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Über El Güegüense oder Macho RatónEine amerikanische Tanzkömodie aus der Kolonialzeit

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

El Güegüense o Macho Ratón ist ein anonymes literarisches Werk des dramatischen Genres. In Náhuatl und kastilischem Spanisch geschrieben, gilt es als erstes Theaterstück Nikaraguas. Übersetzungen und Variationen, Interpretationen, Neuinterpretationen und Analysen haben es im Verlauf der Zeit in einen literarischen Mythos Nikaraguas verwandelt: Für die einen ist es eine indigene Komödie oder ein naives Possenstück, das der Indio aus spanischen Worten und Wendungen seines nativen Dialekts gewebt hat; ein Possenstück, in dem man ab und an lyrische Elemente findet’ (1); für andere ist es ein literarischer Protest oder eine satirische Dichtung mit dem Ziel, die Verwalter der Macht des spanischen Königs in der Provinz Nikaragua zu kritisieren und zu verspotten; für wieder andere ist es ein Volkstheaterstück, dessen Hauptfigur die erste literarische Figur in der nikaraguanischen Literatur ist, ein ‚nicht gering zu schätzendes Zeugnis der Persönlichkeit des Volkes, das es ins Leben gerufen hat’ (2); andere halten es für ein schlichtes und humorvolles Werk mit populärem Charakter, dessen literarische Technik sich zweier verschiedener Sprachen (des Spanischen und des Náhuatl) bedient, um damit doppelsinnigen Humor zu erzeugen (3) und dessen Intention die Unterhaltung des Volkes bei populären und religiösen Festlichkeiten war; und die Übrigen haben weitere Deutungen parat. Auf jeden Fall ist El Güegüense o Macho Ratón ein Meisterwerk des nikaraguanischen Theaters. Dieser Artikel möchte sich – ohne den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln – folgenden Fragen widmen:

  • Wann wurde das Werk geschrieben?
  • In welchem Milieu ist es angesiedelt?
  • Welche Bedeutungen haben sein erster und zweiter Titel?
  • Was lässt sich aus einer Analyse des Werks über die soziokulturelle Herkunft des möglichen Autors ableiten?
  • Und welchen Stellenwert hat El Güegüense o Macho Ratón im Panorama der nikaraguanischen Literatur der Gegenwart?

Wahrscheinlicher Zeitpunkt der Entstehung und lokaler Ursprung des Werks

El Güegüense o Macho Ratón wurde sehr wahrscheinlich in der Mitte des 17. Jahrhunderts geschrieben, zu einer Zeit, in der das heutige Territorium Nikaraguas als Provinz Nikaragua bekannt war. Carl Hermann Berendt (1817-1878), ein deutscher Amerikanist, der 1874 in Masaya eine Fassung des Werks aus zwei existierenden Manuskripten schuf, datiert diese Manuskripte “in die ersten Jahrhunderten der spanischen Kolonisierung.” Dem Nordamerikaner Daniel Garrison Brinton (1837-1899) zufolge legte sein Schwiegervater und Kollege Berendt diese Datierung aufgrund von mündlichen Zeugnissen und der Analyse des im Text verwendeten Spanisch fest. Brinton selbst war noch präziser in seiner bedeutenden Studie über El Güegüense o Macho Ratón: er vermutete, dass das Werk in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts entstand, aber er ließ die Möglichkeit offen, dass es eventuell auch bereits im 17. Jahrhundert entstanden sein konnte (4). Berendts und Brintons Annahme wird auch durch die Tatsache gestützt, dass das Theaterstück ebenso wie andere Theaterstücke des 17. Jahrhunderts, die im Königreich von Nueva España und in der spanischen Generalkapitanie Guatemala entstanden, einige Elemente des mesoamerikanischen Theaters vor der spanischen Kolonisierung aufweist. Und ein weiteres Argument ist, dass das Vokabular des Textes typische Worte aus dem gesprochenen Spanisch des 17. Jahrhunderts umfasst wie z. B. die Bezeichnungen der Amtsträger (Polizeihauptmann, königlicher Schreiber, königlicher Ratsherr), für Münzen (Dublonen, Goldunzen, Maravedies), für Kleidungsstücke (Feder-Huipil, Brust-Huipil), für Möbel (Gold- oder Silbertruhen) sowie spezielle Verben (arrebiatar, persogar).

