Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Tomás Borge – unsterblich widersprüchlich

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Nicaragua_Tomas_Borge_Foto_Presidencia de la Republica de Ecuador

Neun der zehn ersten Führer der Frente Sandinista de Liberación Nacional waren vor Somozas Sturz umgekommen. Ihre riesengroßen Gesichter, in den sandinistischen Farben Schwarz und Rot gemalt, starrten auf die Plaza de la Revolución herab. Carlos Fonseca (der die Frente, die Befreiungsfront, 1956 begründet hatte und im November 1976, zweieinhalb Jahre vor dem Sieg der Sandinisten, gefallen war), Silvio Mayorga, Germán Pomares: Namen, die sich wie eine Litanei aufsagten. Der einzige Überlebende, der heutige Innenminister Tomás Borge, fand sich dort oben als Lebender mit den Unsterblichen versammelt. Borge war schwer gefoltert worden und soll sich nach der Revolution, so erzählt man sich, an seinem Folterer dadurch «gerächt» haben, dass er ihm verzieh.

Aus: Salman Rushdie: Das Lächeln des Jaguars. Eine Reise durch Nicaragua. Rowohlt Verlag 2009

Nun hat sich auch Tomás Borge als Toter zu den Unsterblichen gesellt: Am 30. April 2012 ist er in Managua im Alter von 81 Jahren seinem schweren Lungenleiden erlegen. Anlässlich seines Todes kondolierten nicht nur zahlreiche Staatsmänner aus ganz Lateinamerika. Abschied nahmen neben der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú aus Guatemala auch seine Weggefährten, darunter solche, die inzwischen zu den härtesten Kritikern Daniel Ortegas gehören. Gioconda Belli, die bekannte nicarguanische Schriftstellerin, Sandinistin und Gegnerin Ortegas, würdigte Borge als einen Widersprüchlichen und Unbeugsamen.

Das Unbeugsame, Kämpferische offenbart sich früh: Bereits mit 13 Jahren nimmt Tomás den Kampf gegen Somoza auf. 1961 gehört er zu den Mitbegründern der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), den Sieg der Revolution am 19. Juli 1979 erlebt er als einziger Überlebender der Gründergeneration. In den Jahren dazwischen war er im bewaffneten Widerstand, mehrfach im Gefängnis, dort grausam gefoltert, 1978 im Ergebnis einer erfolgreichen Aktion seiner Genossen freigelassen. Als Kopf des „Verlängerten Volkskrieges“ (GPP), eine der drei Strömungen der FSLN, gehört er zu den neun Comandantes, die im Frühjahr 1979 die kollektive Führung der Sandinisten bilden. Der Revolution dient er dann als Innenminister. Zweifellos eine Schlüsselposition, aber eine, in der Borge Widersprüche aushalten muss und selbst Widerspruch verkörpert. Die Revolution befindet sich im Überlebenskampf. Der Krieg ist ein doppelter: Gegen die USA und die von Honduras bzw. Costa Rica aus agierenden Contras einerseits, denen es aber andererseits zunehmend gelingt, Unzufriedene und Enttäuschte im Inneren zu mobilisieren. Für Tomás Borge, dem in seiner Funktion als Innenminister auch der Geheimdienst untersteht und der als Sonderbeauftragter der Regierung außerdem die hart umkämpfte Atlantikregion zu verteidigen hat, steht die Verteidigung der Revolution an oberster Stelle. Dies geht nicht ohne Härte und sicher nicht ohne Fehler. Wenn Borge in seiner Amtszeit dennoch eine Humanisierung des Strafvollzugs durchsetzt und unter seiner Federführung die stark indigen geprägte Atlantikregion eine weitreichende, international als mustergültig eingeschätzte Autonomie erhält, dann zeigt dies jene zweite Seite, die ihn erst zum Unsterblichen werden läßt. Borge ist nicht nur Revolutionär und Politiker, er ist auch Schriftsteller und Dichter. Und er bleibt ein Mensch, der auch als Minister seinem Folterer verzeihen kann.

Im Februar 1990 werden die Sandinisten von einer kriegsmüden Bevölkerungsmehrheit abgewählt. Drei Monate zuvor war die Mauer in Berlin geöffnet worden, und der osteuropäische Sozialismus sah seinem Ende entgegen. Anti-Sandinisten verbrennen nach ihrem Wahlsieg in der Universitätsstadt León preisgekrönte Werke von Ernesto Cardenal (früher Kulturminister), Sergio Ramírez (ehemaliger Vizepräsident), Tomás Borge und Gioconda Belli.

Die Sandinisten spalten sich 1994 in Anhänger von Daniel Ortega, von 1984 bis 1990 Präsident Nicaraguas, und Sergio Ramírez, Vizepräsident. Mit Daniel Ortega setzt sich jene Variante des Sandinismus durch, die um fast jeden politischen Preis zurück an die Regierung wollte. Dazu gehörten politische Pakte mit früheren Gegnern, Kungelei, Klientelismus, Abrücken von einstigen revolutionären Errungenschaften. 2007 war es dann schließlich soweit: Mit 38 Prozent der Stimmen wurde Daniel zum zweiten Male Präsident Nicaraguas. Auf diesem langen Weg „zurück in die Zukunft“ hat ihn Tomás Borge, der Unbeugsame, loyal begleitet. Zuletzt bekleidete er den Posten des Botschafters seines Landes in Ecuador. Borges Lebensweg verkörpert wie kein zweiter Größe und Widersprüchlickeit jener Revolution, der er sich seit frühster Jugend verpflichtet fühlte. Die Worte, die Salman Rushdie für diese fand, gelten auch und gerade für den Guerillero, Politiker und Dicher Tomás Borge:

Die nicaraguanische Revolution war und ist bis heute eine pasión – als Leidenschaft wie als Leidensgeschichte. Die Verschmelzung beider Bedeutungen ist charakteristisch für den Sandinismus.

Werke von Borge, die in Deutschland erschienen sind:
Die Revolution kämpft gegen die Theologie des Todes. Reden eines führenden Sandinisten zur Aufgabe der Christen im neuen Nicaragua. Edición liberación, Münster 1984

Tagesanbruch gegen den Tod. Zu Krieg und Frieden in Nicaragua. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1988

Mit rastloser Geduld. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1990 (Autobiographie)

—————————

Bildquelle: Presidencia de la República del Ecuador

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert