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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Frauenmorde und keine Aufklärung – die Frauen von Juárez

Raina Zimmering | | Artikel drucken
Lesedauer: 32 Minuten

Im Artikel geht es um das Thema der schlimmsten Ausprägung von Gewalt gegen Frauen, um die Fokussierung struktureller antiweiblicher Gewalt; es geht um Mord und um die Ursachen für diesen Feminizid.

Die Millionenstadt Juárez in Mexiko an der Grenze zu den USA wurde zu einem grausamen Sinnbild für Gewalt gegen Frauen. Überall in der Stadt stehen Kreuze und Mahnmale für ermordete Frauen. In dem Artikel geht es um das Thema der schlimmsten Ausprägung von Gewalt gegen Frauen, um die Fokussierung struktureller antiweiblicher Gewalt; es geht um Mord. Es soll hier nicht nach den Tätern im juristischen Sinne gesucht, sondern nach den Ursachen für diese außergewöhnliche brutale Gewalt gefragt werden. Das Ziel besteht in der Erfassung der strukturellen Zusammenhänge zwischen der Gewalt gegen Frauen, der Unterdrückung ethnischer Minderheiten, der Ausweitung des Drogenhandels und der wirtschaftlichen und politischen Deformationsprozesse infolge neoliberaler Globalisierung.

Der Feminizid von Juárez

In den letzten 12 Jahren wurden in der Nähe von Juárez (Provinz Chihuahua) 375 Leichen von Frauen und Mädchen laut Amnesty International (AI) gefunden. Die letzten zwei Frauenleichen fand man im Sommer 2004 mitten in der Stadt Juárez, eine weitere Ermordete im Herbst in der Stadt Chihuahua.[1] Nach AI-Angaben von 2004 werden weitere 400 Frauen vermisst.[2] Es gibt andere Quellen, die von 600 bis 1 000 Vermissten ausgehen.[3] Die mexikanische Feministin Esther Chavez Cano bezeichnete die Serienmorde als Feminizid.[4] Auch Menschenrechtsaktivisten und Journalisten wurden verfolgt, bedroht und ermordet. Die in der Nähe von Juárez gefundenen Frauenleichen wurden misshandelt, 140 von ihnen waren sexuell missbraucht und gefoltert worden, wobei die Genitalorgane und andere Körperteile zerstört wurden. Die meisten Morde und Misshandlungen erfolgten nach einem sich ähnelnden Muster. 75 Frauenleichen waren derart verstümmelt, dass eine Identifizierung nicht mehr möglich war. Schnitte überdecken ihre Körper, manche sind skalpiert, andere verbrannt oder erwürgt. Nachdem man die Frauen missbrauchte und ermordete, wurden sie einfach weggeworfen. In vielen Fällen machte man sich nicht einmal die Mühe, sie zu verscharren. Man fand die ermordeten Frauen im Umfeld der Stadt von Juárez, im Wüstensand, der die Stadt umgibt, auf brachliegenden Feldern, auf Müllhalden, in Abwasserkanälen und in der Sierra de Juárez.[5] 2001 wurden 8 Frauenleichen mitten in der Stadt Juárez gegenüber der Maquilafabrik Association entdeckt.[6] Bei den Ermordeten handelte es sich immer um den gleichen Typ von Frauen. Es sind junge, attraktive Mädchen und Frauen. Die Jüngsten von ihnen waren 10 Jahre alt gewesen. Alle hatten einen zierlichen Körperbau und langes Haar. Und es gibt noch ein gemeinsames auffälliges Kennzeichen. Sie alle stammten aus armen Verhältnissen, viele waren Indigenas aus dem Süden. Die Tätigkeiten, denen sie nachgingen, waren unterschiedlich: Arbeiterinnen aus den Weltmarktfabriken von Siemens, Bosch, Philipps oder Ford, Laborantinnen, Straßenverkäuferinnen, Schülerinnen, Angestellte in Haushalten oder Kellnerinnen in Restaurants und Bars. Um zur Arbeit oder zur Schule zu kommen, mussten alle weite Wege zu Fuß oder mit dem Bus durch unübersichtliche Gebiete zurücklegen.[7] In den letzten Jahren verschwanden Frauen und Mädchen allerdings mitten am Tag im belebten Zentrum.[8] Zwischen 2002 und 2004 hat sich das Phänomen der Frauenmorde über das ganze Land verbreitet. In Guanajuato wurden 21 und in Morelos 19 verstümmelte Frauen gefunden. Weitere in Oaxaca und in Chiapas. In der letzten Zeit wurde dieses Phänomen auch in anderen mittelamerikanischen Ländern wie Nikaragua, Guatemala und Honduras bekannt. Die offiziellen Schätzungen schwanken zwischen 1 400 und 5 000 ermordeten Frauen allein in Mexiko.[9]

Es ist nunmehr 12 Jahre her, dass diese Morde an Frauen und Mädchen in Juárez dokumentiert wurden, doch wurde diese Katastrophe bis zum heutigen Tag nicht wirklich aufgeklärt. Die Mehrzahl der Morde an den Frauen bliebn bisher straflos und deren Verschwinden unaufgeklärt.

Im Folgenden analysiere ich das soziale und kulturelle Umfeld der betroffenen Frauen und werde damit strukturelle Ursachen für dieses Phänomen aufzeigen. Dann komme ich auf die Ermittlung und Aufklärung der Morde zu sprechen. Am Schluss möchte ich die Frage aufwerfen, ob ein Zusammenhang zwischen den sozialen und den sozioökonomischen Bedingungen in der Grenz- und Maquiladora- Zone um Juárez und der nicht aufgeklärten ausgesprochen brutalen Gewalt gegen Frauen besteht.

Stadt der Grenze – Juárez

Die Stadt Juárez ist durch die Grenzsituation zwischen Mexiko und den USA geprägt. Eigentlich ist Juárez eine Doppelstadt, die nur durch den Rio Grande getrennt wird: das chaotische Cuidad Juárez auf mexikanischer Seite und das hochmoderne El Paso auf der USamerikanischen. Hier handelt es sich nicht nur um eine Grenze zwischen zwei Ländern, sondern um die Scheidelinie zwischen zwei Welten, zwischen Nord und Süd, zwischen der ersten und der dritten Welt. Gleichzeitig wird in der Grenzregion klar, dass alte Muster der Aufteilung der Welt nicht mehr greifen, dass in der Durchmischung der alten Welten neue mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entstehen, die durch die Durchdringung verschiedener Kulturen, Zerstörung alter und Bildung neuer Identitäten, durch die Aushebelung nationaler Gesetze, Entstaatlichung, durch Migration, Drogenhandel und Weltmarktfabriken charakterisiert werden.

