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„Es war wie in einer Gruft“ – Interview mit Dora María Téllez

Ralf Leonhard | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Dora María Téllez kam international in die Schlagzeilen, als sie im August 1978 führend an der Stürmung des Nationalpalasts in Managua teilnahm. Mit einer Geiselnahme der Abgeordneten des diktatorischen Somoza-Regimes wurden die politischen Gefangenen freigepresst und der Anfang vom Ende des tyrannischen Regimes eingeläutet. Nach dem Sturz des Regimes war sie an der Organisation einer großen Alphabetisierungskampagne beteiligt und wurde schließlich Gesundheitsministerin. Nach dem Ende der Sandinistischen Revolution überwarf sich Dora María Téllez mit Daniel Ortega, der zunehmend autoritär auftrat, und gründete mit dem Schriftsteller Sergio Ramírez die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS). Im Juli 2021 wurde sie festgenommen und Monate später zu acht Jahren Haft verurteilt. Am 9. Februar wurde sie nach 605 Tagen Dunkelhaft gemeinsam mit weiteren 221 politischen Gefangenen freigelassen, ihrer Staatsbürgerschaft beraubt und in die USA ausgeflogen.

 


 

laa: Sie waren 605 Tage in Dunkelhaft allein in einer Zelle. Wie überlebt man das, ohne verrückt zu werden?

DMT: Das ist gar nicht leicht. Man muss einen Überlebensmechanismus entwickeln. Eine Zeitlang bin ich um 4:00 Uhr aufgestanden und habe eine Stunde Gymnastik gemacht. Dann bin ich eine Stunde im Kreis gegangen und habe auf das Frühstück gewartet. Dann bin ich wieder eine Stunde gegangen und habe bis zum Mittagessen Gymnastik gemacht. Der Nachmittag war immer lang und schwierig. Da lässt man sich Ereignisse und Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf gehen: das Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern. Manchmal habe ich an bestimmte Bücher gedacht oder mir Gedichte in Erinnerung gerufen. Das hilft, das Gehirn zu trainieren. Einige Mitgefangene haben versucht zu schlafen. Ich kann am Nachmittag aber nicht schlafen. Später bin ich dann um 5:00 Uhr aufgestanden und habe mit dem Bewegungsprogramm begonnen. In der Dunkelheit habe ich mir dabei das Knie und die Füße verletzt. Ich hatte ja keine Schuhe, nur Flip-Flops.

Sie wurden zu acht Jahren verurteilt. Wie geht man damit um, nicht zu wissen, wie lange das dauern wird?

Das sind Grenzerfahrungen. Die ständige Unsicherheit. Ich fühlte mich tot. Vor allem die ersten drei Monate, bevor wir erstmals Familienbesuch empfangen und einen Anwalt sehen durften, das war wie in einer Gruft. Es ist eine Art der Nichtexistenz, die du empfindest. Wir durften ja weder lesen noch schreiben, mit niemandem reden, keine Mitgefangenen sehen, keinen Sport betreiben, absolut nichts. Das Einzige was wir machen konnten, war essen, schlafen, die Notdurft verrichten und Bewegung machen.

Wie wichtig ist es, das Gefühl für die Zeit nicht zu verlieren?

Sehr wichtig. Aber es ist fast unvermeidlich, dass das passiert. Du zählst die Tage, aber dann passiert es, dass dir ein Tag im Monat fehlt. Ich habe mir immer vorgesagt: heute ist Montag, der 23. Januar. Niemand hat dir aber gesagt, wie spät es ist. Man orientiert sich an den Mahlzeiten. Diejenigen, die ihre Zellen näher am Innenhof hatten, sahen ein bisschen Tageslicht. Bei mir war es Tag und Nacht dunkel. Die Tage zogen sich endlos hin. Und die Wärter mussten vor Dienstantritt Uhr und Telefon ablegen, damit wir da nichts sehen konnten. Wir wussten nur ungefähr, wie lange die Schichten dauerten und dass sie zum Beispiel um acht Uhr den Dienst antreten.

Beim Training für die Guerilla vor über 40 Jahren, gab es da Tipps, wie man die Haft übersteht?

Das nicht, wir wurden aber auf die Verhöre vorbereitet. Das war nützlich. Die ersten Monate wurden wir ja dreimal täglich zum Verhör aus der Zelle geholt: am Morgen, am Nachmittag und um Mitternacht. Da wollten sie Auskunft über bestimmte Personen, über die Kirche, über unsere Partei, über NGOs, die Medien, einzelne Journalisten, die Frauenbewegung, die Bauernbewegung. Mich haben sie so absurde Dinge gefragt, wie was die Presse mir für ein Interview gezahlt hat oder wie ich es geschafft habe, von bestimmten Medien interviewt zu werden. Wie viele Kurse zur Ausbildung von Führungskräften ich gegeben habe. Sie waren überzeugt, dass aus diesen Kursen die Jugendlichen hervorgegangen sind, die den zivilen Aufstand 2018 angeführt haben. Diese politische Polizei hat eine total repressive Mentalität und will die Kontrolle über alles haben. Ich bin von 17 verschiedenen Personen verhört worden.