Ein sehr wahrscheinlicher Ursprungsort des Werks ist ein Dorf oder eine Gemeinde in der südlichen Region der Pazifikzone Nikaraguas, d.h. eine Ortschaft innerhalb der heutigen Departments Granada, Carazo und Masaya. Diese Region zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Tradition der Patronatsfeste als Ausdruck der Volkskultur wie in keiner anderen Region des Landes lebendig gehalten wird. Auf diesen Festen tanzt und singt man nach Volksmusik, es gibt populäre Spiele und Zerstreuungen, es werden Gedichte rezitiert und Theaterstücke aufgeführt, darunter auch El Güegüense o Macho Ratón. Gleichzeitig zeichnen sich diese Feste durch die volkstümlichen Kostüme und durch Kostümierungen von Darstellern als reale und fantastische Tiere aus, eine Tradition, deren Quelle die religiöse Fantasie, die Glaubensvorstellungen und Mythen und die indigenen Legenden ebenso wie die persönliche Kreativität sind. Natürlich haben infolge der Armut und der politischen Instabilität seit Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Patronatsfeste heute kleinere Dimensionen und präsentieren sich mit weniger Glanz und Luxus als in vergangener Zeit. Es ist jedoch erwähnenswert, dass die Stadt Masaya den Titel ‚nikaraguanische Folklorehauptstadt’ erhalten hat und dass sich die Patronatsfeste von Diriamba, das ebenfalls in dieser Region liegt, Kennern zufolge durch ihre besondere Kreativität, Intensität und Farbigkeit und die dabei zur Schau gestellte Begeisterung von anderen im Land abheben.

Bedeutung des ersten und zweiten Titels des Werkes

Im Einleitungsessay der Erstveröffentlichung von El Güegüense o Macho Ratón in Nikaragua (1942) liest man: “Die Figur des Alten ist das gängigste Element in der indigenen Komödie, und aus dieser Quelle entstand der Güegüense, der gleichbedeutend ist mit dem Komödianten, dem Gauner oder Schwindler. Damit verkörpert der Güegüense die Farce, die Komödie“ (5). In diesem wie in späteren Essays über die Deutung des Güegüense leitete man den Ursprung des Namens aus dem Náhuatl-Wort „huehentzin“ ab, das auf die Worte für „alt“, „huehentl“, und „tzintli“, einem Ehrerbietung signalisierenden Suffix, zurückgeht; daraus ergibt sich „ehrbarer Alter“, eine Bedeutung, die eigentlich im Widerspruch zu den Eigenschaften der Hauptfigur des Theaterstücks steht. Die wörtliche Übersetzung aus dem nikaraguanischen Náhuatl ins Spanische trifft damit nicht die Wesensmerkmale des Protagonisten des Werkes. Sucht man nach Deutungen des Wortes Güegüense, so trifft man auf verschiedene andere Güegüense-Figuren: die als bucklige Alte verkleideten komischen Figuren eines bestimmten Tanzes und die Gauner, die in den Tänzen der Theaterstücke des alten Mexiko eine Rolle spielen. In einem solchen Tanz der Gauner gibt eine der Gaunerfiguren vor, das Gegenteil dessen zu verstehen, was der Herr ihm befiehlt, indem er die Worte verdreht. Man trifft auch auf den “Huehuenche”, eine traditionelle Figur der aztekischen Indios, der mit einer Maske und einem Kostüm bekleidet ein Tier verkörpert und dabei singt und tanzt und eine Peitsche knallen lässt (6); und schließlich auf den alten Nahua-Indianer, der als Organisator und Dirigent der Tänze seines Volkes fungierte, weswegen er den Namen Güegüense bekam (7). Alle diese Figuren sind Güegüenses, deren Beruf und Berufung es ist, eine Posse zu inszenieren, aber man kennt sie nicht vornehmlich (wie den Güegüense des hier diskutierten Werks) als Gauner-, Schwindler- oder Heuchlerfiguren. Die Suche fördert auch die Insel Güegüense in dem zu Honduras gehörenden Teil des Golfs von Fonseca zutage, eine Insel, die diesen Namen möglicherweise wegen ihrer Form trägt, die an eine große Klapperschlange erinnert: die Náhuatl-Bezeichnung für Klapperschlange ist güegüecho, von “huey”, groß, und “cuechtli“, Klapperschlange oder Hals. Schließlich tauchen noch die Doppelbedeutungen des Wortes auf und die Bedeutungen des Adjektivs „sesule“, das oft im Zusammenhang mit dem Namen Güegüense im Text des Werks vorkommt und das Zusammensetzungen wie „schrecklicher Alter“, „alter Schmeichler“, „unverschämter Alter“, „spitzzüngiger Alter“, „närrischer Alter“ etc. ergibt. Schließlich das Náhuatl-Wort “cuecuecuitatl”, das Subgenre im Theater, zu dem die Güegüense-Figur gehört, und die Náhuatl-Figur Tozcacuecuechoani, deren Gesänge übermütig, lächerlich und lasziv sind. Carlos Mántica, ein nikaraguanischer Náhuatl-Kenner, ist der Meinung, das die erwähnten Elemente und die Schelmen-Eigenschaften des Güegüense darauf hindeuten, dass der Name nicht von “huehentzin” kommt, sondern von “cuecuehtzin”, was übersetzt „der große Unverschämte“ oder „der große Gauner“ heißt (8). Diese Bedeutung erscheint angemessener, weil sie die Essenz der Güegüense-Figur wiedergibt.