Mexiko ist wirtschaftlich stark von den USAabhängig. Über 80 Prozent der mexikanischen Exporte werden in die USA geliefert. Jährlich wandern ca. 400 000 Mexikaner in die USA aus.[10] Die Migranten durchqueren auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in den USA die nördliche Region Mexikos und ein Großteil von ihnen verweilt in Juárez oder bleibt in diesem Gebiet hängen, meistens in Warteposition auf eine günstige Gelegenheit für den Grenzübergang. Oft werden die Migranten an der insgesamt 3 200 km langen Grenze zwischen Mexiko und den USA von der US-amerikanischen Bordercontrol festgenommen und zurückgeschickt. Dann warten die Zurückgeschickten auf die nächste Gelegenheit, zu fliehen. So ist Juárez seit langem eine Stadt der Migranten, eine Stadt der Fremden, die nur verweilen, um weiterzugehen und in dieser Wartezeit um ihr Überleben kämpfen. In dieser Situation gedeiht Verbrechen, Bestechung, Raub, Gewalt und Drogenhandel. Ein Menschenleben gilt in Juárez nichts.

Als im zweiten Drittel der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ausländische Unternehmen Fabriken mit arbeitsintensiven Industrien in der nördlichen Region gründeten, wurde Juárez auch zu einer Stadt der Maquiladora.[11] 1965 rief die mexikanische Regierung das Programm zur Industrialisierung der Nordzone (Programa de la Industrialización de la Frontera Norte – PIF) ins Leben. Sie unterbreitete großzügige Angebote an große internationale Unternehmen, damit diese exportorientierte zwischengelagerte Lohnveredelungsbetriebe in Mexiko ansiedelten.[12] Zu diesem Zweck wurden Sondergesetze erlassen und eine Freihandelszone gegründet, in der den Unternehmen Steuerfreiheit gewährt wurde. Gewerkschaften waren verboten und die Arbeitsgesetze über Mindestlöhne wurden ausgehebelt. Mit dem Maquiladora- Plan war das Versprechen verbunden, die Region an der Grenze und mit ihr ganz Mexiko in eine bessere Zukunft zu führen. Sie sollte eine Stätte des Fortschritts und der Entwicklung werden. Für die Mexikaner böte sich die Chance auf ein neues Leben, attraktive Arbeitsplätze, gute Einkommen und modernste Technik und Weiterbildungsmöglichkeiten. Hier sollten unqualifizierte Arbeitskräfte zu selbstbewussten und modernen Menschen geformt werden, die die neuesten Technologien beherrschten und Teil eines globalen Produktionsnetzwerkes wären.

Das Maquila-Programm erlaubte ausländischen Unternehmern Fabriken in Mexiko zu errichten, die sich 100prozentig in ausländischem Besitz befinden und einzig und allein für den Export produzieren. Die Vorprodukte und Materialimporte der benötigten Maschinen wurden von Einfuhrzöllen befreit. Nach Beendigung der Produktion werden die Maschinen wieder in das Herkunftsland zurück verbracht. Die Maquilas sind überwiegend mit US-amerikanischen und japanischen Unternehmen verbunden. In den letzten Jahren entfielen 50 Prozent der mexikanischen Exporte auf die Maquiladora-Industrie. Das meiste, was für die Produktion benötigt wird, wird eingeführt. Nur 3 Prozent der Importe stammen aus Mexiko selbst, was den verschwindend geringen Anreiz für die einheimische Wirtschaft deutlich macht. Im Juli 2004 gab es 2 804 Maquilas im Lande, in denen 1,2 Mio. von 14 Mio. Menschen beschäftigt sind.[13] Die wichtigsten Sektoren sind die Autoindustrie, die Herstellung elektronischer und elektrischer Geräte und die Textilindustrie. Produziert wird arbeitsintensiv. Die Unternehmen fungieren dabei als Zulieferbetriebe für bekannte Weltmarkenfirmen wie Siemens, Bosch, Philipps. Es gibt aber auch Filialen von General Motors, Mitsubishi, Sony, Packard Electric usw.

Mit den Maquilas verfolgte die mexikanische Regierung die Absicht, das gravierende Problem des Arbeitskräfteüberschusses und der Migration zu lösen. Besonders wichtig erschien dies Anfang der 90er Jahre im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise des Landes. Nach der Abwertung des Pesos 1994 entließ PEMEX [14] allein 22 000 Menschen.[15] Auch in der Landwirtschaft entstanden im Zusammenhang mit der Etablierung der North American Free Trade Association (NAFTA) große Probleme. Durch den Wegfall von Importschranken für ausländische Anbieter waren die einheimischen Produkte wie Mais, Bohnen und Fleisch nicht mehr konkurrenzfähig. Tausende Bauern verloren ihre Existenz, insbesondere in den südlichen Regionen des Landes, in Veracruz, Chiapas und Tabasco.

Mit der Errichtung der Maquiladora-Zone zogen nun nicht mehr nur die waghalsigen Auswanderungswilligen auf der Suche nach Arbeit und Glück in den Norden, um in die USA zu gelangen, sondern Scharen von Arbeitskräften, um nun dort zu bleiben. Als die ersten Auswanderer Arbeit in den Maquilas fanden, holten sie ihre Familien und Verwandten nach und diese wiederum ihre Angehörigen. So wanderten ganze Dörfer aus dem Süden aus und siedelten sich in Juárez an. Der größte Teil der Migranten waren Frauen, die aus sozialen und geschlechterspezifischen Gründen aus der mexikanischen Gesellschaft ausgestoßen waren. Dies betraf in erster Linie allein stehende Mütter, die von ihren Männern verlassen wurden, arbeitslose Frauen und Frauen, die von ihren Familien verstoßen wurden. Einen weiteren Anteil bilden Frauen, die nach Juárez gingen, um ihre Familien durchzubringen und das erarbeitete Geld nach Hause in den Süden schickten. Der hohe Frauenanteil hing mit der speziellen Nachfrage der Maquilas zusammen. Der Hauptteil der in den Maquilas beschäftigten Arbeiter war von Beginn an bis in die 90er Jahre hinein weiblich. Frauen galten bei den Unternehmern als weniger aufsässig als Männer, lern- und anpassungsfähiger und konnten für weniger Geld eingestellt werden. Die Erfahrung zeigte, dass Frauen weniger Berührung mit Gewerkschaften und politischer Arbeit als die Männer hatten, die aus den Industriegebieten Mexikos zuwanderten.