Und immer ging es um den angeblichen Putschversuch vom April 2018?

Immer. Alle hatten sich das Narrativ von Ortega zu eigen gemacht, dass die USA da einen Putsch inszeniert hätten. Die USA in Zusammenarbeit mit der Kirche und unserer Partei MRS, die jetzt Unamos heißt.

Daniel Ortega verweist gerne darauf, dass er auch sieben Jahre im Gefängnis war. Sind die Haftbedingungen damals unter dem Diktator Anastasio Somoza vergleichbar mit denen, die man euch angetan hat?

Daniel Ortega war nie in Isolationshaft, Tomás Borge einige Zeit. Wir hatten keines der Rechte, die die politischen Gefangenen damals genossen. Sie durften jede Woche mit der Familie telefonieren, Nachrichten im Fernsehen schauen, lesen, kochen, sich in der Cafeteria treffen. Ich durfte wenige Minuten vor Beginn des Prozesses gerade zwei Minuten mit meiner Anwältin reden. Die Prozesse waren absolut abartig. Den Anwälten wurden keinerlei Beweise vorgelegt. In sämtlichen Fällen hat die Polizei die „Beweise“ frei erfunden. Einem Freund aus La Paz Centro haben sie einen Facebook-Account eingerichtet, um dort verfängliche Postings zu platzieren. Der Mann ist 78 Jahre alt und wusste nicht einmal, was Facebook ist, bis man es ihm vor Gericht vorgehalten hat. Man hat sich also nicht einmal bemüht, die Formen zu wahren.

Sie wurden zu acht Jahren verurteilt. Welche Beweise hat man da vorgelegt?

Das war sehr unterhaltsam. Die „Beweise“ waren drei Tweets, eigentlich Re-Tweets, also Postings, die ich kommentarlos weitergeleitet habe. Das eine bezog sich auf den Senat in Washington, der damals erwog, Nicaragua aus dem Freihandelsabkommen auszuschließen, wenn die Wahlen vom November 2021 nicht sauber wären. An die anderen beiden erinnere ich mich nicht, aber es ging um ähnliche Dinge. Das hat gereicht, dass sie mir vorwarfen, Sanktionen der USA gegen Nicaragua gefordert zu haben. Ich habe gesagt, dass ich Sanktionen gegen Daniel Ortega und Rosario Murillo befürworten würde, die seien aber nicht gleichzusetzen mit dem nicaraguanischen Staat. Sie haben die Institutionen des Staates korrumpiert und sollten dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Prozesse waren wie ein politisches Erschießungskommando.

Nach der Freilassung haben Sie gesagt, das sei ein Eingeständnis der Niederlage von Daniel Ortega, weil keiner der politischen Gefangenen eingeknickt sei. Was wollten Sie damit sagen?

Bei den Verhören wurden wir immer wieder gefragt, ob wir nicht nachgedacht und unsere Meinung über die Regierung und die Regierungspartei geändert hätten. Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht. Mir haben sie einen Posten im Staatsapparat angeboten.

Wie haben sich die Wärter verhalten?

Sehr professionell, manche richtiggehend freundlich. Diese Leute, die uns das Essen brachten, waren ganz anders als die Polizisten, die uns verhört haben. Die sind strikt auf der Linie von Daniel Ortega und Rosario Murillo, haben gedroht oder geschmeichelt.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Bei der Ankunft in Washington gab es einen kurzen Gesundheitscheck. Sie nahmen uns den Puls und die Blutzuckerwerte. Einige Kollegen sind darauf gleich ins Krankenhaus gekommen. Ich habe durch den langen Entzug des Tageslichts Probleme mit den Augen. Das Lesen fällt mir schwer. Außer einer moderaten Altersweitsichtigkeit hatte ich nie Probleme. Dann komme ich oft aus dem Gleichgewicht. Ich stoße manchmal gegen eine Wand oder ein Möbelstück. Manchmal muss ich mich festhalten. Zum Glück schlafe ich gut, aber am Nachmittag bin ich meist müde.

Wie sieht die Zukunft aus?

Das State Department hat uns humanitären Aufenthalt für zwei Jahre zuerkannt. Dann können wir um Asyl ansuchen. Wir sollen auch eine Arbeitsgenehmigung bekommen. Da reiche ich gerade die Papiere ein.

