„Es gibt ein geheimes Einverständnis zwischen dem Staat und dem organisiertem Verbrechen“
Der mexikanische Bischof Raúl Vera López ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Einst vom Vatikan zur Eindämmung zapatistischer Ideen nach Chiapas geschickt, zählt der Dominikaner heute zusammen mit dem Schriftsteller Javier Sicilia zu den schärfsten Kritikern der mexikanischen Politik und zu den Initiatoren einer neuen zivilgesellschaftlichen Basisbewegung. Kurz vor dem Papstbesuch Ende März 2012 sprach QUETZAL mit Bischof Vera insbesondere über das Phänomen des gewaltsamen Verschwindenlassens, dem in den letzten Jahren mehrere zehntausend MexikanerInnen und MigrantInnen aus Zentralamerika zum Opfer fielen.
In den letzten Jahren ist es in Mexiko zu einem deutlichen Anstieg von Fällen von Verschwindenlassen gekommen. Zu den besonders gefährdeten Gruppen rechnet die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen gewaltsames Verschwindenlassen MigrantInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, JournalistInnen und Frauen. Welche Hintergründe hat diese Entwicklung?
Das Verschwindenlassen ist Teil einer Strategie, die auf der einen Seite vom organisierten Verbrechen angewandt wird, um keine Spuren zu hinterlassen. Vor allem von Migranten erfahren wir, dass das organisierte Verbrechen unter ihnen Auftragsmörder anheuert, aber wir denken auch, dass es noch andere Formen von Zwangsarbeit für das organisierte Verbrechen gibt. Warum? Weil die Leute dringend Geld brauchen und weil das organisierte Verbrechen zwar wie ein Wirtschaftsunternehmen funktioniert, aber natürlich seine Mitarbeiter nicht auf ehrlichen Wegen gewinnen kann, sondern nur im Geheimen. Es ist bezeichnend, dass viele der verschwundenen Männer im arbeitsfähigen Alter sind.
Gibt es da ein landesweit verbreitetes Muster oder ist das je nach Region unterschiedlich?
Das Grundmuster ist sicherlich in ganz Mexiko dasselbe. Auch wenn wir keine direkten Beweise haben, so gibt es in einigen Fällen auch die Hypothese, dass für den Organmarkt junge Leute, junge Frauen gebraucht werden. Das könnte ein weiterer Grund für das Verschwindenlassen sein. Die Sache ist, dass damit Geschäfte zu machen sind und daraus entsteht dann eben ein ganzer Markt.
Mir wurde berichtet, dass in einigen Regionen, wie beispielsweise im Bundesstaat Chihuahua, viele junge Mädchen vermutlich für den Menschenhandel verschleppt werden…
Es geht hier um Diversifizierung. Das organisierte Verbrechen hat seine Geschäftsfelder im Handel mit „Menschenfleisch“ längst diversifiziert. Aber der gemeinsame Nenner für all das, was es tut, bleibt der Handel mit „Menschenfleisch“. Die menschliche Person, das menschliche Wesen wird zu einer Handelsware gemacht.
Laut der UN-Arbeitsgruppe sind auch MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen besonders gefährdet. Was sind hier die Hintergründe?
Das ist ein schwerwiegendes Problem, das der berühmte „Krieg gegen den Drogenhandel” mit sich bringt. Es gab Äußerungen von US-Funktionären, die uns, die wir uns für die Menschenrechte einsetzen, als Komplizen von Kriminellen präsentieren wollen. Das hat auch ein hochrangiger mexikanischer Militär, der Marineminister, öffentlich gesagt, dass wir, die sozialen Bewegungen, Geld vom organisierten Verbrechen bekämen. Und es gibt eben die Erklärungen aus den USA, dass der Kampf gegen das organisierte Verbrechen auch gegen die sogenannten „Aufständischen“ geführt werden müsse. Da zeichnet sich also eine höchst gefährliche Tendenz ab.