Arbeitsbedingungen in der Maquiladora-Industrie

Die Arbeitsbedingungen für die in den Maquilas arbeitenden Frauen unterscheiden sich erheblich von denen in den westlichen Staaten. Die Arbeiterinnen erhalten durchschnittlich vier Dollar Lohn für neun Stunden Arbeit. Im Vergleich dazu: In den USA zahlt man für unqualifizierte Arbeit fünf Dollar in der Stunde. Die Verarbeitung der Produkte erfolgt hauptsächlich in Handarbeit ohne Maschinen. Zum überwiegenden Teil verrichten die Frauen eintönige und ermüdende Arbeiten, wie z. B. das Zusammenstecken von Schaltern und Steckern. Aber auch körperlich schwere Arbeiten kommen häufig vor. In vielen Unternehmenspräsentationen wird behauptet, dass die Maquiladora-Industrie seit ihrer Gründung eine stufenweise Entwicklung von den rein arbeitsintensiven Weltmarktfabriken zu so genannten highly competent skilled labor- Maquiladoras mit einer kapital- und wissensintensiveren Produktion im Sinne des Slogans „lernende Fabriken in einer lernenden Region“ durchgemacht hätten. Dadurch hätten die mexikanische Wirtschaft einen erheblichen Modernisierungsschub und die mexikanischen Arbeitskräfte eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, ihres Lebensstandards und technischer Kenntnisse erreicht. Dabei wird gern auf die steigende Zahl an mexikanischen Unternehmern und Technikern und die zunehmende Ausstattung der Unternehmen mit technischen Geräten verwiesen. Auch wenn das in einigen Fällen der Wahrheit entspricht, blieben diese Unternehmen nach wie vor nicht nur in der Minderzahl, sondern sind schlichtweg eine Ausnahme.[16]

Die arbeitenden Frauen in den Maquilas sind meistens sehr jung. Das Alter der Arbeiterinnen liegt oft unter 20 Jahren.[17] Bis in die 90er Jahre hinein wurde das Mindestalter von 14 Jahren oft unterschritten.[18] Die Maquila-Unternehmer kalkulierten, dass jugendliche unerfahrene Frauen fügsamer und leichter manipulierbar sind und noch keine Kinder haben. Da sie selbst noch Kinder sind, können sie vormundschaftlich behandelt werden. Somit sind sie für einen reibungslosen Produktionsablauf besser verwertbar. Die Arbeitszeit überschreitet in vielen Fällen die gesetzlich festgelegte Stundenzahl. Besonders häufig sind Überstunden, die vom Unternehmer in der Regel nicht bezahlt werden. Im Fall von engen Lieferterminen müssen die Arbeiterinnen manchmal die ganze Nacht oder mehrere Nächte hintereinander durcharbeiten. In fast allen Maquilas werden elementare Menschenrechte der Arbeiterinnen verletzt. Die Toilettengänge werden z. B. in vielen Fabriken durch Abschließen der Toiletten und die Erlaubnis, diese nur in den Pausen benutzen zu dürfen, restriktiv eingeschränkt. Schwangerschaften der Arbeiterinnen sind im Maquila-Bereich unerwünscht. Um Schwangerschaften zu verhindern, müssen sich die Arbeiterinnen oftmals erniedrigenden Körperuntersuchungen, Schwangerschaftskontrollen und Druck von Seiten der Unternehmensleitungen unterziehen. So werden vom Unternehmen Antibabypillen verteilt oder die Monatsbinden der Frauen regelmäßig kontrolliert.[19]

Für die Arbeiterinnen ist es kaum möglich, ihre Interessen gegenüber der Unternehmensleitung politisch zu vertreten. In den Anfangszeiten der Maquila waren Gewerkschaften regelrecht verboten, in den letzten Jahren wurden Gewerkschaften zugelassen, besser gesagt, eine Gewerkschaft – die CTM – der Gewerkschaftsdachverband, der eher Unternehmer- als Arbeitnehmerinteressen vertritt. Die Bildung unabhängiger Gewerkschaften sowie Streiks werden mit allen Mitteln unterdrückt, so dass die Maquilazone als quasi „gewerkschaftsfreier Raum“ betrachtet werden kann.[20] Da keine eigene adäquate Repräsentation der Arbeiter existiert, gestalten sich Arbeitsbeziehungen zwischen Manager und Arbeiterinnen in einer direkten Linie von Person zu Person ohne zwischengeschaltete Repräsentationsinstanz. So werden Geschlechterverhältnisse reproduziert, die einerseits traditionellen aus der Kolonialgeschichte Mexikos entliehenen Mustern entsprechen und andererseits das Abhängigkeitsverhältnis zwischen entwickelten westlichen Staaten und unterentwickelten Staaten der Dritten Welt paradigmatisch widerspiegeln. Die aus ländlichen Regionen oder den städtischen Unterschichten kommenden Frauen müssen sich einem ihnen bisher völlig fremden Arbeitsalltag von heute auf morgen anpassen. Dabei geraten sie in ein sehr ungleiches Abhängigkeitsverhältnis zu den Managern und Unternehmern nach dem Bild eines Vater-Kind- Schemas. Dabei haben indigene Frauen unter besonders komplexen Diskriminierungen zu leiden. Dies betrifft sexuelle Gewalt und die verschiedensten Formen von Benachteiligung [21], wobei Genderfragen mit den Problemen von ethnischen Minderheiten verwoben werden.[22] Das in diesem Kontext entstandene Psychogramm der Maquiladora-Arbeiterinnen ist ein üppiger Nährboden für Gefolgsamkeitsverhalten und eine fehlende weibliche Selbstbewusstseinskultur, was von verbrecherischen Organisationen gut ausgenutzt werden kann.

Man fragt sich, wieso auch Frauen aus den Maquilas verschwinden konnten, obwohl die Maquila-Unternehmen sich als eine gut funktionierende Familie darstellen, als so genannte Familien-Unternehmen. In Wirklichkeit jedoch bilden sich in den Betrieben keine festen Gemeinschaften. Dies wird durch die ausgesprochen hohe Fluktuation von Arbeitskräften unmöglich gemacht. Im Durchschnitt wird die Belegschaft einer Maquila innerhalb von 10 Monaten komplett ausgewechselt.[23] Grundlage dafür ist das Überangebot von Arbeitskräften, das sich aus den Migrationsströmen rekrutiert. Die Unternehmen selbst sind an der Organisation von Migrationsnetzwerken direkt beteiligt.[24] Damit produzieren sie einen äußerst effektiven Druck auf die Arbeiterinnen, die bei der kleinsten Unregelmäßigkeit entlassen werden können. Außerdem haben die Arbeitsverträge nur eine kurze Dauer von durchschnittlich drei bis sechs Monaten oder es werden keine abgeschlossen. Oftmals müssen die Arbeiterinnen ihre Arbeit kündigen, wenn sie eine Familienangelegenheit zu regeln haben, da ihnen nur eine Woche Urlaub zugebilligt wird. Wenn sie z. B. zu einer Beerdigung eines Familienmitglieds in den Süden fahren müssen, reicht eine Woche zeitlich nicht aus. In solchen Fällen sind sie gezwungen, ihre Arbeit zu kündigen. Durch die hohe Fluktuation der Arbeitskräfte fällt es nicht auf, wenn eine Arbeiterin am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheint, es ist Normalität. Keiner der Kolleginnen würde es einfallen, Nachforschungen zu betreiben.

