Nicaragua kämpft mit Venezuelas Hilfe gegen Armut und pflegt die Vetternwirtschaft / Zentralamerika baut wegen hohen Ölpreisen auf Wirtschaftshilfe von Hugo Chávez
MANAGUA. Das alte Zentrum Managuas sieht auch heute noch fast so aus wie nach dem Erdbeben von 1972. Unkraut überwuchert Ruinen und große freie Flächen, ein aufgegebener Vergnügungspark rostet in der Tropenfeuchte, und wie ein Mahnmal steht windschief die alte Kathedrale, der nur ein Eisenkorsett noch Halt gibt. Neu ist hier nur das Lager von Landarbeitern, die seit Jahren unter schwarzen Plastikplanen und Wellblech hausen und so gegen die Verseuchung mit Pestiziden auf ihren Bananenplantagen protestieren.
Nur einen Steinwurf entfernt von den schwarzen Plastikplanen legen Bauarbeiter unter der brennenden Augustsonne letzte Hand an Dutzende weiße Häuser, die sich über mehrere Straßenzüge erstrecken. „Casas para el pueblo“, verkündet ein großes Schild. Auf den Trümmern des alten Stadtzentrums errichtet die Regierung von Präsident Daniel Ortega 400 „würdige Häuser für das Volk“. 54 Quadratmeter, Wohn- und Esszimmer, drei Schlafzimmer, Bad und sogar eine kleine Terrasse verspricht das Schild. Für die meisten Nicaraguaner klingt das wie das Paradies auf Erden.
Derartige Projekte gibt es viele in Nicaragua, seit die Sandinisten im Januar 2007, 17 Jahre nach ihrer Abwahl, wieder die Macht übernahmen. In dem zentralamerikanischen Staat entstehen nicht nur Häuser, sondern auch Straßen fürs Volk, wird die Gesundheitsversorgung und die Bildung wieder kostenfrei angeboten und Nahrungsmittel zu subventionierten Preisen in den Armenvierteln unters Volk gebracht.
Doch woher kommt das Geld für die millionenschwere Projekte? Nicaragua ist das Armenhaus Zentralamerikas, jeder Zweite muss mit zwei Dollar Einkommen am Tag auskommen. Das Land ist ein internationaler Sozialfall, der nur mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft überlebensfähig ist, gebeutelt von Regierungen, die sich die eigenen Taschen füllten und nicht die Bäuche der hungernden Bevölkerung.
Die Antwort weiß Néstor Avendaño, Wirtschaftsberater, und der Mann in Managua, den man aufsuchen muss, wenn man genaue Zahlen über die nicaraguanische Volkswirtschaft braucht. Die Regierung bezahle die Projekte aus dem großen Füllhorn, das „Bolivarianische Alternative für die Amerikas“ (ALBA) und Petrocaribe heißt und von Venezuela über vielen Staaten Lateinamerikas ausgegossen wird, sagt Avendaño.
Mit seinen Petrodollar unterstützt Chávez im Rahmen des amerikaweiten Wirtschaftsbündnisses ALBA und des regionalen Energieverbunds Petrocaribe linke Regierungen und klamme Länder in der Region. Von Petrocaribe profitieren mittlerweile 18 Länder der Karibik und Zentralamerikas. Auf der schmalen Landbrücke gehören Nicaragua, Guatemala und Honduras zu Chávez‘ Kunden, denn die explodierten Preise für Öl und Nahrungsmittel haben die Länder an den Rand des Ruins gebracht.
Und jetzt wünscht sogar das traditionell US-freundliche Costa Rica Einlass bei Petrocaribe und so Zugang zu venezolanischem Öl zu Vorzugskonditionen. Dafür lobte Präsident Oscar Arias den Linksnationalisten in Caracas jüngst vor dem EU-Parlament in Brüssel über den grünen Klee. „Venezuela nimmt täglich 350 Millionen Dollar durch den Ölverkauf ein. Das erlaubt seinem Präsidenten mit vielen Menschen sehr großzügig zu sein“.
Doch nirgends in Zentralamerika mischt Venezuela so sehr mit wie in Nicaragua. Ortega und Chávez sind sich freundschaftlich verbunden und wirken wie aus einem Guss. Sie pflegen den gleichen linksnationalistischen Diskurs und wettern gegen das „Imperium“. Auch Ortega will sich dauerhaft auf dem Präsidentensessel festsetzen und sichert sich dafür die Kontrolle über Parlament und Justiz.
„Venezuela tritt hier auf wie der reiche Verwandte, mit den Hosentaschen voller Dollar“, sagt Néstor Avendaño. Sechs der zehn Millionen Fass Öl, die Nicaragua jährlich verbraucht, kommen inzwischen aus Venezuela. Die eine Hälfte muss innerhalb von drei Monaten gezahlt werden, die andere innerhalb von 25 Jahren mit einem Zinssatz von einem Prozent. Je nach Ölpreis hat die Regierung Ortega so rund 350 bis 500 Mio. Dollar jährlich zur Verfügung, die sie nicht für den Kauf von Öl auf dem Weltmarkt aufwenden muss.
