift“ [2] genannt wird, weiter vorantreiben. Unterstützt wird diese Entwicklung auch davon, dass in Peru immer mehr Menschen vom (eher quechuasprachigen) Land in die (spanischsprachigen) Städte ziehen. Hier möchten sie dann bestenfalls von vornherein ihren Kindern die „Schmach“ des Quechua ersparen, indem sie es ihnen vorenthalten. Das führt dazu, dass in dieser vorrangig spanischsprachigen Umgebung diese Sprache dann oftmals die einzige Sprache ist, die die Kinder noch erlernen.

Aussicht

Welche Zukunft kann dem Quechua nun prophezeit werden, wenn es überhaupt noch eine besitzt? Festzuhalten bleibt, dass seine momentan große Sprecherzahl keine hundertprozentige Überlebensgarantie darstellt. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren kann eine ernsthafte Bedrohung für das Quechua darstellen: die jahrhundertelange Marginalisierung der indigenen Bevölkerung, die Dominanz der spanischsprachigen Bevölkerung, das daraus resultierende hohe Prestige des Spanischen und seine damit verbundene Wichtigkeit für ein besseres Leben, der geringe Nutzen des Quechua in den Städten; man könnte die Liste noch länger  fortführen. Verändert sich also an der sozialen Situation Perus, den starken Gegensätzen von Stadt-Land, reich-arm, Spanisch-Quechua nichts, so wird sich wahrscheinlich auch die Situation dieser indigenen Sprache nicht verbessern.Peru_Quechua_Foto_Quetzal-Redaktion Sven Schaller (2)

Um eine Sprache zu retten, gibt es verschiedene Methoden, die auch auf das Quechua angewandt werden können und die sich aus den bestehenden Problemen ergeben: das Prestige des Quechua muss angehoben und der relative Reichtum der quechuasprachigen Bevölkerung im Gegensatz zu den Spanischsprechern erhöht werden [2].

Neben der Frage, wie das Quechua unterstützt werden könnte, stellt sich aber auch die ethische Frage, ob man ihm überhaupt helfen soll. Oftmals haben die Sprecher selbst kein oder nur geringes Interesse an diesem Unterfangen [7], und wie könnte man es ihnen auch verübeln? Der Mensch ist immer darauf bestrebt, ein gutes Leben zu führen, was im Fall des Quechua über das Erlernen des Spanischen in Verbindung mit der Migration in die Stadt auch tatsächlich zu erreichen scheint. Wenn es den Menschen hilft, eine Sprache mit höherem Prestige zu lernen und diese sie im Leben weiterbringt, dann ist das zunächst etwas Gutes [2].

Doch eine Sprache bedeutet immer auch Stück eigene Identität und ist ein wichtiger Teil einer Kultur. Mit dem Aufgeben und dem eventuellen Verlust des Quechua würde also auch ein Teil dieser jahrhundertealten Kultur verloren gehen. Das Lernen einer neuen Sprache muss nicht unbedingt bedeuten, dass die eigene Sprache aufgegeben wird. So wird empfohlen, eine generelle Zweisprachigkeit in einer betroffenen Bevölkerung zu etablieren und zu erhalten [2][7]. Auf diese Weise hätten die Quechuasprecher Zugriff auf beide Lebenswelten, ihre eigene und die spanischsprachige und bräuchten ihre eigene Kultur für ein Leben in der peruanischen Gesellschaft nicht aufzugeben.

 

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Literatur:

 

[1] Roider, Flora Maria (2014): Sprachenvielfalt und Sprachensterben aus ökolinguistischer Sicht. Zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit, Übersetzen und Dolmetschen in einer globalisierten Welt. Innsbruck: Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck.

 

[2] Crystal, David (2007): Language Death. Cambridge: Cambridge University Press.

 

[3] http://www.endangeredlanguages.com/

 

[4] https://www.ethnologue.com/

 

[5] Steckbauer, Sonja M. (2000): Perú: ¿educación bilingüe en un país plurilingüe?. Frankfurt am Main: Vervuert/ Madrid: Iberoamericana.

 

[6] Adelaar, Willem F.H. (2014): „Endangered languages with millions of speakers: Focus on Quechua in Peru”, in: JournaLIPP, Ausgabe 3, S. 1-12. Abrufbar unter: https://lipp.ub.lmu.de/index.php/lipp/article/view/393.

 

[7] Fishman, Joshua A. (1991): Reversing Language Shift. Clevedon u.a.: Multilingual Matters.

 

 

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Bildquellen: [1] Shawn Harquall_, [2] und [3] Quetzal-Redaktion, ssc

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