Der Mord an der Anwältin Digna Ochoa wirkt, von heute aus gesehen, wie ein Vorbote der Entwicklung in Mexiko. Wahrscheinlich ist es utopisch, nahezu ungehörig oder vielleicht nur noch tautologisch zu sagen: Hätte das Verbrechen zügig aufgeklärt, hätten Täter und Hintermänner verurteilt werden können, sähe die Bilanz der außergerichtlichen Hinrichtungen, des Verschwindenlassens, der Folter und weiterer straflos bleibender Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte heute womöglich anders aus. Über die Hintergründe dieser historischen Tragik sprach Quetzal in Leipzig mit der mexikanischen Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin Maria del Pilar Noriega Garcia. Anlass war eine Europareise zum 10. Jahrestag der Ermordung ihrer Freundin und Kollegin Digna Ochoa.
Pilar, welche persönliche Beziehung hattest Du zu Digna Ochoa?
Ich habe Digna im Centro PRO kennengelernt. Wir haben enger zusammengearbeitet und sind Freundinnen geworden, als PRO mich um Unterstützung in der Verteidigung der sogenannten „mutmaßlichen Zapatistas“ gebeten hat. 1995 wurden mehrere Personen verhaftet, die die Regierung mit dem EZLN, der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee, in Verbindung brachte. Da haben Digna und ich uns näher kennengelernt. Als sie dann 2001 aus Washington zurückkam, wo sie sechs Monate lang war, erzählte sie mir, dass sie einen Verlobten hatte. Sie war sehr glücklich mit ihm. Sie kam etwa im März zurück. Und im September sagte sie einigen ihrer Freunde und auch mir, dass sie im August Drohungen erhalten hatte. Sie wollte es uns nicht vorher sagen, weil sie keine Lust hatte, überhaupt darüber nachzudenken.
Vielleicht war sie nach langen Monaten oder sogar Jahren endlich mal richtig glücklich in ihrem privaten Leben und wollte sich das nicht nehmen lassen…
Genau! So hat sie mir das gesagt: „Ausgerechnet jetzt, wo ich froh und glücklich bin – wieder…!“ Sie wollte sich mit dieser Situation nicht konfrontieren und sagte mir, ihr Verlobter kenne jemanden, der diesen Drohungen nachgehen werde. Und das beklage ich bis heute, dass ich damals nicht stärker darauf bestanden habe, dass sie wieder Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission erstattete. Ich glaube, dass Digna damals sehr wohl wusste, dass es Leute gab, die ihr nachsagten, sie habe psychische Probleme. Und es stimmt ja auch, sie hatte psychische Probleme. Aber ich habe den Eindruck, der Konflikt mit diesen Leuten kann entscheidend dafür gewesen sein, dass sie die Drohungen nicht anzeigte, so wie wir das zuvor immer getan hatten. Sie wollte sich nicht auf diese Weise damit auseinandersetzen, weil das bedeutet hätte, dass sie sich selbst wieder in eine Situation bringt, in der sie mit Misstrauen ihr gegenüber konfrontiert wird. Hinzu kommt, dass sie ja Anfang Oktober diese Reise mit Harald Ihmig nach Guerrero unternahm. Die beiden haben mehrere Dorfgemeinschaften besucht, um herauszufinden, welche Unterstützungsprojekte dort sinnvoll wären, vor allem für die Organisation der “Campesinos Ecologistas”. Und das berührte eben wieder einen Fall, den Digna federführend für Pro vertreten hatte. Sie war die Verantwortliche für die Verteidigung…
… von zwei inhaftierten Ökobauern.
Zwei Mitglieder der Organisation wurden gefangen gehalten. Die Armee hatte sie verhaftet, gefoltert, ihre Aussagen aufgenommen und sie erst danach der zivilen Staatsanwaltschaft überstellt. Absolut verfassungswidrig! Hinzu kam, dass Anfang Oktober 2001 Emilio Álvarez Icaza durch die gesetzgebende Versammlung des Hauptstadtbezirks (Distrito Federal, D.F.) zum Präsidenten der Menschenrechtskommission von D.F. gewählt wurde. Er bat mich, als Erste Inspektorin mit ihm zusammenzuarbeiten. Und ich sprach mit Digna, ob sie sich vorstellen könnte, unsere Kanzlei zu leiten und meine Fälle zu übernehmen, damit ich in die Kommission wechseln könnte. Sie hat das Angebot begeistert angenommen.
Ich würde gern besser verstehen, wie das politische Panorama zu der Zeit, als Digna starb, aussah. Wie war das zum Beispiel mit ihrem Kontakt zu dem inhaftierten armeekritischen General Francisco Gallardo, den sie ja im Gefängnis besucht hatte? Oder anders gefragt: Was waren die kritischen Punkte damals?
