Mexikos MenschenrechtsverteidigerInnen suchen nach Auswegen
Über zwanzig MenschenrechtsverteidigerInnen aus Mexiko und mehr als zweihundert TeilnehmerInnen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Spanien trafen sich auf Einladung der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko Anfang Februar in Berlin zu einer außergewöhnlichen Konferenz, die „derzeit in Mexiko wohl nicht möglich gewesen wäre“, wie der Journalist und Autor Luis Hernández (La Jornada) in seiner Keynote im überfüllten großen Saal der Heinrich-Böll-Stiftung anmerkte. Angesichts der Militarisierung vieler Regionen Mexikos, der fast vollständigen Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen und – ganz im Gegensatz dazu – der massiven Kriminalisierung und juristischen Verfolgung sozialer Bewegungen geht es für die klassischen Menschenrechtsorganisationen, für indigene und andere Basisbewegungen, für kritische JournalistInnen, für FrauenrechtlerInnen und für große Teile der marginalisierten Bevölkerung ums Überleben – nicht nur im übertragenen Sinn. In vier thematischen Foren konnten sich die Teilnehmer näher mit der Komplexität, den Problemen und den Konsequenzen dieser Situation vertraut machen:
– Landkonflikte;
– Straflosigkeit und Kriminalisierung von sozialem Protest;
– Handlungsmöglichkeiten von Basisorganisationen sowie
– Alternativen der Zivilgesellschaft angesichts von Gewaltexzessen und „Drogenkrieg“
Bei allen Unterschieden nach Region (Chihuahua im Norden, die Hauptstadt, Oaxaca, Guerrero und Chiapas im Süden) und Arbeitsschwerpunkten war den PodiumsteilnehmerInnen gemeinsam, dass sie Mexiko unter der Regierung Calderón nicht als „failed state“, aber doch als „failing state“ erleben. Alle ReferentInnen konstatierten eine massive Staatskrise, ja sogar das „Ende einer Epoche“, das sich international erfolgreich hinter einer demokratischen Fassade und dem alles vernebelnden Diskurs vom „Anti-Drogenkrieg“ verberge. Vor Ort, in regionalen oder lokalen Konflikten, seien die demokratischen Wege, in Verhandlungen mit den staatlichen Autoritäten und durch Teilhabe an Entscheidungsprozessen nach Lösungen zu suchen, so gut wie überall versperrt, während die sozialen Konflikte eskalierten. Mehrfach war vom „Ende der Pakte und Kompromisse“ mit staatlichen Institutionen und politischen Parteien die Rede. Gleichzeitig wurde klar, dass andere Strategien noch mühevoll zu suchen sind und inzwischen die massive Repression die Handlungsspielräume der sozialen Bewegungen empfindlich einengt. Einen Redebeitrag aus dem Publikum, der fällige Systemwechsel sei wohl nur mit Gewalt zu erreichen, kommentierten die MexikanerInnen mit entsetztem Schweigen und Kopfschütteln. Die streitbare Journalistin und Feministin Sara Lovera meinte leise: „Das fehlte gerade noch…“. Hundert Jahre nach der mexikanischen Revolution ist denen, die in den letzten Jahren nahezu unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit in einem permanenten gewalttätigen Ausnahmezustand leben, nicht nach Pathos zumute, und ihre Radikalität ist eine andere: Es geht darum, den faktischen Krieg zu beenden (17.800 Tote gab es in den letzten drei Jahren) und um die fast schon verzweifelte Suche nach Alternativen zu dem von der Regierung immer wieder neu konstruierten Dilemma „Sicherheit oder Menschenrechte“.
Krieg gegen sozialen Protest – nicht gegen die Drogenkartelle
Diskutiert wurden in Berlin vor allem der Aufbau von autonomen Parallelstrukturen zum Staat (nach Beispielen in Chiapas), der juristische Kampf auf transnationaler Ebene, Professionalisierung der MenschenrechtsverteidigerInnen (vor allem in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und im Sichtbarmachen paramilitärischer und internationaler Verflechtungen), landesweite Vernetzung und die unerlässliche Aufmerksamkeit und Solidarität aus anderen Ländern. Ansatzweise ging es auch um neue, zivile Sicherheitskonzepte inmitten der Realität des organisierten Verbrechens und um Einflussmöglichkeiten auf Großunternehmen, deren Megaprojekte durchgesetzt werden, ohne die Rechte der lokalen Bevölkerung (z.B. auf Referenden) ernsthaft wahrzunehmen. Schon kurz nach seinem Amtsantritt Ende 2006 begann Präsident Calderón, die Militärpräsenz in Mexiko zu vervielfachen. Die gesetzlichen Grundlagen dafür waren allerdings schon seit 1996 von seinen Amtsvorgängern geschaffen worden. Bis zu 50.000 Soldaten übernehmen heute Funktionen, die in einem demokratischen Staat eigentlich zivilen Sicherheitskräften zukommen würden. Abel Barrera vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan im Bundesstaat Guerrero: „Sie haben eine Risikokarte, die richtet sich nicht nach den Drogenkartellen, die sie angeblich bekämpfen, sondern nach Brennpunkten sozialen Protestes. Die Infrastruktur ist da, um sofort reagieren zu können, vor allem in den indigenen Regionen.“ Das Militär hat in Teilen Mexikos auch die – durch keinerlei zivile Instanz überprüfte – Kontrolle über Polizei und Gefängniswesen übernommen. Und: Die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen durch Militärangehörige werden – wenn überhaupt – nicht vor zivilen Gerichten, sondern ausschließlich vor Militärtribunalen verhandelt.
