Zum 90. Geburtstag der „mexikanischen Simone de Beauvoir“
Aus dem dunklen Land der Menschen
bin ich auf Knien gekommen, dich zu sehen.
Große, Nackte, Einzigartige.
Poesie. [1]
Sie war eine vornehme Señorita, das entband sie von all den schwierigen und gefährlichen Pflichten, denen die anderen nachkommen mussten, die in den Vorstädten und am Fluss lebten. Diese Privilegien müssen ihr wie ein Käfig vorgekommen sein. Rosario Castellanos (1925-1974) war die Tochter einer Familie von Großgrundbesitzern aus Chiapas, die lieber einen Sohn gehabt hätte. Und so wuchs sie überbehütet, aber irgendwie auch ungeliebt auf.
Die Geringschätzung, Zurücksetzung und Diskriminierung von Frauen wird zeitlebens ihr Thema sein, ein Thema, das sie systematisch analysiert. Der Name „mexikanische Simone der Beauvoir“ ist vermutlich dem menschlichen Drang entsprungen, alles irgendwie zu vergleichen. Aber ihre Bedeutung für den mexikanischen Feminismus ist unbestritten, bis heute. Ihr Philosophiestudium hatte sie mit der Arbeit „Sobre cultura femenina“ abgeschlossen, die, wie es heißt, einen Wendepunkt für mexikanische Schriftstellerinnen darstellte. Die Arbeit ist bis heute zugänglich, mittlerweile auch online, wenn auch nur im spanischen Original. Die wenigen deutschen Übersetzungen ihrer Werke sind nur noch antiquarisch zu erwerben.
Nach ihrem Studium arbeitete Rosario Castellanos am Instituto Indigenista Nacional in Chiapas, war Professorin an Universitäten in Mexiko und den USA, Sekretärin des mexikanischen PEN und schließlich Botschafterin in Israel. Dort starb sie im August 1974 bei einem Haushaltsunfall.
Castellanos gehörte zu den bedeutendsten literarischen Stimmen Mexikos des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie war eine erfolgreiche Schriftstellerin, Dichterin, Journalistin. Die Rolle von Frauen und Indigenen in der mexikanischen Gesellschaft waren häufig die Themen ihrer Schriften, ob nun Roman, Gedicht oder Essay. Sie setzte sich mit der Gewalt auseinander, vor allem auch mit der strukturellen Gewalt, mit der insbesondere Frauen und Indigene in der mexikanischen Gesellschaft konfrontiert sind; aber nicht nur sie.
Auf dem Gedenkstein auf der „Plaza de tres culturas“ in Mexiko-Stadt, der an das Massaker von Tlatelolco vom 2.Oktober 1968 erinnert, findet sich auch eine Passage aus ihrem Gedicht „Memorial de Tlatelolco“, in dem sie sich mit dem staatlich verordneten Schweigen auseinandersetzt und das mit den Worten schließt:
Ich erinnere mich, erinnern wir uns. Bis die Gerechtigkeit unter uns ist.[2]
Am 25. Mai jährte sich Rosario Castellanos‘ Geburtstag zum 90. Mal.
Zitate aus:
[1] Castellanos, R.: Gäste im August. In: Mexikanische Erzähler. Berlin 1976. (Übers.: Christel Dobenecker)
[2] Castellanos, R.: Memorial de Tlatelolco.
Deutschsprachige Ausgaben der Bücher von Rosario Castellanos:
Die neun Wächter. Roman. Suhrkamp
Das dunkle Lächeln der Catalina Díaz. Roman, Europaverlag
Die Tugend der Frauen von Comitán. Erzählung. Suhrkamp
Bildrechte: Susana Torres Sánchez