Eben so interessant sind die Interpretationen des zweiten Teils des Titels, Macho Ratón. Ratón assoziiert im nikaraguanischen Spanisch der Gegenwart etwas Kleines – sehr wahrscheinlich existierte diese Bedeutung aber nicht zu der Zeit, als das Schelmenstück geschrieben wurde, denn die Bedeutungen der Worte verändern sich über die Generationen hinweg. Wenn man „Macho Ratón“ als „kleines männliches Tier“ übersetzt, so ist darin nicht die figurative Bedeutung „kleiner Bulle“ enthalten, die im Theaterstück evoziert wird, auch wenn der Schelm vorgibt, dass er die „Erlaubnis eines Mädchens“ bekommen habe; auch nicht die Bedeutung „kräftiger kleiner Mann, mutiger, beherzter Mann“. Unverschämter, impertinenter kleiner Mann? Aus dem Text lässt sich ableiten, dass der Güegüense unverschämt ist, aber das ist nur eine seiner zahlreichen Eigenschaften. Daher kann man nicht kategorisch behaupten, dass die Bedeutung „unverschämt“ die Wortbedeutung von „Macho“ trifft. In einem weiteren Sinn assoziiert „Ratón“ auch schlau, erfinderisch, närrisch, geschwätzig, betrügerisch. Und dazu kommt, dass „macho“ im übertragenen Sinn auch die Bedeutung stark, mutig, mächtig, herkulisch etc. hat, d.h. dass das Wort „macho“ Überlegenheit suggeriert, kurz gesagt: groß, riesig, enorm, herausragend. In diesem Fall würde „Macho Ratón“ „der große Lügner“ oder „der großen Schwätzer“ oder „der große Gauner“ bedeuten. Damit wird „Macho Ratón“ tatsächlich zum Synonym für Güegüense —zweifellos nur eine von vielen Möglichkeiten der Interpretation. Im Theaterstück treten kurz vor dem Schluss vier Maulesel auf, die von kostümierten Männern verkörpert werden, und keiner von ihnen wird als Macho Ratón bezeichnet; außerdem haben sie keine Stimme und spielen im Stücke eine untergeordnete Rolle. Auch einer der im Stück vorkommenden Tänze heißt Macho Ratón, ebenso wie es den Tanz von San Martín und den Son de Puerto Rico gibt — wahrscheinlich drei verschiedene populäre Tänze der damaligen Zeit. Aus dem Gesagten ergeben sich drei Möglichkeiten: entweder der Tanz „Macho Ratón“ bestimmt den Untertitel des Werks, oder die Einführung dieses Tanzes verdankt sich der Tatsache, dass dieser Tanz zur Zeit der Werkentstehung populär war —heutzutage ist dieser Tanz in Managua und der südlichen Region der Pazifikzone Nikaraguas fast unbekannt— oder aber der Untertitel des Werks geht darauf zurück, dass das Volk die Maulesel und den Tanz „Macho Ratón“ in einem Maße mit dem Werk assoziiert hat, dass diese ihm im Verlauf der Zeit schließlich seinen Namen gaben. Carlos Mántica glaubt, dass der Untertitel Macho Ratón entstand, nachdem das Werk auf die Bühne gebracht worden war. Er offeriert eine weitere Interpretation, die meines Erachtens kreativ und logisch erscheint. Ihm zufolge geht der Untertitel auf die Verballhornung des Náhuatl-Worts “macehuatón” zurück, dessen Bedeutung im Spanischen „Tanz“ oder „Ballett“ ist (9) — daher bezeichnet Daniel G. Brinton das Werk als “comedy ballet”.