„Über die genaue Summe gibt es keine offizielle Information, das Geld taucht in keiner amtlichen Statistik auf, nichts“, kritisiert Avendaño. Die eine Hälfte gehe in die ALBA-Bank, glaubt der Experte. „Die andere verwaltet direkt der Präsident“.
Auch wenn es keine Daten über die Verwendung des parallelen Budgets gibt, so scheine aber sicher, dass die Regierung daraus Sozialprojekte wie die Häuser fürs Volk finanziert, sagt der politische Analyst und Hochschullehrer Arturo Wallace. „Ortega macht mehr für die Armen als die Vorgängerregierungen.“ Allerdings denke die Regierung bei der Verteilung zuerst an ihre eigenen Leute: „Der Präsident ist der sandinistischen Basis mehr verpflichtet als den Armen“, betont Wallace. Um in den Genuss von Häusern, Jobs und sonstigen Vergünstigungen zu kommen, sei immer auch das grüne Licht der Regierungspartei FSLN notwendig, die in den Stadtteilen über die so genannten Komitees der Bürgermacht (CPC) organisiert sei.
Doch nicht nur die Vergabe der Wohltaten an die Empfänger ist parteiisch geregelt; auch öffentliche Ausschreibungen für die Projekte gibt es nicht. Vielmehr profitieren von den Staatsaufträgen vor allem Unternehmen, die der Familie Ortega nahestehen oder der FSLN. Zum Beispiel Bayardo Arce. Er ist nicht nur Wirtschaftsberater des Präsidenten, sondern zugleich „Reiszar“ von Nicaragua und Haupteigner von Agricorp, dem Unternehmen, das fast den kompletten Import und die Verteilung von Nahrungsmitteln im Land kontrolliert. Andere hochrangige FSLN-Mitglieder leiten Bauunternehmen, Importfirmen und landwirtschaftliche Großbetriebe. Und die Werbeagentur, die für die flächendeckende Plakatierung Managuas mit Ortega-Porträts zuständig ist, gehört einem Verwandten des Präsidenten. „Es ist eine neue Art von Nepotismus“, urteilt Avendaño.
Wie undurchsichtig die ALBA-Gelder ausgegeben werden, schildert ein leitender Angestellter, der seit vielen Jahren in einer nicaraguanischen Behörde arbeitet. „Irgendwann vergangenes Jahr“, sagt er, „bekam ich zu meinem Gehalt von 700 Dollar monatlich nochmal 500 Dollar obendrauf.“ Woher das Geld kam, warum und wie lange es gezahlt wird, weiß er bis heute nicht. „Es sind ALBA-Gelder“, hieß es nur.
„Ortega setzt vollständig auf die bedingungslose Zusammenarbeit mit Venezuela“, warnt Sergio Ramírez im Gespräch. Der Schriftsteller war von 1984 bis 1990 Ortegas Vizepräsident in der Revolutionsregierung und ist heute einer seiner härtesten Kritiker. „Während er den Schulterschluss mit Chávez sucht, ist ihm egal, was der Rest der Welt macht“, sagt Ramírez. Denn Ortega verprellt anscheinend bewusst die internationalen Geldgeber, die Nicaragua seit Jahrzehnten mit durchschnittlich 500 Mio. Dollar jährlich am Leben halten. 18 Staaten, darunter Deutschland, und rund 100 Nichtregierungsorganisationen leisten dem Land Hilfe zur Entwicklung. 70 Prozent der Investitionen der öffentlichen Hand werden über unterschiedliche Projekte der internationalen Entwicklungshilfe finanziert.
Als die scheidende schwedische Botschafterin Eva Zetterberg öffentlich das Verbot von Oppositionsparteien kritisierte und auf die nach wie vor große Armut im Land hinwies, bezichtigte die Regierung sie der Einmischung und rief eine Hexenjagd gegen die Diplomatin aus, die Mitglied der schwedischen Linkspartei und Nicaragua seit Jahren freundschaftlich verbunden ist.
Einige europäische Geldgeber fühlten sich von Ortega vor den Kopf gestoßen, erläutert ein Diplomat in Managua vorsichtig. Dies seien vor allem diejenigen Länder, die aus alter Sympathie für das sandinistische Projekt noch stark in Nicaragua engagiert seien. Noch gebe es keine einheitliche Linie unter den Geldgebern, aber es sei möglich, dass sich einige Staaten demnächst zurückziehen.
Den Familien, die bald in die 400 weißen Häuser einziehen, dürfte das egal sein. In Blickweite der neuen Siedlung grüßt Daniel Ortega überlebensgroß mit gereckter Faust von einem Propaganda-Plakat auf kitschig rosa Hintergrund. „Arriba los pobres“ – die Armen zuerst, steht darauf.
Dieser Beitrag erschien in leicht veränderter Form am 11.09.2008 in der Frankfurter Rundschau.Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Bildquellen: Klaus Ehringfeld_