In den letzten Jahren ist der Frauenanteil in der Maquiladora- Produktion auf Grund von Umstrukturierungsmaßnahmen in den Unternehmen gesunken. Außer bei „Moga“ mit 100 Prozent und „Miller und Brown“ mit 64 Prozent Frauen liegt der Anteil bei anderen Unternehmen inzwischen unter 50 Prozent.[25] Der Wechsel in der Genderorientierung setzte ein Heer von arbeitslosen Frauen frei, das nun auf andere Bereiche, insbesondere in den Dienstleistungssektor und informellen Sektor in der Stadt Juárez und Umgebung auswich. Diese Situation und eine zunehmende Unübersichtlichkeit führen dazu, dass Frauen, besonders junge Frauen, für das Versprechen, Geld zu verdienen, äußerst empfänglich und so eine leichte Beute für delinquente Rekrutierungsnetzwerke darstellen.

Juárez als Ort struktureller Gewalt

Das Bild der Stadt Juárez wird nicht nur durch die Wohnviertel und Fabriken geprägt, sondern auch durch zersiedelte und unübersichtliche Zonen, durch von Abwässern zerstörte Landschaften, Abbruchhäuser, Investruinen, weite Elendsviertel in der Nähe der Wüste und grelle Vergnügungsviertel im Zentrum mit einem ausgeprägten Nachtleben. In dieser Stadtlandschaft gedeihen Gewalt, Verbrechen und Verwahrlosung. Juárez war traditionell durch seine Grenzlage immer schon eine Stadt, in der es viel Gewalt und Drogenhandel gab. Durch die Errichtung der Maquiladora-Industrie gingen Gewalt und Drogenhandel jedoch nicht zurück, wie man sich versprochen und erhofft hatte, sondern nahmen eher noch zu. Zwischen Maquiladora- Industrie und Drogenhandel kann regelrecht ein paralleles Wachstum beobachtet werden. Der Drogenhandel wurde seit langem durch das Bestehen religiöser Sekten, die mit den mächtigsten Familien von Juárez verbunden sind, begünstigt. In den letzten Jahren mutierte das Gebiet um Juárez nach der teilweisen Zerstörung der großen Drogenkartelle in Kolumbien zu einem der größten Umschlagplätze auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Das Juárez- Kartell soll inzwischen das größte Drogenkartell in ganz Lateinamerika sein. Nachdem der Clan um Armado Carrillo 1993 die Macht übernommen hatte, brutalisierte sich der Drogenhandel.[26]

Eines der großen Probleme der Stadt ist das Bandenwesen. Die meisten Stadtteile haben ihre eigenen Gangs. Drogenbanden kämpfen um die Vorherrschaft in der Grenzregion. Morde auf offener Straße sind alltäglich und sie werden kaum aufgeklärt. Dies erzeugt einen rechtsfreien Raum, in dem die Polizei nur agieren kann, wenn sie sich mit den Delinquenten arrangiert oder fraternisiert. Die Sicherheitskräfte sind nicht im Mindesten auf die schnell wachsende Stadt und den Drogenkrieg eingerichtet. In Juárez kommt ein Polizist auf 3 551 Einwohner.[27] Die Stadt weist die höchste Kriminalitätsrate in ganz Mexiko auf. Die andere Seite der Rechtsfreiheit ist ein Klima der Angst, das die Bewohner der Stadt lähmt und Rückzug ins Private bewirkt. Juárez mutierte so von einem Hort der Hoffnung zur „feindlichen Stadt“, die die Menschen depressiv und aggressiv macht.

Die strukturelle Gewalt gegen Frauen ist ein Teil der offenen Gewalt in Juárez. Neben der untergeordneten und abhängigen Position der Arbeiterinnen in den Maquila-Fabriken tritt die innerfamiliäre Gewalt. Da die ausländischen Unternehmen jahrzehntelang hauptsächlich Frauen einstellten, entstand ein riesiges Heer von arbeitslosen Männern, die sich in der machistisch geprägten Gesellschaft Mexikos mit dieser Rolle nur schwer abfinden können. Traditionell, insbesondere im Süden Mexikos, gilt der Mann als der Ernährer und Beschützer der Familie, der alles unter Kontrolle hat. Die abrupte Umkehrung dieser Rollenordnung in der Maquiladora-Zone führte bei vielen Männern zu tiefen Persönlichkeitsstörungen und Minderwertigkeitskomplexen. Sie empfinden es als äußerst entwürdigend, sich von ihren Frauen oder Töchtern ernähren zu lassen, diese in ihrer Abwesenheit nicht beschützen zu können und Arbeiten, wie Kinderbetreuung, Putzen, Waschen und Kochen, auszuführen, die nicht ihrem Rollenverständnis entsprechen. Das Leben in der Maquila- Zone brachte den meisten Männern keine neue Identität, sondern lediglich den Verlust der alten. Zur Kompensation suchen sie Trost in Drogen und Alkohol oder in informellen Geschäften. In solchen Familien kommen Gewaltakte gegen die eigenen Frauen und Töchter gehäuft vor. Gewalt nimmt in der männlichen Entwurzelung dabei die Funktion ein, die Rollenordnung symbolisch wieder herzustellen. In Juárez wurden 1995 1 307 sexuelle Verbrechen registriert, wobei die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. 1996 stieg diese Zahl um 35 Prozent. Die tief greifenden Verwerfungen in den Genderbeziehungen sind eine der Ursachen für den Feminizid, sie bilden den Nährboden für martialische Rachegefühle von Männern gegenüber Frauen, mit der sie der fortschreitenden Erosion männlicher Autorität durch Gewalt Einhalt bieten wollen.[28]

Aufklärung der Frauen-Morde

Nach der demographischen, sozialen und Gender-Einbettung der Morde in den Kontext von Juárez drängt sich die Frage der Aufklärung auf. Schon auf den ersten Blick erscheint es als äußerst widersprüchlich, dass in einem demokratisch verfassten Staat im zwölften Jahr nach den ersten dokumentierten Morden immer noch keine umfassende Aufklärung erfolgte. Die Täter wurden immer noch nicht eindeutig ermittelt und bestraft.