Es geht um eine Sicherheitsstrategie, die dem Staat dient. Es ist natürlich keine Sicherheitsstrategie für uns Bürger. Der Staat schützt sich vor uns, er baut eine Mauer vor seiner eigenen Korruption, seiner Ineffizienz und Verantwortungslosigkeit. Das ist sehr gravierend, denn während eine Menge Geld aus den USA kommt, von dem sie behaupten, es sei für den Kampf gegen den Drogenhandel und das organisierte Verbrechen bestimmt, sehen wir, dass das organisierte Verbrechen und die Korruption weiter wachsen. Was hat das also zu bedeuten?
Wie reagiert denn der Staat auf das Problem des Verschwindenlassens? Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie ja, dass die staatlichen Sicherheitskräfte eher dazu beitragen, als etwas dagegen zu tun?
Es ist ein geheimes Einverständnis, an dem eben auch Polizisten, Migrationsbeamte und höhere Machtsphären teilhaben. Sie bekommen natürlich viel Geld dafür, dass sie die Straflosigkeit aufrechterhalten. Es ist das gleiche wie mit der Geldwäsche. Im Bericht eines Experten habe ich kürzlich gelesen, dass derjenige, der das Geld wäscht, bisweilen bis zu 50 Prozent der Summe für sich fordert. Weil sie keine andere Wahl haben, bezahlen sie, und das schmutzige Geld hinterlässt großen Reichtum in den Unternehmen oder den Finanzinstituten, die es waschen. Das heißt, im Fall des Verschwindenlassens werden wir nicht behaupten, dass das eine konzertierte Aktion ist, aber es gibt eben die Korruption und die fehlende Strafverfolgung gegen das Verschwindenlassen. Jetzt fängt der Staat ja damit an, so zu tun, als würde – angefangen auf lokaler Ebene – eine Menschenrechts-Gesetzgebung geschaffen, die das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens definiert. Man versucht also, das strafrechtlich einzuordnen. Aber das ist eine Geschichte, die kein Ende nimmt.
Die Geschichte kann ja auch nicht aufhören, wenn die Korruption und die Verstrickung hoher Staatsbeamter in das Verbrechen so weitergehen…
Ja, natürlich. Heute sitzt das organisierte Verbrechen längst innerhalb der öffentlichen, staatlichen Strukturen. Unlängst wurde zum Beispiel ein schwerwiegender Fall in Coahuila aufgedeckt. Dort wurden einige Funktionäre verhaftet, die eine Doppelfunktion als Kapos des organisierten Verbrechens ausübten. Es ist also nicht mehr nur so, dass man halt Staatsbeamte kauft, nein, sie üben inzwischen auch schon Funktionen innerhalb der kriminellen Netzwerke aus.
Wenn das so ist und gleichzeitig ein vermeintlicher „Krieg gegen den Drogenhandel“ geführt wird, läuft das dann auf einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung hinaus?
Das ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung! Es ist ja auch so, dass derzeit versucht wird, eine Reform der Sicherheitsgesetze durchzusetzen, die all das legitimiert, was momentan noch außerhalb der Gesetze liegt. Zum Beispiel Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, das Mandat dafür, die Armee auf den Straßen zu schicken, wo sie doch in den Kasernen gehört, das problemlose Ausspionieren von Privatleuten. Wir haben die Entwicklung des Gesetzes für öffentliche Sicherheit von Anfang an verfolgt und stets angeprangert, dass es nicht dem Schutz der Bevölkerung dient. Es ist ein Gesetz, mit dem der Staat sich selbst schützt, um die Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren, die durch die übertriebene Konzentration des Militärs auf den Straßen ausgelöst werden. All das wollen sie mit dem Sicherheitsgesetz rechtfertigen, das sie nun unbedingt verabschieden wollen.
Was wir derzeit erleben, bringt uns auf den Gedanken, dass das Geld, das der Herr Präsident der Republik bekommt, nicht dem Kampf gegen den Drogenhandel dient, sondern der Militarisierung der mexikanischen Nation. Die USA sind besorgt um ihre eigene “Nationale Sicherheit”, und eine ihrer Strategien ist es, die Nachbarstaaten zu militarisieren. So sagen es jedenfalls die Experten. Es scheint ein Krieg gegen den Drogenhandel zu sein, aber in Wirklichkeit ist es die Militarisierung des Landes zugunsten unserer “Nationalen Sicherheit”.