Die Leute meinen immer, ich würde alles wissen, was damals mit Digna vor sich ging! So ist das nicht! Vor allem denke ich, dass Digna damals mit ihrem Stipendium beschäftigt war und dass sie begeistert über die Beziehung mit ihrem Verlobten war. Ein Thema ist, dass sie im Oktober mit dem Projekt in Guerrero beginnen wollte. Und sie war eben dabei, Fälle zu übernehmen. Zum Beispiel den der Brüder Cerezo zusammen mit Bárbara Zamora. Und einen weiteren in Querétaro. Einen anderen, den wir “Die Eltern der UNAM“ nannten, da ging es um die Eltern von Jugendlichen, die bei dem Streik an der Nationalen Autonomen Universität mitgemacht hatten.
Wenn wir aber doch ein wenig den politischem Moment betrachten, dann fällt mir auf, dass es noch der Beginn der Präsidentschaft von Vicente Fox war und dass viele, die vorher in NGOs gearbeitet hatten, nun für die Regierung arbeiteten.
Nicht so viele! Nicht so viele! Ich würde nicht wagen, zu behaupten: „viele“.
Aber immerhin hatte sich das politische Klima geändert.
Genau. Viele Leute aus den sozialen Organisationen hatten Fox gewählt, weil die Idee genau diese war: einen Wandel herbeiführen und die PRI aus der Regierung entfernen. Das wurde erreicht und man meinte, es gebe einen wirklichen Wandel. Die Wahl von Fox war ja als „nützliche Stimmabgabe“ propagiert worden.
War deine Entscheidung, in die staatliche Menschenrechtskommission zu wechseln auch so etwas in der Art – von heute aus betrachtet?
Als ich mich dem Team von Emilio Álvarez Icaza angeschlossen habe, war das doch eindeutig auf der Ebene des Hauptstadtbezirks! Und Emilio kam ebenfalls aus NGOs. Er hatte im (unabhängigen) Wahlinstitut gearbeitet. Also, er stellte wirklich eine Garantie dafür dar, dass wir eine ernsthafte Arbeit in Sachen Menschenrechte im Hauptstadtbezirk machen würden.
Zurück zu Digna: Es waren doch der Generalstaatsanwalt des Hauptstadtbezirks selbst und viele weitere Instanzen bis hin zur US-amerikanischen Botschaft und zur Europäischen Union, die anfangs den Verdacht hatten und ihn auch öffentlich äußerten, dass Digna ermordet wurde und dass es ein politischer Mord war. Wie kam es denn, dass sich das im März 2002 auf einmal radikal änderte und plötzlich die Suizidhypothese lanciert und favorisiert wurde?
Für mich kam das überraschend. Allerdings bin ich der Meinung, dass sie schon längst vor dem März die Idee hatten, einen Suizid zu fabrizieren. Eine Hypothese könnte sein, dass sie einfach die Mord-Theorie nicht weiterverfolgen wollten. Ich weiß es nicht. Was ich aber sicher sagen kann ist, dass schon allein die Analyse der Fotos, die die Anwälte von Dignas Familie veröffentlicht haben, zeigt, dass das kein Selbstmord war. Digna hatte Schläge abbekommen. Die Staatsanwaltschaft hat unterschlagen, dass sie verletzt war. Sie beharrt darauf, dass sie unverletzt war, dabei sind die Verletzungen auf den Fotos gut sichtbar. Dann ist da auch die Sache mit der Pistole: Anfangs haben die Gutachten der Staatsanwaltschaft ergeben, dass Digna keine Waffe abgefeuert hatte. Aber später haben sie neue Untersuchungen in unserem Büro veranlasst und dort hatte die Waffe dann auf einmal keine Spuren hinterlassen. Wir haben also wohl ein magisches Büro! Denn dort hinterließ die Waffe keine Spur und im Labor der Staatsanwaltschaft von D.F. sehr wohl. Schon allein das zeigt, dass die Staatsanwaltschaft Dinge erfunden hat. Ich möchte betonen, dass der UN-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte in seinem Bericht von 2002 – nach seinem Besuch in Mexiko – darauf hingewiesen hat, dass der beste Schutz den es für Digna hätte geben können, die Untersuchung der Drohungen gegen sie gewesen wäre. Und genau das ist nicht geschehen. Er äußerte sich auch sehr besorgt darüber, dass im Mai 2001 die Ermittlungen wegen der vorherigen Drohungen eingestellt worden waren. Sie haben nicht wegen der Drohungen ermittelt und sie haben auch nicht wegen Mordes ermittelt, sondern sich stattdessen in irgendwelche Probleme mit dem Verlobten und der Familie vertieft. Und daraus eine Akte gebastelt. Das war keine Akte mit den Fotos, von denen ich gesprochen habe, sondern es ging nur darum, dass man zeigen wollte, dass Digna viele psychische Probleme gehabt habe, dass sie chronisch depressiv gewesen sei und sich deshalb umgebracht habe.