Anfang der 90er Jahre wurden die Morde in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Die lokalen Sicherheitsbehörden der Provinz Chihuahua lehnten es ab, von einem systematischen Mord an Frauen zu sprechen und erklärten sie zu „normalen“ Gewaltverbrechen. Sie spielten die Morde herunter und verharmlosten sie. Medien, Politiker und Polizei schoben die Schuld häufig den Opfern selbst zu. Die ermordeten Frauen hätten sich zu aufreizend gekleidet und ein lasterhaftes Leben geführt. 1999 machte der oberste Staatsanwalt von Chihuahua die Frauen direkt für das Geschehene verantwortlich. Er sagte: „Frauen, die abends ausgehen, oft spät und Kontakt mit Betrunkenen haben, gehen ein Risiko ein. Wer auf die Straße geht, lebt gefährlich“.[29] Dieser Argumentationslinie folgten auch Unternehmer aus der Maquiladora-Industrie.[30] Eine Mitarbeiterin in der höheren Verwaltung einer Maquiladorafabrik äußerte z. B. in einem Interview: „Die Personen, die von klein auf hierher kommen, die allein sind, machen mit ihrem Leben, was sie wollen. Denn sie müssen niemandem wegen irgendetwas Rechenschaft ablegen. … Sie kommen spät nach Hause und ziehen sich provozierend an, und das führt zu vielen Dingen“.[31]

1995 verhafteten die Behörden Abdel Larif Sharif. Der in El Paso lebende Ägypter wurde als Psychopath und Massenmörder charakterisiert, der als Einzeltäter für die Morde verantwortlich wäre. Doch nach der Verhaftung von Sharif gingen die Morde weiter. Jetzt setzten die Behörden und Medien die Erklärung in Umlauf, dass Sharif vom Gefängnis aus eine Bande, die sich „Los Rebeldes“ nenne, beauftragte, weitere Morde und Vergewaltigungen zu begehen, um ihn unschuldig erscheinen zu lassen. 1996 wurden 14 Gang-Mitglieder verhaftet. Nach der Verhaftung setzten sich die Morde jedoch wiederum fort. Neun Bandenmitglieder wurden nun wieder entlassen. Die Entlassenen der Rebeldes-Bande gaben an, dass ihre Geständnisse unter Folter erzwungen worden wären. Danach wurde eine Gruppe weiterer Verdächtigter verhaftet. Es waren Busfahrer der Maquiladorabetriebe, die ebenfalls mit Sharif in Verbindung stehen sollten. Auch diese Gruppe von Festgenommenen berichtete von unter Folter erpressten Geständnissen. Dazu kam, dass der Anwalt Mario Escobeda, der die Foltervorwürfe eines Klienten vor Gericht bringen wollte, auf einer Drogenfahndung von Polizisten angeblich irrtümlicherweise erschossen wurde. Sein Mandant starb kurze Zeit darauf im Krankenhaus während einer Operation. Die Hinrichtung von Mario Escobeda wurde von einem Fotografen der Zeitschrift „Norte“ fotografiert und bewiesen. Diesen Beweis wies die Staatsanwaltschaft zurück. Daraufhin wurde der Fotograf von Unbekannten entführt und bedroht und der Chefredakteur der Zeitschrift erhielt Morddrohungen. Ebenso erging es dem Vater des ermordeten Anwaltes, der den Fall vor das Gericht bringen wollte. Nach den Morddrohungen gegen ihn und seine Familie nahm er schließlich die Klage wieder zurück und das Gericht ließ den Fall wegen Mangels an Beweisen schließlich fallen.[32]

Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier etwas verborgen wurde und die wahren Hintergründe der grausamen Verbrechen nicht ans Tagelicht kommen sollten. Dieser Eindruck erhärtete sich, als sich herausstellte, dass es grobe Fehler bei den Ermittlungen gegeben hatte. Es wurde unterlassen, Zeugen zu befragen, Indizien verschwanden, gerichtsmedizinische Untersuchungen wurden gar nicht oder äußerst nachlässig durchgeführt und Akten nicht systematisch angelegt. In vielen Fällen hatte man die Orte, an denen die Frauen gefunden wurden, nicht einmal markiert.[33] Das Schlimmste war, dass die Behörden die Vermisstenanzeigen der Mütter der verschwundenen Mädchen in vielen Fällen nicht aufnahmen. Die Polizei verspottete die Mütter, indem sie ihnen sagte, dass ihre Töchter sicher bei einem Freund geblieben oder als Prostituierte in den Bars der Stadt untergetaucht seien. Nach mexikanischem Gesetz liegt kein Delikt vor, wenn ein Mensch nicht als vermisst gemeldet wurde.[34] Ein Beispiel ist der Fall von Silvia Arce, über den AI 2004 berichtete. Die Mutter hatte ihre Tochter am 12. März 1998 zum letzten Mal gesehen. Seit dieser Zeit versuchte sie verzweifelt herauszufinden, was mit ihr geschehen ist, ohne jeden Erfolg. Immer wieder musste sie die Erfahrung machen, dass die Behörden ihre Forderung, das Verschwinden ihrer Tochter zu untersuchen, ignorierten. Vor AI sagte die Mutter: „Sie haben viele Spuren gefunden, Adressen, Telefonnummern, Namen … Aber sie haben nichts damit gemacht. Ich habe ihnen so viele Informationen gegeben und sie wurden nicht einmal in die Fall-Unterlagen aufgenommen. Wir verdienen diese Behandlung und den Schmerz, den wir tagtäglich erleben, nicht! Das einzige, worum ich bitte, ist Gerechtigkeit und dass sie meine Tochter endlich finden“.[35]

Als sich die Morde unterdessen immer weiter häuften und auch bereits auf andere Städte wie Chihuahua übergriffen, tauchten über die Medien und Politiker neue Erklärungen für die Feminizide auf, wie die Produktion von so genannten „Snuffvideos“ (Gewaltpornos), Frauenhandel, satanische Blutkulte oder Organhandel. Bisher konnte nicht eine dieser Vermutungen bestätigt werden. Frauenrechtlerinnen aus Juárez, die sich mit den Morden beschäftigen, gehen davon aus, dass diese Erklärungsansätze oder einige davon wahrscheinlich zutreffen, doch das Wesentliche die Impunidad – die Straflosigkeit sei.[37]

Inzwischen gründeten die verzweifelten Angehörigen der Opfer verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, um Druck auf die örtliche Regierung und auf die Bundesregierung auszuüben, die Morde aufzuklären und die Mörder zu bestrafen. Die Selbsthilfeorganisationen bieten für die Angehörigen der Opfer und die wenigen überlebenden Betroffenen psychologische Betreuung und Hilfe an. Beispiele hierfür sind die NGO „Voces sin Eco“ (Stimmen ohne Echo) und die „Casa de Mujeres“ (Haus der Frauen). Die Arbeit dieser Organisationen ist mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, da sie massiv diffamiert werden und diskriminierenden Untersuchungen von Seiten der Polizei ausgesetzt sind.