Hilfswerke fordern Entmilitarisierung
Ein Aide Mémoire der großen kirchlichen Hilfswerke Misereor, Brot für die Welt und Diakonisches Werk der EKD an die Deutsche Bundesregierung für die derzeit (März 2010) stattfindende Sitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf empfiehlt den Abzug der Armee aus allen Aufgaben öffentlicher Sicherheit und prangert im Nachgang zur Berliner Konferenz nicht zuletzt die Militarisierung des Justizwesens an: Die mexikanische Regierung verweise gerne darauf, dass bei Menschenrechtsverletzungen durch Militärs der Weg der Berufung vor zivilen Gerichten offenstehe. In der Realität sei das aber nur ausnahmsweise – in Entschädigungsfragen – der Fall. In Strafverfahren gebe es diese Möglichkeit nie für die Opfer, sondern allein für die Täter. Die Anschuldigungen gegen staatliche Sicherheitskräfte in den militarisierten Gebieten haben sich in den letzten Jahren vervielfacht: Ihnen werden willkürliche Festnahmen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen zur Last gelegt.
In Berlin bekamen die abstrakten „Fälle“ Gesichter und Namen: Beispiele, aber keine Einzelfälle sind Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponces Rosas von der Organisation für die Zukunft der Mixtekischen Völker (OFPM) in Guerrero. Am 13. Februar 2009 wurden sie von einer öffentlichen Versammlung weg von angeblichen Polizisten verschleppt, drei Tage später fand man ihre toten Körper mit Folterspuren. Bis heute ist die Aufklärung des Verbrechens keinen Schritt vorangekommen. Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof hat Schutzmaßnahmen für 108 MenschenrechtsverteidigerInnen im Bundesstaat Guerrero angeordnet – die Bedrohungen gegen sie gehen weiter. Ähnliche Fälle sind u.a. in Oaxaca und Chihuahua an der Tagesordnung. Während den staatlichen Instanzen vielfach Untätigkeit und Verzögerungstaktik bei der Aufklärung von Verbrechen vorgeworfen wird, scheinen sie sehr gut zu funktionieren, wenn es darum geht, Haftbefehle und extrem hohe Gefängnisstrafen gegen AnführerInnen sozialer Bewegungen auszusprechen (wie etwa gegen Ignacio del Valle Medina, Felipe Alvarez Hernández und Hector Galindo Gochicoa, die sich gegen den Bau eines Flughafens in San Salvador Atenco im Bundesstaat Mexico wehrten). Es gebe ernsthafte Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Verfahren und der Urteile, so die Hilfswerke in ihrer Formulierungshilfe für die Bundesregierung.
Lokale Konflikte mit globaler Dimension
Dolores González, Wirtschaftswissenschaftlerin und Direktorin des Menschenrechtszentrums SERAPAZ, das sich vorwiegend mit Konfliktbegleitung und -transformation befasst, analysierte kenntnisreich die multiplen Krisen und die wachsende Zahl lokaler Konflikte, die sich überwiegend um Land und natürliche Ressourcen drehen. Die Rolle, die Mexiko in der globalisierten Ökonomie zugedacht ist – Rohstoffe und Dienstleistungsinfrastruktur für transnationale Konzerne bereitzustellen – aktualisiert alte strukturelle Probleme und mobilisiert neue Akteure, die sich schnell radikalisieren. Viele kleine Gemeinden und ländliche oder städtische Gruppen kämpfen für ihre kollektiven Rechte gegen Bergbauprojekte, Staudämme, Autobahnen, Ausbeutung der Biodiversität, Müllkippen, die Folgen der wilden Urbanisierung. In den Kämpfen werden die Akteure bedroht, aber es werden auch Räume geschaffen, in denen neue Formen des Zusammenlebens möglich sind. Es gebe nicht die „indigene Bewegung“, aber die „Kraft der Werte“, die besonders indigene Gemeinden in lokalen Zusammenhängen erprobten, sei wichtig, so González. Trotz aller Destabilisierung und Schwächung durch Migration, Medien und gezielte Spaltungskampagnen entstünden neue Organisationsformen und Strategien. Wegen der Abwesenheit von Kanälen zur Konfliktbearbeitung gebe es allerdings auch mehr Konfrontation und direkte Aktion: Es sei immer seltener möglich, Rechte auf „normalen“ politischen Wegen einzufordern, Konflikte würden zunehmend unterdrückt oder gewaltsam niedergeschlagen. González dazu: „Die neuen sozialen Bewegungen müssen komplexe Strategien und Prozesse der solideren Artikulation entwickeln, um zu einem wirklich signifikanten Akteur zu werden.“
„Die Räume des Staates sind nicht die Räume, wo man Menschenrechte verhandeln kann“
