Die Bewegung der „Indignados“ nahm in Mexiko ihren Anfang an den Universitäten. Tausende Studenten sorgten in den Straßen von Mexiko für frischen Wind in der sonst eintönigen und oberflächlichen Wahlkampagne und zwangen die Parteien, einem bislang unbeachteten Thema Aufmerksamkeit zu schenken – ein Phänomen, das 1968 das letzte Mal beobachtet werden konnte.
„Wir sind eine Bewegung, die die Demokratisierung der Medien fordert, um eine wahrheitsgetreue Darstellung von Informationen zu erreichen“, erklärte Sofía Alessio, Studentin und Mitglied des Organisationskomitees der Privatuniversität ITAM, die sich den Protesten in Mexiko-Stadt anschloss.
„Es handelt sich um eine apolitische und friedliche Bewegung“, teilte die Politikwissenschaftsstudentin IPS mit.
Von den 112 Millionen Einwohnern Mexikos sind gerade einmal 2,5 Millionen an Universitäten eingeschrieben. Es handelt sich somit um eine der niedrigsten Studierendenquoten in ganz Lateinamerika. Darüber hinaus leben in Mexiko sieben Millionen junge Menschen, die weder studieren, noch arbeiten.
Der wohl bekannteste Vorfall in Zusammenhang mit einer Jugendbewegung geht auf das Jahr 1968 zurück, als sich tausende Studenten für eine Bildungsreform und die Öffnung des politischen Systems einsetzten, das zu der Zeit ausschließlich von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) kontrolliert wurde. Die Partei regierte in Mexiko bis zum Jahr 2000, das heißt sieben Jahrzehnte lang ohne Unterbrechungen.
Unter dem Vorsitz des heute verstorbenen Gustavo Díaz Ordaz (1964-1970) antwortete die damalige Regierung mit Gewalt. Die Unterdrückung fand ihren blutigen Höhepunkt am 2. Oktober 1968 auf dem Tlatelolco-Platz, auf dem Soldaten und paramilitärische Einheiten die Studenten in einen Hinterhalt lockten. Im Nachhinein wurde niemand verurteilt und bis heute ist die Zahl der Getöteten nicht bekannt. Man geht jedoch von 200 oder mehr Todesopfern aus.
Dieses Mal zielen die studentischen Bewegungen, die in Mexiko im Rahmen der Wahlen üblich sind, auf die starke Konzentration der elektronischen Medien ab, die nach Angaben des Forschers Luís Vázquez der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften „die Meinungs-und Informationsfreiheit einschränkt“.
„Um ein autoritäres Regime zu verhindern, müssen die Medien demokratisiert werden. Dies stellt die Hauptforderung dar“, analysierte der Akademiker.
Der Besuch des Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto (PRI) der jesuitischen Iberoamerikanischen Universität (UIA) in Mexiko-Stadt brachte die studentischen Proteste ins Rollen.
Der Politiker wurde von der Studentenschaft scharf kritisiert und auf seine Verantwortung für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen als Gouverneur des an die Hauptstadt angrenzenden Bundesstaates Estado de México zwischen 2005 und 2011 hingewiesen.
Nachdem die Studenten in den Medien als intolerant und fanatisch bezeichnet wurden, widmeten sie sich gemeinsam der Widerlegung dieser Darstellung und nahmen den Kampf gegen den privaten Fernsehkanal Televisa auf, der zusammen mit dem Privatsender TVAzteca das gesamte mexikanische Fernsehen kontrolliert.
„Der Einfluss der jungen Menschen kann enorm sein, wenn er durch Organisation und politisches Eingreifen gefestigt wird. Es ist wichtig, dass sie sich über ihre gesellschaftliche Bedeutung bewusst werden und Verantwortung übernehmen“, so Rolando Cordera, emeritierter Professor der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der staatlichen Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM).
Am 1. Juli sind die mexikanischen Bürger zum Urnengang aufgerufen, um 500 Abgeordnete und 128 Senatoren, deren Legislaturperiode am 1. September beginnt, und den Nachfolger oder die Nachfolgerin des aktuellen Präsidenten Felipe Calderón, Mitglied der konservativen Partei PAN, für eine Amtsperiode von 6 Jahren ab dem 1. Dezember zu wählen.