Folgt man Mánticas Interpretation, so besagt Güengüense o Macho Ratón “Tanz des Großen Schelms“ oder „Tanz des Großen Unverschämten“, „Tanz des Großen Gauners“ oder „Tanz des großen Spötters“.

Vermutungen über den anonymen Autor von El Güegüense o Macho Ratón

Zu welcher sozialen Gruppe mag der anonyme Autor der Tanzkomödie El Güegüense o Macho Ratón gehört haben? War er ein geistreicher kreolischer Händler, dessen kritische Haltung und dessen Unzufriedenheit mit der Steuerpolitik in den spanischen Kolonien ihn veranlassten, dieses Werk zu schreiben und der seine Identität aufgrund seiner sozialen Herkunft nicht preisgab? Oder war es ein indianischer Dichter? Ein Indio, der sich in der Literatur auskannte oder eine europäische Bildung genossen hatte und der sich aufgrund seiner sozialen Stellung entschloss, seinen Namen zu verschweigen, um Schwierigkeiten oder Repressalien zu vermeiden, oder in dessen literarischer indigener Tradition der Name des Autors eine nebensächliche Rolle spielte? Oder war er ein ausgebeuteter, aber talentierter Indio, dessen Intellekt über den seiner gebildeten Zeitgenossen hinausragte und dessen Absicht es war, eine soziale Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft zu formulieren? War er vielleicht ein kultivierter mestizischer Spötter der die Unzufriedenheit seiner sozialen Gruppe zum Ausdruck bringen wollte? Oder war er ein hellsichtiger königlicher Amtsträger, der mit sich oder mit seiner Klasse unzufrieden war, oder ein scharfsinniger königlicher Würdenträger, der sich über seine Zeitgenossen lustig machte? War er ein spanischer Priester, der die Probleme seiner Gemeinde kannte, einer Gemeinde irgendwo in der südlichen Region der Pazifikzone Nikaraguas, die kein Geld hatte? Oder war er ein ruheloser, rebellischer Schriftsteller mit Kenntnissen der Náhuatl-Kultur, ein spanischer Literat des 19. Jahrhunderts, dessen Anliegen die eigene Unterhaltung und die seiner Mitmenschen war? Oder war der Güegüense etwa nicht die Schöpfung eines Einzelnen, sondern einer Gruppe von Personen? Alle diese Fragen gehen davon aus, dass der Autor von El Güegüense o Macho Ratón jemand war, der das gesprochene Náhuatl von Nikaragua ebenso wie das Spanische beherrschte, dazu die Feinheiten und Doppelsinnigkeiten beider Sprachen; er kannte den Wortschatz der Maultiertreiber, entweder weil er mit Maultiertreibern selbst zu tun hatte oder weil er sich mit ihrer Sprache beschäftigte; er kannte die Münzen der damaligen Zeit; er wusste über die Waren Bescheid, die man in der Provinz Nikaragua hauptsächlich handelte, die Einzelheiten der Arbeit eines Hausierers waren ihm nicht unbekannt, er hatte Musikkenntnisse, kannte sich in Tanz, Folklore und Choreographie aus, er wusste, wie damals Amtsmissbrauch betrieben wurde, und schließlich und endlich hatte er ein Mindestmaß an literarischen Neigungen und eine kritische Haltung.