Diego Cardenas, Direktor des Centro Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) beschrieb, wie eine solche Entwicklung unterstützt werden kann. Von Anwälten, die sich vor den Betroffenen stellten, wie vor inzwischen 21 Jahren, seien die MitarbeiterInnen von Frayba nun zu Begleitern des Widerstandskampfes der Gemeinden in Chiapas geworden: „Wir haben von der zivilen Entwicklung der zapatistischen Bewegung gelernt. Menschenrechte werden ausgeübt, ohne dafür um Erlaubnis zu fragen.“ Die Räume, die der Staat biete, eigneten sich nicht dafür. Frayba unterstütze vielmehr die autonome Selbstorganisation der Basis. Versuche, innerhalb der staatlichen Instanzen Gerechtigkeit zu erreichen, seien zum Scheitern verurteilt. Man nutze juristische Mittel, aber nicht mehr „naiv“. Auch der oft unausweichliche Weg vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte sei nicht immer erfolgversprechend: „Die systematischen Hinrichtungen des Jahres 1996 sind bis heute ohne Antwort des interamerikanischen Systems geblieben. Wir fragen uns, ob man nicht auch dort von Menschenrechtsverletzern sprechen muss. Unser Schwerpunkt liegt heute ganz klar bei den Aktionen der Gemeinden – einer integralen, sozialen Verteidigung der Menschenrechte.“
Die Forderung nach einer neuen, integralen Sicht der Menschenrechte stand auch im Vordergrund aller übergreifenden Strategiedebatten des Kongresses. Rupert Knox, aus der Zentrale von Amnesty International in London, brachte die Neufokussierung auf den Punkt: „Die Herausforderung ist, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (WSK-) Rechte nicht länger von den bürgerlichen Rechten abgetrennt werden können und dürfen. Die Verletzung ersterer hat meist auch die Verletzung der zweiten zur Folge. Wer nur die bürgerlichen Rechte beachtet, geht nie den Ursachen auf den Grund!“ Fälle von Verletzungen der WSK-Rechte müssten in einen Rahmen gebracht werden, in dem der Staat gezwungen sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Das heißt, Menschenrechtsorganisationen müssten lokale Auseinandersetzungen genau verfolgen, auch wenn sie zunächst gar nicht nach „klassischen Fällen“ aussehen und sie justiziabel machen, um den Staat „zum Zuhören zu zwingen“. Die mexikanischen Beispiele zeigten, wie wichtig es sei, gleichzeitig lokal und international zu arbeiten und breite Protestbündnisse zu mobilisieren. In der Diskussion wurde deutlich, dass Gleiches auch für Umweltrechte gilt, die seit 1999 in Mexiko sogar Verfassungsrang genießen.
„Auch mit juristischen Niederlagen kann man politisch arbeiten“
Zumindest eine Schlussfolgerung war aus mexikanischer Sicht klar: Die Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen und die Anerkennung von sozialen Bewegungen müssen breiter werden. Auch Mitglieder von Protestbewegungen gegen Megaprojekte, lokale Initiativen gegen überhöhte Stromtarife und BäuerInnen, die mit friedlichen Mitteln um ihr Land kämpfen, sind selbstverständlich MenschenrechtsverteidigerInnen! Ihre Kämpfe müssen aus der Unsichtbarkeit und Isolation geholt werden. Von universell gut funktionierenden juristischen Werkzeugen zum Schutz der WSK- und besonders auch der Umweltrechte auf internationaler Ebene kann freilich noch nicht wirklich die Rede sein. „Rechte sind keine Automatismen, Rechte muss man sich erkämpfen! Vertraut dabei nicht auf die Juristen. Man muss sich eine politisch interessierte Öffentlichkeit verschaffen. Wir brauchen Strukturen für die Dokumentation dieser Art von Menschenrechtsverletzungen, welche es leider aber noch nicht gibt. Wir brauchen Zusammenarbeit. Es ist viel zu tun!“, appellierte Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) an die Kongressteilnehmer. Ein Vorbild für die neuen Formen der Kooperation könne das Center for Constitutional Rights in New York sein, das immer mit politischen und sozialen Bewegungen zusammengearbeitet habe, manchmal auch um den Preis einer Niederlage vor Gericht: „Auch mit juristischen Niederlagen kann man politisch arbeiten.“
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Das Programm der Konferenz, Kurzporträts der teilnehmenden ReferentInnen und Organisationen, Presseartikel, Videos und eine Vielzahl interessanter Beiträge (auf Spanisch) finden sich auf dem blog der Tagung: www.mexicoquovadis.de
Ein umfangreiches Protokoll der Tagung in deutscher Sprache erscheint im April auf der homepage der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko: www.mexiko-koordination.de
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, al.