Peru scheint in vielerlei Hinsicht Symbolcharakter für ganz Lateinamerika zu besitzen: Sinnbild der Verwurzelung des Kontinents in der indianischen Vergangenheit, Ort des bedeutendsten Indianeraufstandes der Kolonialzeit und zugleich letzte Hochburg spanischen Widerstands gegen die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung, Heimat und politische Wirkungsstätte von Mariategui und Haya de la Torre, zweier Intellektueller von kontinentalem Format und Personifizierung unterschiedlicher Versuche, den Weg aus Abhängigkeit und Unterentwicklung zu finden. Auch der frühe Zeitpunkt der Rückkehr zu zivilen Regierungsformen und zu allgemeinen Wahlen – 1980, als die meisten Länder der Region unter dem Stiefel der Militärdiktaturen lagen – sowie der kometenhafte Aufstieg des als Erneuerer gehandelten Fujimori ins Präsidentenamt 1990 schienen zu bestätigen, daß Peru eine Vorreiterrolle im demokratischen Wandlungsprozeß des Kontinents zugefallen war. In letzter Zeit aber hat sich diese Rolle in ihr Gegenteil verkehrt. Die Cholera – die längst vergessen geglaubte Seuche des 19. Jahrhunderts – liefert dafür das Sinnbild. Von Peru aus begann sie 1991 ihren Leichenzug durch Lateinamerika und ist inzwischen am Ort des „Erdgipfels“ in Rio, einem weiteren Symbol enttäuschter Hoffnung, angelangt. Das Land und seine Bewohner werden zwischen den Mühlsteinen der Gewalt, die – sich wechselseitig verstärkend – vom maostischen Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) und der Armee ausgeht, regelrecht zermahlen. Für die ausländischen Medien gelten Rauschgiftherstellung, Terror und Cholera als Synonyme für Peru.
Soziales Elend und politische Gewalt – ein Zwillingspaar
Im Lebensrythmus der Hauptstadt Lima, wo ca. ein Drittel aller Peruaner leben sowie 80% der Ersparnisse und 98% aller Privatinvestitionen konzentriert sind, widerspiegelt sich das Schicksal der Verlierer der alten Weltordnung. „In Lima erlebt man schon heute die Zukunft der abgekoppelten Süd-Länder: Strom, Wasser, Lebensmittel, Dienstleistungen … alles zu knapp. … Verknappung und Verelendung erreichen die Mittelschichten…. Die Mauern um die Häuser in den besseren Vierteln wachsen bald jedes Jahr um zwanzig Zentimeter und haben außer Stacheldraht inzwischen auch eine elektronische Sicherung. „(FR, 12.Feb.1992) Beim täglichen Kalorienverbrauch pro Kopf ist Peru inzwischen auf das Niveau des lateinamerikanischen Schlußlichts Haiti herabgesunken. 35% der Kinder sind chronisch unterernährt und 1991 standen nur noch 15% der arbeitsfähigen Bevölkerung von Lima in Lohn und Brot. Diese Beispiele ließen sich noch weiter fortsetzen. Ungeachtet der katastrophalen Lage der Bevölkerungsmehrheit gelten die Verringerung der Inflationsrate von 7.800% (1990) auf 56,7% (1992) und die regide Sparpolitik der Regierung Fujimori als wirtschaftliche Erfolge. Peru ist nach Jahren der Abstinenz wieder in den Kreis der kreditwürdigen Schuldnerländer aufgenommen worden. Nur an den permanten Menschenrechtverletzungen nehmen die USA hin und wieder Anstoß. Im wachsenden Meer der Armut gedeihen Gewalt und Verzweiflung.
Nach 12 Jahren permanenten Terrors vom Sendero Luminoso und der ebenso gewalttätig ausfallenden Antwort der Armee, begrüßt die Mehrheit der Peruaner jedes noch so kleine Hoffnungszeichen der Besserung. Die Verhaftung des obersten Chefs der Terrororganisation Abimael Guzman am 12. September 1992 führte eine gewisse Trendwende im Verhalten der Bevölkerung herbei. Die Furcht vor dem „Leuchtenden Pfad“ ist gewichen, das Schweigen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen des Staates ist geblieben. Die Ermordung eines der schärfsten Kritiker der Sozialpolitik Fujimoris, des kommunistischen Gewerkschaftsführers Huillca am 18.12.1992 auf offener Straße, die „staatsterroristischen Kräften“ angelastet wird, zeigt, daß das Regime Gewalt auch gegen friedliche Kritik einsetzt. Die Angst vor dem „Leuchtenden Pfad“ ist groß genug, um Stillschweigen zu erzwingen. Der „Sendero“ erweist sich in dieser Hinsicht als ein regimestabilisierender Faktor.