Welche Vermutungen hat es gegeben? Francisco Pérez Estrada (1912 – 1982), Dichter und Anthropologe, neigte dazu zu glauben, dass der Autor ein Kreole war, weil das Werk wegen der augenfälligen Beherrschung der Syntax des Spanischen „auf einen spanischen Autor hindeutet“; ebenso erkennt man „hinter einfachen Naivitäten und Obszönitäten den Widerstand des Händlers (des Güegüense) gegen das Zahlen von Steuern an den Stadtrat“ (10). Keinen Zweifel ließ Alejandro Dávila Bolaños (1922-1979), ein in der Kultur der Indios von Nikaragua Bewanderter, an seiner mit Vehemenz vertretenen Meinung, dass der Schöpfer des großen Gauners ein ausgebeuteter und rebellischer Indio war (11). Joaquín Pasos (1914-1947), Dichter der Avantgarde, vermutete dass der Autor von El Güegüense o Macho Ratón ein Priester war, dessen Absicht die Unterhaltung von Indios und Mestizen war: „Der anonyme Priester, der El Güegüense o Macho Ratón schrieb“ —so formulierte Pasos— (…) „hatte sicherlich das Einfühlungsvermögen, um die Seele des Volkes zu verstehen” (12). Jorge Eduardo Arellano (1946), Erzähler und Literaturkritiker, der der gleichen Meinung war, argumentierte, dass eine Person mit einem solchen Beruf die Voraussetzungen hatte, um ein solches Werk zu schreiben, d.h.: Bildung, literarisches Talent, eine Neigung zum Theater, Verständnis für die Realität und Tradition seiner Gemeinde (13). Alberto Ycaza (1945), Dramaturg und Theaterdirektor, stellte fest, dass alles im Text auf einen kollektiven Verfasser hindeutete und nicht auf einen Einzelnen (14). Andere vertreten andere Auffassungen. Diese unterschiedlichen Urteile sind das Resultat verschiedener Lesarten oder Interpretationen und hängen daher von den literarischen und sozialen Werten ab, die man dem Werk zugeschrieben hat. Warum konnte er nicht ein kreolischer Händler sein? Warum nicht ein ausgebeuteter rebellischer Indio? Warum nicht ein spanischer Priester aus einem Dorf? Warum nicht ein königlicher Amtsträger? Warum nicht dieses oder jenes? Alles ist möglich, nichts ist unwahrscheinlich. Sich auf eine Möglichkeit festzulegen und alle anderen auszuschließen hieße, den mythischen Gehalt zu negieren, den das Werk mit seinen zahlreichen Versionen und Neufassungen des Textes und mit den nachfolgenden Interpretationen dieser Texte gewonnen hat. Weiterhin würde es die Geschichte der verschiedenen vorliegenden Fassungen ausblenden – es existiert keine Originalfassung des Textes, man sprach von zwei Manuskripten oder Fassungen des Werks, die Juan Eligio de la Rocha (1815-1873) entdeckte, ein Kenner der Indianersprachen Nikaraguas. Was tatsächlich vorliegt, sind die Fassungen, die in den Besitz der deutschen Philologen Berendt und Lehmann und der Nikaraguaner Emilio Álvarez Lejarza (1884-1969), Kenner der Kultur und der Traditionen seines Landes, und Francisco Pérez Estrada gelangten, sowie die unterschiedlichen Versionen dieser vier Fassungen. Außerdem würde es bedeuten, die Doppelsinnigkeiten des Textes zu negieren, die zum einen durch Polysemie und zum anderen durch Homophonie zustande kommen. Schlussendlich könnte man anhand der Geschichte des nicht existenten Originaltextes und der vier erwähnten Versionen und Neufassungen sowie der Doppelsinnigkeiten auch „Yeyo“ als Autor annehmen – was bedeutet, dass es ebenso jedermann wie niemand gewesen sein kann (15).

Es ist nicht unmöglich, dass der anonyme Autor ein königlicher Amtsträger aus Spanien war. Gleichgültig, ob die Absicht eine Verspottung oder eine Sozialkritik war, man darf nicht vergessen, dass, wie Francisco Rico schreibt, „bevor mit dem Bücherkatalog des Jahres 1559… strenge Regelungen gegen den anonymen Druck von Büchern erlassen wurden, der anonyme Autor eine gängige Form in religiösen und weltlichen Büchern in Spanien war. Ohne Autorenname wurden z.B. die Celestina und viele ihrer Nachahmungen, zahlreiche Ritterromane, der Lazarillo und seine Fortsetzung […], und schließlich viele pietistische Romanzen publiziert“ (16). Es ist nicht unsinnig anzunehmen, dass diese Vorgehensweise einen Einfluß auf den Autor von El Güegüense o Macho Ratón hatte, obwohl inzwischen einige Zeit vergangen war. Um das Beispiel des Lazarillo de Tormes aufzugreifen: Hier schließt der Antiklerikalismus des Buches nicht den Ordensbruder der Hieronymiten Juan de Ortega als möglichen Verfasser dieses Textes aus. Wenn es aufgrund der Kritik und des Spotts gegenüber den Repräsentanten der politischen, ökonomischen und administrativen Macht nicht unmöglich ist, einen königlichen spanischen Amtsträger als Autoren von El Güegüense o Macho Ratón auszuschließen, dann muss man die Frage stellen, ob es nicht jemand gewesen sein könnte, dessen kritischer Geist und Sinn für Humor so stark waren, dass sie es ihm erlaubten, sich selbst und gleichzeitig andere zu kritisieren oder über sich selbst und andere zu lachen? Ich halte eine positive Antwort auf diese Frage für möglich. Wenn der Schelm, der die zentrale Figur dieses Werks ist, eine doppelte Persönlichkeit besitzt, warum sollte dies nicht auch auf den Autor des Werkes zutreffen?