Und die Militarisierung wird, wie Sie gesagt haben, mit Hilfe einer Doppelstrategie gestützt: Der Korruption und der Doppelrolle der staatlichen Funktionäre.
Ein Beispiel dafür ist der Leiter des Gefängnisses in Apodaca (einer Industriestadt im Großraum Monterrey im Bundesstaat Nuevo León, d. Red.) Er kam schon mit einer langen Liste von Strafvorwürfen ins Amt. Was ist dann dort geschehen? Man hat Mitgliedern des organisierten Verbrechens die Schlüssel zu anderen Abteilungen in die Hand gedrückt, damit sie dort die Leute, die sie ermorden wollten, herausholen konnten, und sie haben sie auf jede erdenkliche Weise abgeschlachtet. Wir haben gerade von einem Menschenrechtszentrum in Nuevo León die Zeugenaussage einer Familie bekommen, die berichtet, man habe ihnen die Leiche ihres Sohnes total zerfetzt übergeben, als ob Hunde ihn zerfleischt hätten. Man muss annehmen, dass der Gefängnisdirektor das ermöglicht hat, der eben schon mit dem entsprechenden Register an Strafvorwürfen in seine Funktion eingesetzt wurde.
Wie wirken sich solche Verbrechen auf die Gesellschaft aus?
Die Gesellschaft hat keinerlei Sicherheit für das Leben, keinerlei Sicherheit für das Eigentum; das organisierte Verbrechen entführt, erpresst und bemächtigt sich fremden Eigentums. Sie werfen nach Belieben Leute aus ihren Häusern; wenn ihnen dein Auto gefällt, nehmen sie es sich. Und wenn du sie anzeigst… Ich kenne einen Fall in Saltillo, da hat der Besitzer den Raub angezeigt, und sie haben ihm eine Telefonnummer gegeben, falls wieder etwas sein sollte. Eines Tages hat er dann in einem Restaurant denjenigen gesehen, der ihm das Fahrzeug geraubt hatte, und er hat die Nummer angerufen. Die Folge war, dass der Mann, der ein paar Tische weiter saß, binnen 5 Minuten zu ihm herüberkam, sich an seinen Tisch setzte und sagte: „Du holst jetzt sofort die Rechnung für den Lieferwagen und deine Frau bleibt solange hier neben mir sitzen, bis du mit der Rechnung und den Fahrzeugpapieren zurück bist.“
Also, für die Gesellschaft bedeutet das, dass sie sich ausgeliefert fühlt. Sie fühlt sich wehrlos mitten im Krieg des Herrn Präsidenten, wo die Polizei oder die Armee plötzlich auf irgendwen mitten in einer schutzlosen Menge auf irgendwen losschießt. Du läufst auf der Straße, und auf einmal weißt du nicht mehr, was tun. Sie riegeln zum Beispiel ganze Straßenzeilen ab oder kesseln Städte ein, keiner kommt mehr rein oder raus. Die Bevölkerung fühlt sich hilflos. Auch die Geschäftsleute haben keinerlei Sicherheit, viele sind schon ausgewandert. Ich meine jetzt nicht die Großen, die werden natürlich geschützt, aber die Kleinunternehmer und Händler, denen bleibt nichts anderes übrig, als dichtzumachen; sie lassen Jugendliche verschwinden und, darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, auch Kinder. Kinder verschwinden spurlos.
Für die Bevölkerung gibt es keine öffentlichen Strukturen mehr, keine politischen Strukturen. Das Misstrauen gegenüber dem Staat ist enorm gewachsen, und was tut er? In die Armee investieren, der gerade die Gehälter verdoppelt wurde, in den Schutz der Staatsfunktionäre investieren.