Ein wichtiger Schritt in der Arbeit der Organisationen war die Übergabe der Fälle an die internationale Öffentlichkeit. 2002 berichteten Vertreterinnen der Organisationen vor der Internationalen Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte (CCIODH) über die Feminizide und klagten die Regierung wegen der mangelhaften Aufklärung an.37 CCIODH berichtete der Hochkommissarin für Menschenrechte bei der UNO Mary Robinson über die Fälle. Im Jahre 2003 klagte die Nationale Menschenrechtskommission Mexikos die Regierung in der UNO an, die Konvention über die Eliminierung aller Formen von Diskriminierung der Frau verletzt zu haben.[38] Die UNO-Menschenrechtskommission setzte nun das Thema auf die Tagesordnung und schickte eine eigene Delegation nach Mexiko. Diese stellte fest, dass die Regierung und Justiz nicht die nötigen Untersuchungen in die Wege zur Aufklärung der Verbrechen geleitet hätten.[39] Auch Amnesty International untersuchte mit einer eigenen Delegation die Fälle vor Ort und verwies auf das Beispiel der 16 Jahre alten Viviana Rayas, die entführt und ermordet aufgefunden wurde.[40] Die Behörden unterließen es, den Entführungsindizien konsequent nachzugehen. Die Tatverdächtigen und Zeugen in diesem Fall wurden gefoltert und unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweise behandelt.[41] Im März 2003 veröffentlichte die Interamerikanische Menschenrechtskommission nach einer ausführlichen Recherche einen Bericht über die Todesfälle. Aus all den Aktivitäten erwuchs schließlich die Forderung an die mexikanischen Behörden, dass sich der Oberste Gerichtshof der Fälle annehmen und eine Sonderkommission gebildet werden sollte. Erst jetzt wurde das Thema auch in der Öffentlichkeit ernst genommen. Der mexikanische Unternehmerverband COPARMEX (Confederación Patronal de la República Mexicana) und die Nationale Menschenrechtskommission warfen der Regierung von Chihuahua Nachlässigkeit, Unvermögen und Informationsverschleierung bei der Aufklärung der Morde vor.[42]

Im Juli 2003 rief der mexikanische Präsident Vicente Fox eine nationale Untersuchungskommission ins Leben. Zur gleichen Zeit verabschiedete das Innenministerium einen 40-Punkte-Plan zur Aufklärung der Morde.[43] Doch auch diese Aktionen auf höchster Ebene führten bis jetzt zu keinen zufrieden stellenden Ergebnissen. Die Untersuchungskommission, die vom Innenminister Santiago Creel und der Sekretärin für Menschenrechte im Außenministerium geleitet wird, organisierten drei Runde Tische zum Thema der Frauenmorde. Von Frauenrechtlerinnen wird der Kommission vorgeworfen, dass sie wichtige Informationen zurückhalte und sich bei Zuständigkeitsdebatten aufhalte.[44] Außerdem wurden die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen bei den Gesprächen weitgehend übergangen und deren Diskriminierung nicht thematisiert.[45] Im Januar 2004 schließlich setzte die Oberste Staatsanwaltschaft mit der Juristin María Lopez Urbina eine Sonderstaatsanwältin ein. Die Anwältin wird wegen zu wenig Erfahrung in der Menschenrechtsarbeit und bei der Verfolgung von Gewalt gegen Frauen kritisiert.[46] Sie untersuchte 150 Mord-Akten und kam zu dem Schluss, dass in mindestens 100 Fällen berechtigter Verdacht besteht, dass die Ermittlungen fehlerhaft und nachlässig durchgeführt worden waren. Allerdings fühlen sich die bundesstaatlichen Behörden weiterhin nicht für die Ermittlungen zuständig und weisen diese wieder an die Behörden von Chihuahua zurück. Es besteht Grund zur Sorge, dass die Ermittlungen im Sande verlaufen und niemand für die strafwürdige Fahrlässigkeit, mit der seit Beginn der Mordserie 1993 in Sachen Frauenmorde vorgegangen wurde, zur Verantwortung gezogen wird. Trotz dieser Regierungsaktivitäten konnten keine substanziellen Fortschritte bei der Aufklärung der Fälle erreicht werden.

Aber es gibt auch positive Ergebnisse. Durch die umfangreiche Arbeit nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen ist eine Verbesserung der juristischen und forensischen Aufklärungsarbeit und Spurensuche zu verzeichnen. Nunmehr werden an den Opfern Autopsien durchgeführt und es findet eine ordentliche Dokumentation der Funde statt. Der korrupte Generalstaatsanwalt Jesus José Solis Silva musste zurücktreten. Die Vermisstenanzeigen werden inzwischen von der Bundesstaatsanwaltschaft akzeptiert und mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht.[47]

Bis heute finden jedoch Quellen, die eine Verbindung von Unternehmern, Politikern, Polizei und Drogenhändlern zu den Morden herstellen, kaum Beachtung. Derartige Quellen können Menschenrechtsorganisationen und sozialwissenschaftliche Untersuchungen liefern. Wichtig in diesem Zusammenhang sind zwei Publikationen der letzten beiden Jahre, die aufschlussreiches Material und logische Erklärungsansätze anbieten: das Buch „Huesos en el Desierto“ (Knochen in der Wüste)[48] des mexikanischen Journalisten Sergio González Rodíguez und das Buch „Frauenernte – eine mexikanische Safari“[49] der US-amerikanischen Reporterin aus El Paso Diana Washington. In beiden Büchern wird über enge Kontakte zwischen Geschäftsleuten, der Drogenszene, Polizeibeamten, den Söhnen einflussreicher Juárezer Familien und prominenten Politikern berichtet. Sie sprechen vom Dreigestirn zwischen Politik, Drogenhandel und Industrie. Es wird berichtet, dass Drogenbosse Maquilas kauften und reiche Familien aus Juárez, die ebenfalls mit dem Drogenhandel in Verbindung stehen, Industrieparks und Universitäten besitzen. Der Exgouverneur von Chihuahua z. B. arbeitete mit dem Juárez-Kartell zusammen. Diese Untersuchungen wurden durch die Nachricht vom Februar 2005 bestätigt, dass ein wichtiger Sicherheitsberater von Präsident Fox, Acosta Lugo – der Mann, der die Auslandsreisen des Präsidenten organisierte – ein Mann der Mafia ist. Er informierte die Drogenkartelle über alle geplanten Schritte zur Bekämpfung des Drogenhandels, so dass trotz der Inhaftierung der Bosse der wichtigsten Drogenkartelle das Drogengeschäft und der Kampf zwischen den Kartellen vom Gefängnis aus weiter gingen. So starb Ende 2004 Arturo Guzmán Loera, eine Schlüsselfigur der mexikanischen Kokamafia im Hochsicherheitsgefängnis von La Palma. Auch der Tod von sechs Gefängniswärtern im Hochsicherheitstrakt Matamoros im Norden Mexikos ist darauf zurückzuführen, dass die Mafia gut informiert war und im Gefängnis einen breiten Aktionsraum besaß.[50]