Denkbar ist auch die Möglichkeit, dass der Autor von El Güegüense o Macho Ratón ein Indio war, der zur präkolumbischen Adelsschicht und zur Klasse der Ausbeuter gehörte — es gab sogar Indios, die in jener Epoche Gouverneure waren. Diese Indios hatten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, und nichts spricht dagegen, dass einer von ihnen die genannten Prämissen einer Autorschaft hätte erfüllen können. Er sah Straßentheater, er mag von einem oder mehreren Mestizen gehört oder jemanden gekannt haben, dessen Eigenschaften sein Interesse weckten, dachte sich einen dramatische Idee aus oder übernahm sie aus einem oder mehreren Stücken, die er gesehen hatte, und versah die Zentralfigur seines Werks mit den Eigenschaften jenes oder jener Mestizen. Tatsächlich war das Original eine mündliche Version wie andere indigene Theaterstücke vor der Ankunft der Spanier. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Aspekt der Autorschaft für ihn nebensächlich war, da letztere in der indigenen Tradition keine Rolle spielte, ebenso in den sehr kleinen intellektuellen Kreisen um ihn. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein solcher Indio der Schirmherr populärer Feste seiner Gemeinde war, die man mit Tafeln, Tänzen und Theaterstücken auf dem zentralen Platz oder in der Nähe der Kirche oder des Heiligtums feierte; d.h. der Náhuatl-Organisator und Leiter von Tanz und Tanztheater seines Volkes, der in einigen Orten auch Güegüense genannt wurde (siehe Anmerkung 9). Es gibt einige Gründe anzunehmen, dass es so gewesen ist: In vielen Orten war, und ist noch heute, die größte Autorität der Schirmherr der Patronatsfeste. Wenn diese Möglichkeit zutreffen sollte, dann hatte der Indio, der zur Oberschicht gehörte, genug Humor, um über sich selbst zu lachen und über seine Zeitgenossen. Was für ein Schelm! Und mehr noch, er gab der Tanzkomödie den Namen seines Amtes, nämlich Güegüense. Warum nicht?

Es sprechen auch viele Argumente dafür, dass ein Priester der Autor oder der verantwortliche Kopf war, der dem Werk seine Form gab — hier liegt die Möglichkeit zugrunde, dass es sich um eine Gruppe von Personen handelte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein Priester die Erfahrung hatte, sei es als Dramaturg oder als künstlerischer Direktor, wenn auch in geringem Maß –man muss hinzufügen, dass das Theater mit der Zielsetzung der Missionierung von Indios bald nach der Eroberung einsetzte und Elemente des indigenen Theaters aufnahm. Welche Motive konnte ein Priester gehabt haben, sich mit einem weltlichen Theater zu befassen? Mehrere, so zum Beispiel: eine Neigung zum Theater überhaupt, Überdruss am religiösen Theater; Lust, eine Komödie zu schreiben und zu inszenieren; ein Bedürfnis, die Repräsentanten der Macht zu kritisieren und seine Unzufriedenheit mit der Situation in dem sozialen Milieu, in dem er arbeitete, zu artikulieren; ein Interesse, für zukünftige Generationen ein Theaterstück zu bewahren, das nur in der mündlichen Tradition existierte; und eine Wertschätzung der indigenen Kultur und Tradition. Es gibt keine Indizien, die diese möglichen Beweggründe entkräften.

Welche der angeführten oder weiteren Möglichkeiten auch immer zutrifft, gewiss ist, dass es Raum für alle diese Möglichkeiten gibt; die Geschichte der Einzelheiten des Werks, die sich bis heute vergrößernde Zahl der Neufassungen, das Thema des Werks und die Eigenschaften des Großen Gauners sprechen dafür. Ebenso wie der Lazarillo de Tormes bleibt El Güegüense o Macho Ratón ein anonymes Werk. Eins steht jedoch fest: Der Schöpfer des Großen Gauners war selbst ein großer Schelm. Wie hätte er ahnen können, dass sein Werk später einmal einen prominenten Platz in der nikaraguanischen Literatur einnehmen würde??