Die Korruption ist inzwischen umfassend geworden. Im Bundestaat Coahuila haben wir derzeit eine Schuldenlast von 32 Milliarden Pesos (nahezu 2 Milliarden Euro, d. Red.), und es ist nicht herauszukriegen, wohin das Geld geflossen ist. Während das bundesstaatliche Parlament die Bücher schließt, sagt die Generalstaatsanwaltschaft auf nationaler Ebene, es gebe keine Beweise, dass der Herr Gouverneur darin verwickelt ist, so dass man ein Verfahren gegen ihn anstrengen könnte. Ja, wie sollen sie auch Beweise haben, wenn sie als staatliche Instanz keine Einsicht in die Buchführung bekommen? Da fehlt jegliche Moral. Zur Unfähigkeit des Staates gesellt sich die dreiste Korruption. Die politische Klasse in diesem Land ist verdorben, wie es Javier Sicilia, der Leiter des Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad (Bewegung für den Frieden in Gerechtigkeit und Würde) sagt, sie ist schon in Verwesung übergegangen und kann nicht mehr toleriert werden; es sind verantwortungslose Zyniker.
Für die Familien der Verschwundenen und der tausenden von Toten gibt es keine Unterstützung, und dann kommt noch die Problematik der Vertreibungen hinzu…
Und es gibt täglich mehr Jugendliche, die keine Zukunft haben. Die Nationale Universität hat jetzt eine Zahl dazu veröffentlicht: Es gibt sieben Millionen Jugendliche, die weder die Möglichkeit einer Ausbildung, noch einen Arbeitsplatz haben. Das ist Kanonenfutter für das organisierte Verbrechen. Es ist ja auch so, dass viele Kinder auf der Straße landen, weil das Familieneinkommen nicht mehr ausreicht. Diese Kinder haben Vater und Mutter, aber sie wachsen auf der Straße auf, sie haben keine Familie, keine Struktur. Sie werden Hazardeure, Teil der Strukturen des Drogenhandels.
Das macht uns sehr große Sorgen. Die Kinder werden ja auch schon als Wächter angeworben. Da das organisierte Verbrechen, die Kartelle, sich ja gegenseitig Territorien streitig machen, brauchen sie ihre „Falken“, das heißt zivile Wächter, das können Frauen mit versteckten Funkgeräten sein, das können aber auch Kinder sein. Denen geben sie ein Gehalt, das nicht mal ihre Eltern verdienen. Kann sein, dass die einem Kind 1.500 Pesos (etwa 88 Euro) pro Woche dafür bezahlen, dass es den Zugang zu einem Dorf bewacht und meldet, wenn Fremde ankommen.
Was kann die Gesellschaft in dieser schwierigen Lage tun?
Die Gesellschaft wird kritischer, aber sehr langsam. Nehmen wir zum Beispiel das Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad. Es muss sich momentan neu strukturieren, aber Javier Sicilia wird nicht aufgeben. Er wird weitermachen. Es ist immerhin ein Anfang. Wir haben nun auch das Tribunal Permanente des los Pueblos (Permanentes Völkertribunal), um den Belangen der Opfer Rechnung zu tragen. Das wird helfen, auch wenn es noch ganz am Anfang steht. Es gibt die Antimafia-Bewegung Libera, die in Europa von einem italienischen Priester, Luigi Ciotti, gegründet wurde und sich langsam auch hier durchsetzt, zumindest in einem intellektuellen Milieu. Das heißt, wir sind nicht ganz bei null, es aber es fängt jetzt erst an, dass wir reagieren.
Ein Beispiel sind die Frauen, etwa in den Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos in Coahuila (FUUNDEC FUUNDEM). Es sind auch viele Männer dabei, aber es sind eben ganz speziell Frauen, die sich bereitfinden, Netzwerke zu bilden um sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Das ist auch einer der Effekte der sozialen Bewegung von Javier Sicilia, dass sich die Menschen in Subjekte ihres Tuns verwandeln; wir als Kirche müssten hier viel präsenter sein. Die Kirche muss ihre Rolle wahrnehmen, aber sie ist nicht stark. Sie macht sich viel zu sehr mit diesem angeblich katholischen Präsidenten und seiner angeblich katholischen Partei gemein. Meiner Meinung nach unternehmen wir als Kirche nicht die Anstrengungen, die wir unternehmen müssten. Wir verfügen nicht über die Infrastruktur, die nötig wäre, um die Subjektwerdung der Bevölkerung im ganzen Land zu unterstützen, da ist leider noch viel zu tun.
Übersetzung aus dem Spanischen und redaktionelle Mitarbeit: Andrea Lammers
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Bildquellen: [1] Quetzal-Redaktion, Christiane Schulz; [2], [3] Zapata_