Fazit

Der Ursachensuche nach dem Feminizid in der Provinz Chihuahua hält sicher kein monokausaler Erklärungsansatz stand. Es ist ein komplexes Geflecht verschiedenster Phänomene, die sich in Juárez kreuzen und zu dieser furchtbaren Ausprägung der Gewalt gegen Frauen führen. Zu nennen wären dabei die aus dem Gleis geratenen Genderbeziehungen und die Migration infolge des schnellen Wachstums der Maquiladora-Produktion, das Anwachsen und die Brutalisierung des Drogenhandels, der durch die Entstaatlichung der Region neue Spielräume erhielt, die Privatisierung der Sicherheitssysteme und deren Verbindungen zur Drogenszene, die Verquickung von Politik mit großen Unternehmen und der Drogenszene. Ein wesentlicher Punkt ist die Erweiterung des Spielraumes der Drogenmafia, und die Transformation ihres Aktionsraumes auf ganz neue Tätigkeitsfelder, die nicht allein die Drogen, sondern auch solche Bereiche in der Gesellschaft betreffen, die traditionell von Wirtschafts-, Sicherheits- oder Politikeliten besetzt wurden. Da der mexikanische Staat in Juárez mit der Schaffung von Freihandels- und Exportproduktzonen selbst die nationale Gesetzgebung aushebelte, entstand nicht nur für transnationale Unternehmen ein neuer Freiraum, sondern auch für die Drogenmafia. Bei einem Überhandnehmen des Marktes entfallen die Grenzen des Konsumierens und der Käuflichkeit. So dass selbst menschliche Körper zum Marktartikel werden, mit dem extrem hohe Profitraten erzielt werden können. Bei den Frauenmorden geht es in erster Linie um Geld – viel Geld -, Drogen und Gewinn.

Es gibt auch eine breite Diskussion darüber, inwiefern die Maquiladora-Industrie mit den Frauenmorden zu tun hat. Feministische Erklärungsansätze gehen davon aus, dass durchaus von einer zumindest indirekten Mitverantwortung gesprochen werden kann. Dies wird daraus abgeleitet, dass sie den privaten Alltag der Arbeiter beeinflussen und zu Verwerfungen in den Genderbeziehungen beigetragen haben. Auch haben sie explizit verhindert, dass sich die Arbeiter unabhängig vom staatlich geförderten Gewerkschaftsdachverband organisieren und politische Interessenverbände aufstellen können. Die politisch entmündigten und von den Unternehmen persönlich abhängigen Frauen lassen sich so für die Maquiladora am besten in Wert setzen, um den globalen Wettbewerb in einer heiß umkämpften Produktionswelt zu gewinnen. So werden Geschlechtermuster geschaffen, die ein frauenfeindliches Genderverständnis und Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern reproduzieren. Der Körper der Frau wird als billiges Arbeitsinstrument repräsentiert, was als Muster dafür dient, dass der Körper der Frau als entpersonifizierter Nutzgegenstand für sexuellen Missbrauch, Folterungen und Tötungen verstanden wird. Sowohl in den Maquilas als auch bei den Morden werden die benutzten Frauenkörper einfach weggeworfen. Viele Autoren wie z. B. Naomi Klein haben ausführlich in Freihandelszonen recherchiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dort die Unterdrückung der Frauen besonders krass ist, dass sie dazu beiträgt, die Rechtlosigkeit, Entpersonalisierung und Verwahrlosung von Frauen zu fördern, da deren soziale Netze wegbrechen.[51]

Die ermordeten Frauen von Juárez sind nicht nur die Opfer eines psychopatischen Massenmörders wie Abdel Sharif, von Drogendealern und perversen Jünglingen aus der juárezer Mafiaszene, sondern sie sind Opfer in einem Gebiet, in dem Mörder straffrei bleiben und wo auf dem Boden von Gesetzlosigkeit, zerbrochenen Identitäten und einer zügellosen Gewinnsucht Morde an Frauen zum Geschäft werden und einen neuen Marktposten darstellen. Die spezielle Kreuzung der genannten verschiedenen Ursachen für den Mord an den Frauen in Juárez bedeutet nicht, dass dieser Feminizid Einmaligkeitscharakter besitzt und keinerlei Modellcharakter hätte. Schließlich wiederholen sich die hier aufgezeigten Konstellationen auch an anderen Orten, wie dies die neuesten Informationen über ähnliche Fälle von Feminiziden in Oaxaca, in Chiapas und in fast allen lateinamerikanischen Ländern zeigen.[52] Auch in diesen Fällen finden die grausamen Frauenmorde oft im Umfeld von Maquiladora-Zonen und Regionen verstärkten Drogenhandels statt. Der Feminizid von Juárez ist ein warnendes Beispiel für die fundamentale Bedrohung der Menschenrechte und Frauenrechte, die aus einer ungerichteten und national entgrenzten Industrialisierung und einer Überbewertung des Marktes verbunden mit dem Machtzuwachs der Drogenszene und der Kriminalisierung von Politik hervorgehen. An dem Verlauf der Regierungsaktivitäten zur Aufklärung der Morde wird aber auch deutlich, wie wichtig zivilgesellschaftliche Aktionen, besonders die Zusammenarbeit zwischen lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen ist, um die Politik zu zwingen, ihrer Verantwortung nachzukommen und Menschenrechte zu schützen. Sie stellen somit einen positiven globalen Gegenpol zu den negativen Erscheinungen von Globalisierung dar. Die Frauenmorde beweisen aber auch, dass die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten einen viel zu geringen präventiven Charakter tragen und bisher nur wenig bewirken konnten. Doch einiges haben sie bewirkt und es ist zu hoffen, dass sie einmal so stark sein werden, um Verbrechen wie den Feminizid in Juárez nicht nur zu bekämpfen, sondern von vornherein zu verhindern.