Darüber hinaus finden in 15 der 32 mexikanischen Bundesstaaten Wahlen statt, um die Verwaltungen auf Landes- und Stadtebene zu erneuern.
Unter den insgesamt 77 Millionen Wahlberechtigten befinden sich rund 10 Millionen Erstwähler. Bei der Volkszählung im Jahr 2010 waren fast 19 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahre alt.
Die Studentenbewegung, die über keine sichtbaren Anführer verfügt und sich über alle Bevölkerungsschichten erstreckt, nutzt die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter in vollem Umfang, um zu ihren Protestmärschen aufzurufen und ihre Stellungnahmen aufeinander abzustimmen. Zudem verfügt sie bereits über eine eigene Website zur Informationsverbreitung.
„Wir wissen, dass es Versuche geben wird, unserer Bewegung eine politische Richtung aufzudrücken. Dieses Vorhaben werden wir jedoch nicht erlauben. Es sind eben nicht nur wir jungen Leute, die von den Ergebnissen profitieren werden. Studenten des ganzen Landes beteiligen sich, weil wir glauben, dass wir zusammen mehr erreichen können“, so Alessio.
Die Bewegung „Yo Soy 132“ („Ich bin 132“), deren Name symbolisch auf die 131 Studenten verweist, die an Peñas Besuch in der UIA teilnahmen, veröffentlichte bereits einen ethischen Kodex. Dieser beinhaltet unter anderem die Wahrung der Parteilosigkeit, die friedlichen Absichten und die Individualität innerhalb der Bewegung.
Nach dem propagandistischen Fehltritt in der UIA wollte die Partei PRI den verursachten Schaden begrenzen und versuchte, den öffentlichen Diskurs für sich zu gewinnen. Neben der Verurteilung der Geschehnisse als Zeichen für die Intoleranz der jungen Menschen, warf die Partei der studentischen Bewegung zudem vor, von der politischen Linken motorisiert worden zu sein.
Karl Marx schrieb einmal, dass sich die Geschichte immer wiederholen wird. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Die Blamage Peñas und die darauffolgende Reaktion seiner Partei erinnern an die Geschehnisse von 1975, als der damalige Präsident Luís Echeverría der UNAM einen Besuch abstattete und von den Studierenden buchstäblich aus der Universität geworfen wurde.
Während er die medizinische Fakultät verließ, bezeichnete Echeverría die Studenten wutentbrannt als „Faschisten“.
„Yo Soy 132“ organisierte am Mittwoch 23 Demonstrationen in mindestens 20 bedeutenden Städten des Landes. In der Zwischenzeit wächst der studentische Block auf eine Art und Weise, die bereits einige Beobachter in Anlehnung an die Volksaufstände in Ländern wie Ägypten und Tunesien von einem „mexikanischen Frühling“ sprechen lassen.
Auch wenn die Bewegung Aspekte wie den demokratischen Geist und den ausgeprägten Gebrauch von Online-Plattformen aufweist, so unterscheiden sich die studentischen Heldentaten jedoch deutlich von scheinbar ähnlichen Bewegungen wie den Indignados in Spanien oder der Occupy Wall Street Bewegung in den USA, die auf wichtige Änderungen im politischen und wirtschaftlichen System abzielen.
„Die Bewegung sollte sich auf den Wahlkampf konzentrieren und eine Liste politischer und kultureller Ergebnisse erarbeiten“, schlug Cordera vor.
Die Küstenstadt Cancún soll der Hauptsitz des studentischen Weltforums 2012 sein, das von Juni bis November dieses Jahres stattfindet und mitunter die Geschehnisse in Mexiko behandeln wird.
Alessio wies deutlich darauf hin, dass sich „die Stimme der jungen Menschen wieder erhoben hat. Ihre Tragweite ist von immenser Bedeutung und wir setzen alles daran, unsere Ziele zu erreichen.“
Original-Beitrag aus IPS Noticias vom 31.05.2012. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Nachrichtenagentur.
Übersetzung aus dem Spanischen: Lorena Onken
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Bildquelle: [1], [2] Marianna Fierro_