Anfangs hatte die Staatsanwaltschaft außerdem öffentlich gesagt, dass Digna nicht in der Position gestorben ist, in der sie gefunden wurde. Und sie haben mehrere von uns gedrängt zuzugeben, dass jemand Dignas Körper bewegt habe. Aber dann behauptet die Staatsanwaltschaft in ihrer Entscheidung vom November 2010, Digna sei in der Position gestorben, in der sie gefunden wurde. Das ist völlig unvorstellbar und dreist. Dreist gelogen, denn Digna hatte doch eine Schusswunde auf der linken Seite. Auf dem Foto sieht man sie mit dem Kopf auf der linken Seite, dennoch ist ihre ganze Stirn voll Blut. Und sie hat Blut auf der rechten Wange. Außerdem sagen meine Kollegen, die als erste ins Büro kamen, dass man ihr Gesicht nicht sah, denn ihr Haar hing davor. Es ist unmöglich, dass sie sich ursprünglich in dieser Position befunden hat. Es sei denn in unserem „magischen Büro“ würde das Blut durch die Kraft der Magie gegen die Schwerkraft fließen und so auf die andere Seite des Gesichts gelangen.
Sie hatte ja auch eine Schusswunde im Oberschenkel…
Im linken Oberschenkel! Also diese Entschließung der Staatsanwaltschaft ist absolut absurd. Sie ist unzulässig.
Das heißt, es wurde einerseits ein falsches Szenario des Verbrechens fabriziert und gleichzeitig der Rufmord an Digna…
Das ist das Empörendste!
Wenn ich mir die politische Konjunktur und diese doppelte Konstruktion betrachte, dann frage ich mich: Wer ist denn in der Lage ein so ausgefeiltes Szenario herzustellen, ballistisches Untersuchungen zu manipulieren, gezielt Informationen zu lancieren etc.? In Mexikos kleinem Nachbarland Guatemala hätte ich da automatisch den Verdacht, dass eigentlich nur der militärische Geheimdienst als Urheber in Frage kommt. Ob sich das auf Mexiko übertragen lässt?
Ich will öffentlich nichts zum mexikanischen Militär sagen. Ich möchte gern noch ein Weilchen am Leben bleiben! Ich habe damals ausgesagt, dass ich die mexikanische Armee für verantwortlich halte, aber ich habe nie und nimmer gedacht, dass deshalb der Fall gelöst würde. Genauso wenig hätte ich allerdings geglaubt, dass sie derart infam sein und das Ansehen von Digna dermaßen in den Dreck ziehen würden, wie sie es getan haben. Ich kenne keinen einzigen sogenannten “Suizidfall”, in dem sie sich so darauf konzentriert haben, den guten Ruf der betreffenden Person zu zerstören. Du musst Dir vorstellen, dass tatsächlich die politische Lage im Land total anders war als zu Zeiten der PRI. Daran besteht kein Zweifel. Nun gut, ich denke immer noch, dass Mexiko sich in einer Transition befindet. Wir wissen nicht, wohin dieser Prozess führen wird, aber es ist definitiv ein Übergangsprozess. Aber damals waren wir ja noch der ersten Etappe der Regierung Fox, es gab noch all die Hoffnung auf einen Wandel. Es ist meines Erachtens offensichtlich, dass deshalb der Mord an Digna völlig anders eingeschätzt wurde als frühere Morde an sozialen Aktivisten, an Menschenrechtsverteidigern, an Anwälten.
In der „Front Demokratischer Anwälte“ hatten wir zum Beispiel einen Kollegen, Andulio Gálvez, der in Chiapas ermordet wurde. Und es war wie immer in diesen Fällen: Sie versuchten, es so hinzudrehen, dass dieser Mord persönliche Motive hatte, weil Andulio getrunken hätte, wegen Frauengeschichten und so weiter. Aber der Mord an Digna war, genau deswegen, einzigartig. Es war ein Mord, der von Anfang an als politisch anerkannt war, es gab eine überraschend starke Reaktion auf internationaler Ebene und ich denke, dass sich diese Umstände nach allem, was wir später mit weiteren Mordfällen erlebt haben, nicht so leicht wiederholen werden.
Für die Menschenrechtsorganisationen, für die Menschenrechtsverteidiger hätte das ein Anstoß sein können, der uns voranbringt in Richtung einer größeren Achtung der Menschenrechte. Stattdessen haben wir uns in „pro-Suizid“ und „anti-Suizid“ gespalten. Und wir haben auch später nie darüber gesprochen, dass diese Möglichkeit vertan wurde. Eine, meiner Meinung nach, sehr bezeichnende Geste in Bezug auf den Mord an Digna war die Tatsache, dass Präsident Fox zwei Wochen nach ihrer Ermordung beschloss, die zwei inhaftierten Ökobauern, die sie im Rahmen ihrer Arbeit bei Pro verteidigt hatte, freizulassen. Sie wurden aus „humanitären Gründen“, aus gesundheitlichen Gründen, freigelassen. Ich denke, diese Geste kann man nicht übersehen. Sie hatte ihre Gründe. Aber dann kam unglückseligerweise die ganze Suizidtheorie auf und unser Kampf dagegen. Und der war, jedenfalls für mich, sehr schmerzlich und sehr nervenaufreibend.
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, al/pn.
Den ersten Teil zum Fall Digna Ochoa finden Sie hier: Der Fall Digna Ochoa Teil 1