(1) Rubén Darío, «Folklore de la América Central. Representaciones y Bailes en Nicaragua», en La Biblioteca, Jahrgang I, Bd. I, Nr. 3. Argentinien, August 1896, S. 406.

(2) Pablo Antonio Cuadra, Torres de Dios. Nikaragua, 1985, S. 125.

(3) Carlos Mántica, El Habla Nicaragüense y otros ensayos. Costa Rica, 1989, S. 131.

(4) Der Kommentar von Carl Hermann Berendt erschien in «Estudio sobre El Güegüense». Berendt konnte keinen Artikel mehr über das Werk schreiben, da er überraschend in Guatemala verstarb. Daniel Garrison Brinton übernahm das Material, er übersetzte es aus dem Náhuatl-Spanischen ins Englische und publizierte es neun Jahre später, im Jahr 1883, in Philadelphia unter dem Titel The Güegüense: a comedy-ballet in the nahuatl-spanish dialect of Nicaragua.

(5) Pablo Antonio Cuadra, «Introducción», in Teatro Callejero Nicaragüense. El Güegüense o Macho Ratón. Cuaderno del Taller San Lucas, Nr. 1. Nikaragua, 18. Oktober 1942.

(6) Referenz zit. aus Carlos Mántica, op. cit., S. 122.

(7) Alejandro Dávila Bolaños, «Introducción dialéctica», in Teatro popular colonial revolucionario: El Güegüense o Macho Ratón. Nikaragua, 1974. Man muss anfügen, dass die indigene aztekische Kultur den alten indianischen Leiter der Tänze auf dem Platz neben einer katholischen Kirche oder eines Volksfests oder einer Pilgerfahrt als Güegüenche oder Hüehuenche bezeichnete —entsprechend seiner Funktion würde man diesen alten Indio heute als Schirmherrn bei säkulären oder religiösen Festen der Bevölkerung bezeichnen; letztlich hat diese Art von Güegüenche oder Hüehuenche jedoch nichts zu tun mit der Hauptfigur des hier diskutierten Werks.

(8) “Cuecuehtzin” von “‘Cuecueh’, mutwillig, lasziv, schamlos,” und von “‘tzin’, „Suffix, der Ehrerbietung ausdrückt”; siehe Carlos Mántica, op. cit., S. 175.

(9) “Macehuatón” von “Macehuaz, Tanz, und tontli, verächtlicher Diminutiv; siehe Carlos Mántica, op. cit., S. 127 und S. 183 f.

(10) Francisco Pérez Estrada, Ensayos nicaragüenses. Nikaragua, 1992, S. 93 und S. 95.

(11) Alejandro Dávila Bolaños, a.a.O. und in «Quién y en qué época se escribió El Güegüense», La Prensa Literaria, Nikaragua, 10. September 1977.

(12) Zitat aus Jorge Eduardo Arellano, «La comedia maestra de la Nicaragua colonial», in El Güegüense. Anonymus des 17. Jh. Biblioteca Literaria Iberoamericana y Filipina; Bd. 5. Madrid, Spanien, 1991, S. 48.

(13) Ebda., S. 46-48. Ebenso Jorge Eduardo Arellano, in «Esencia e interpretación», in El Güegüense. Nikaragua, 1977, S. 12.

(14) Mündliche Aussage von Alberto Ycaza, publiziert durch Jorge Eduardo Arellano in «La comedia maestra de la Nicaragua colonial», in op. cit., S. 42.

(15) In den Regionen des Landes, die unter spanischer Verwaltung standen, beantwortet man die Frage „Wer war es?“ noch heute mit „¡Yeyo!“, immer dann, wenn man ausdrücken möchte, dass es dieser oder jener oder aber niemand von ihnen gewesen sein könne. Yeyo ist die verkürzte Form des Namens Eduardo. In diesem Kontext ist es ein frei erfundener Name.

(16) Zit. aus Francisco Rico «Introducción», in Lazarillo de Tormes. Ediciones Cátedra. Madrid, Spanien, 1992, S. 32*-33*.

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