Dieser Artikel erschien bereits in der Zeitschrift UTOPIE kreativ (Nummer 184, Februar 2006, S. 149-161) der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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[1] Angabe nach Gabi Löffler, Aktivistin in der Casa de Mujeres in Ciudad Juárez, Dezember 2004.

[2] Jahresbericht von Amnesty International 2004 zu Mexiko. Berichtszeitraum vom 1.1. bis 31.12.2003, in: Chiapas 98, 17.7.2004.

[3] NGOs stellen neue Kommission im Fall Ciudad Juárez in Frage, in: aditalpoonal, Mexiko-Stadt, 10.6.2003.

[4] Christian Berndt: Globalisierungs-Grenzen. Modernisierungsträume und Lebenswirklichkeiten in Nordmexiko, Bielefeld 2004, S. 259.

[5] Amnesty International 2003. Ten Years of Abdactions and Murders in Ciudad Juárez and Chihuahua. August 2003 (AMR 41/027/2003).

[6] Angabe nach Gabi Löffler, a. a. O.

[7] Vgl. Anne Huffschmid: Frauenmorde im Niemandsland, in: ai-Journal, März 2004.

[8] Angabe nach Gabi Löffler, a. a. O.

[9] Andrés Aguayo: Feminicidio se propaga en México,. in: El País de 7. de agosto 2005.

[10] Jens Kastner: Autonomie im (Wind-)Schatten des Linkspopulismus? Der Zapatismus vor der mexikanischen Präsidentschaftswahl 2006, in: ak – analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 489 / 19.11.2004, S. 28.

[11] Maquila war im Mittelalter in Spanien der Lohn, den der Müller von den Bauern erhielt, wenn er deren Getreide mahlte. Und so nannte man nun diese Fabriken.

[12] Christian Berndt: a. a. O., S. 24.

[13] Angaben nach: Christliche Initiative Romero e. V. 2004.

[14] PEMEX ist der staatliche mexikanische Erdölkonzern.

[15] Angaben nach: Christliche Initiative Romero e. V. 2004, S. 197.

[16] Ebenda, S. 34.

[17] Ebenda, S. 135.

[18] Ebenda, S. 154.

[19] Ebenda, S. 133.

[20] Ebenda, S. 144-149.

[21] Vgl. Judith Galarza: Señorita Extraviada – Missing Young Woman. Dokumentarfilm, Mexiko 2002.

[22] Gustavo Capdevila: Ein dichtes Netz der Diskriminierung. Indigene Frauen von Benachteiligung besonders betroffen. Bericht für die Genfer UN-Konferenz, in: junge Welt, 13.8.2004.

[23] Ebenda, S. 149.

[24] Ebenda, S. 154.

[25] Ebenda, S. 132.

[26] Vgl. Anne Huffschmid, a. a. O.

[27] Christian Berndt: a. a. O., S. 259.

[28] Ebenda, S. 262.

[29] Andreas Behn: Cuidad Juárez: Über 300 Ermordete und 500 vermisste Frauen. Menschenrechtler prangern Straflosigkeit an, in: Chiapas 98, 24.10.2003.

[30] Christian Berndt, a. a. O., S. 262-265. Aus den von Christian Berndt geführten Interviews geht deutlich hervor, dass Maquiladora- Unternehmer den Arbeiterinnen einen leichtsinnigen und sexistischen Charakter unterstellen und diesen mit den Morden in Zusammenhang bringen und damit als kulturelles Phänomen erscheinen lassen.

[31] Ebenda, S. 265.

[32] Jutta Pinzler und Matthias Franck: Die Stadt der toten Töchter. Eine endlose Mordserie in Mexiko. Film von Arte 2004.

[33] Amnesty International 2003. Ten Years of Abdactions and Murders in Ciudad Juárez and Chihuahua. August 2003 (AMR 41/027/2003).

[34] Jutta Pinzler und Matthias Franck, a. a. O.

[35] Amnesty International Österreich: Gewalt gegen Frauen. Nicht mit uns!, in: Jahresbericht 2004.

[36] Andreas Behn: Cuidad Juárez: Über 300 Ermordete und 500 vermißte Frauen. Menschenrechtler prangern Straflosigkeit an, in: Chiapas 98, 24.10.2003.

[37] Jahresbericht von Amnesty International 2004 zu Mexiko. Berichtszeitraum vom 1.1. bis 31.12. 2003, in: Chiapas 98, 17.7.2004.

[38] Comisión Civil Internacional de Observación por los Derechos Humanos en México: Informe final de la tercera visita de la CCIODH. 16 febrero – 3 marzo 2002. Anexo II. Ni una más. Campaña contra los asesinatos de mujeres en Ciudad Juárez. Mexico 2002: 570-572.

[39] UNO untersucht Frauenmorde in Ciudad Juárez, in: púlsar, Montevideo, 29.9.2003.

[40] Mexiko: Nicht tolerierbares Töten. Zehn Jahre Entführungen und Morde in Ciudad Juárez und Chihuahua. / ai Index: AMR 41/026/2003;

[41] Jahresbericht von Amnesty International 2004 zu Mexiko. Berichtszeitraum vom 1.1. bis 31.12.2003, in: Chiapas 98, 17.7.2004.

[42] Poonal Nr. 563 vom 11. 3. 2003.

[43] Jahresbericht von Amnesty International 2004 zu Mexiko. Berichtszeitraum vom 1.1. bis 31.12.2003, in: Chiapas 98, 17.7.2004.

[44] NGOs stellen neue Kommission im Fall Ciudad Juárez in Frage, in: aditalpoonal, Mexiko-Stadt, 10.6.2003.

[45] Ebenda.

[46] Angabe nach Gabi Löffler, Aktivistin in der Casa de Mujeres in Ciudad Juárez, Dezember 2004; Mexiko-Info aus Poonal Nr. 608 vom 3. 2. 2004.

[47] Jutta Pinzler und Matthias Franck: Die Stadt der toten Töchter. Eine endlose Mordserie in Mexiko. Film von Arte 2004.

[48] Sergio González Rodíguez: Huesos en el Desierto, Barcelona 2002.

[49] Anne Huffschmid: Frauenmorde im Niemandsland, a. a.O.

[50] Stefanie Kron: Gewalteskalation in Mexiko, in: junge Welt, 9. 2. 2005.

[51] Vgl. Naomi Klein: No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, München: Riemann 2002, 6. Auflage.

[52] Aussagen von Vertretern des Menschenrechtszentrums Fray Bartolmé de las Casas in Berlin im April 2005.

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