Personen statt Programme
Neben den Klima der Gewalt ist der Mangel an Programmen und Alternativen ein Markenzeichen peruanischer-Politik. Bereits der Erfolg Fujimoris bei den Präsidentschaftswahlen 1990, bei denen er seinen Wahlgegner Vargas Llosa mit 56 : 33 % besiegte, war mehr ein Resultat der Schwäche seiner politischen Konkurrenten als der eigenen programmatischen Stärke. Alle traditionellen Parteien von links bis recht waren die eigentlichen Verlierer. Im zusammengehen mit der Armeeführung konnte sich dann Fujimori am 5.4.1992 auch erlauben, das Parlament auseinanderzujagen, ohne größeren Widerstand befürchten zu müssen. Die meisten Peruaner begrüßten folgerichtig diesen Schritt. Mit diesem „autogol-pe“ (Selbstputsch) geawnn der alte und neue Präsident genügend Zeit und Spielraum für die Stabilisierung seiner politischen Macht und die Durchführung einschneidender Wirtschaftsmaßnahmen. Er ließ der Armee bei der „Terrorismusbekämpfung“ und den internationalen Finanzinstitutionen bei der Wirtschaftreform freie Hand und sicherte so geschickt die Grundlagen seines Regimes. Auf der Woge des Triumphs über den „Sendero“ gewann die ihn unterstützende Parteienallianz „Nueva Mayoria/Cambio 90“ im November vergangenen Jahres 44 von 80 Sitzen der Verfassungsgebenden Versammlung. Fast alle traditionellen Parteien (außer der Christlichen Volkspartei) boykottierten diese Wahlen. Der Sieg Fujimoris relativiert sich aber, wenn man in Rechnung stellt, daß seine Anhänger lediglich 30% der Wahlberechtigten gewinnen konnten, während der Anteil der Nichtwähler bei 40% lag. Bei den Gemeindewahlen im Januar 1993 setzte sich dieser Trend sogar soweit fort, daß Fujimori als der eigentliche Verlierer dieser jüngsten Wahlentscheidung angesehen werden muß. Damit droht er das politische Schicksal der Alt-Parteien zu teilen. Der rapide politische Verschleiß geht auch an „el chino“, wie er aufgrund seiner japanischen Abstammung auch genannt wird, nicht vorbei.
Ein Menetekel für Lateinamerika?
Peru – ein Land auf der weltwirtschatlichen Verliererstraße, das vorrangig an seiner Fähigkeit gemessen wird, seinen Schuldendienst zu leisten, ein Land der Gewalt, in dem der Anbau von Koka zur Herstellung von Rauschgift zum prosperierenden Wirtschaftszweig wird, das unter völliger politischer Orientierungslosigkeit leidet, in dem Terror mit Diktatur bekämpft wird, in dem keine demokratische Alternative in Sicht ist, dessen Bevölkerung zu drei Vierteln in Armut lebt, gepeinigt von der Geißel der neuerliche Volksseuche Cholera, dem jüngsten Produkt der Armut. Sieht so die Zukunft Lateinamerikas aus? Noch steht hinter diesem Satz ein Fragezeichen. Mit vielen Problemen, die typisch für Lateinamerika sind, ist das Andenland stärker belastet als viele andere Länder des Kontinents. Peru fehlt die nationale Identität, es ist ethnisch (indianische – nichtindianische Bevölkerung), sozial (Arme – Reiche) und wirtschaftlich (formeller und informeller Sektor) geteilt. Tiefe und Ausmaß dieser Teilung sind anderswo nicht so groß. Aber diese Teilung existiert überall in Lateinamerika und in der Dritten Welt. Deshalb muß diese Frage gestellt werden, und es muß eine andere Antwort gefunden werden, als die, die Fujimori Peru bisher zugemutet hat.