Mit 67 Jahren sind Sie ja im Pensionsalter. Aus Nicaragua wird keine Rente kommen. Wie werden Sie wirtschaftlich überleben?

Nicaragua hat mir die Pension gestrichen, als ich festgenommen wurde. Das trifft auf uns alle zu, die wir in die Verbannung geschickt wurden. Unsere Personaldaten wurden aus den Archiven der Standesämter gelöscht, als hätten wir nie gelebt.

Sie haben ja zuletzt von Studien und Recherchen gelebt.

Immer weniger, denn ich stand ja schon auf einer schwarzen Liste von Leuten, die man meiden sollte. Das erfuhr ich, als ich bei keiner Ausschreibung mehr zum Zug kam. Internationale Organisationen und NGOs haben mir dann den Grund genannt. Ich höre mich jetzt um, ob es bei irgendeiner Universität Möglichkeiten gibt. Davon hängt auch ab, ob ich in den USA bleibe. Momentan ist alles sehr unsicher.

Und wie sieht Ihre politische Zukunft aus?

Ich strebe keine politische Position mehr an. Mich interessiert, dass das Land auf den demokratischen Pfad zurückkehrt. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Dasein als Rentnerin. Besser: ich war es.

Die Opposition kann man heute mehrheitlich im Mitte-Rechts bis Rechtslager verorten. Welche Möglichkeiten hat die demokratische Linke heute in Nicaragua?

So würde ich das nicht sehen. Unter den politischen Gefangenen waren solche und solche. Ich sehe in Zukunft eher eine pluralistische Repräsentation. Wenn es uns gelingt, diese breite Allianz zusammenzuhalten, können wir es mit der Diktatur aufnehmen. Das ist derzeit unser Dilemma. In einer demokratischen Transition wird die demokratische Linke eine wichtige Rolle spielen. Deswegen werden die Leute von Unamos überall im Land so verfolgt. Es gab da Festnahmewellen 2021 und neuerlich im November 2022.

Unamos oder die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), wie die Partei früher hieß, hat auf nationaler Ebene nie mehr als sieben Prozent geholt. Warum fürchtet das Regime Euch so sehr?

Es wurden uns immer Stimmen geraubt. Zweimal wurde das MRS verboten, weil sie wissen, dass da Wachstumspotenzial steckt. In den Verhören haben sie uns immer vorgeworfen, den zivilen Aufstand von 2018 orchestriert zu haben. Und was die Stärke betrifft, so waren wir in Managua und anderen Städten mehrheitsfähig. In Nicaragua hat es ja seit 2006 keine freien Wahlen mehr gegeben. Und auch jene Wahlen, die Daniel Ortega damals an die Macht zurückgebracht haben, waren nicht transparent. Acht Prozent der Stimmen wurden nie ausgezählt.

Bischof Rolando Álvarez wurde einen Tag nachdem er die Ausreise ins Exil verweigert hat, in einem Femeprozess zu 26 Jahren und vier Monaten verurteilt. Warum gibt es da keine heftigere Reaktion der Kirchenoberen? Weder Kardinal Leopoldo Brenes noch die Bischofskonferenz haben sich dazu deutlich geäußert.

Ich denke, Álvarez kann auf die Solidarität der Mehrheit der Bischöfe zählen. Vielleicht mit der Ausnahme von René Sándigo von der Diözese León, der stand dem Regime immer nahe. Ich glaube, der Vatikan hat immer eine wichtige Rolle gespielt. Der Papst hat sich in seiner jüngsten Predigt sehr besorgt über die Verurteilung von Monsignore Álvarez und die Situation der Kirche im Allgemeinen gezeigt. Jetzt sind ja sogar religiöse Prozessionen verboten worden. Das Regime hat die kirchlichen Radios in Matagalpa zugesperrt und übt ständig Druck auf die Priester aus. Einige sind ins Exil gegangen. Jetzt werden ja sogar nicaraguanische Staatsbürger rausgeschmissen.

Gibt es zwischen Daniel Ortega und Kardinal Brenes Verhandlungen hinter den Kulissen?

Ich glaube nicht. Brenes ist wirklich besorgt, aber er hat einen anderen Charakter als Rolando Álvarez, der die Dinge beim Namen nennt.

 


 

Interview: Ralf Leonhard

Dora María Téllez

Die im November 1955 in Matagalpa geborene Historikerin war während der Sandinistischen Revolution Gesundheitsministerin und später Parteichefin der sozialdemokratischen Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS). Zuletzt lebte sie zurückgezogen in der Nähe von Managua.

Bild: Ralf Leonhard

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